Die Straße der Ritter. Marlin Schenk. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marlin Schenk
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738047011
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      „Du glaubst, dass alle, die auf den Scheiterhaufen gehen, schuldig sind?“

      „Ja“, sagte Mary giftig. „Hast du dir einmal die Gesichter dieser Hexen angesehen? Aus ihnen spricht Hass und Verachtung.“

      „Oder Angst und Schmerz.“

      Mary legte sich zurück. „John, warum fragst du mich das alles? Glaubst du nicht, dass diese McKintire Schuld an dem Regen ist, der alles Korn auf dem Felde faulen lässt? Die Geschichte hat dich sehr mitgenommen, nicht wahr?“

      „Weil sie gelogen ist“, sagte John laut. „Niemand lässt eine Hexe frei, ohne sie zumindest einmal zu foltern. Und egal, was die Folter bringt, die Frau muss sterben. Gesteht sie, dann ist sie schuldig, gesteht sie nicht, dann gibt ihr der Teufel die Kraft dazu. Viele erfinden die schauerlichsten Märchen, um die Folter zu beenden und um dem Feuer zu entgehen. Wer gesteht, der wird vielleicht nur zu Tode gestürzt oder ertränkt. Ich weiß, wovon ich rede, Mary. Als ich zehn Jahre alt war, brachen Männer die Tür zu unserem Haus auf und legten meine Mutter in Ketten. Meine beiden Schwestern waren sieben und acht Jahre alt, und auch sie wurden mitgeschleift. Als mein Vater dazwischen gehen wollte, stießen sie ihm den Schaft einer Lanze ins Gesicht, wobei er ein Auge verlor und sich die Nase brach. Meine Mutter und meine Schwestern wurden von den Knechten hinter ihren Pferden her geschleift und in den Kerker geworfen. Am Abend schlich ich dorthin, und ich konnte ihre Schreie, ihr Beten und Wehklagen hören, aber auch das Lachen und Höhnen der Folterer. Drei Tage später wurden meine beiden Schwestern verbrannt. Meine Mutter und mein Vater mussten dabei zusehen. Die Kinder hatten im Feuer nicht geschrien, und erst viel später erfuhr ich, dass der Henker gnädig gewesen war. Er hatte den Mädchen unbemerkt einen tödlichen Stich versetzt, während er sie an den Pfahl fesselte. Meine Mutter wurde einen Tag später mit dem Karren unter dem Jubel der Menschen zum Richtplatz gebracht. Sie hatte keine Tränen mehr zum Weinen. Die Folterer hatten keine mehr übriggelassen. Aber ich werde nie ihre Schreie vergessen, als das Feuer sie auffraß. Es hatte lange gedauert, sehr lange. Eine Woche später kam die Rechnung von der Pfarrei. Mein Vater musste viel Geld bezahlen und dafür Haus und Hof verkaufen. Das konnte er nicht verkraften, weshalb er sich erhängte.“

      „Wofür musste er Geld bezahlen?“

      „Die Folterer verlangten Bezahlung für ihre Arbeit, und so tat es der Henker. Die Bauern bekamen Geld für Stroh und Holz, das sie geliefert hatten, der Pfarrer bekam Geld dafür, dass er ein Gebet für meine Mutter las.“

      Mary schwieg. Sie atmete schwer und ergriff Johns Hand.

      „Sie war die beste Mutter, die man sich wünschen konnte, Mary“, sagte er unter Tränen, „und meine Schwestern hatten noch nie jemandem etwas zu Leide getan. Wer behauptet, sie wären Hexen gewesen, den stampfe ich durch eine Wand hindurch.“

      „John, davon hast du mir ja nie etwas gesagt. Warum?“

      Ich dachte, wenn ich nicht davon spreche, dann würde ich es eines Tages vergessen. Aber es geht nicht, Mary. Es geht nicht.“

      „Und was wurde aus dir?“

      John stieß einen langen Seufzer aus. „Ich kam zu einer Pflegefamilie, die meine Arbeitskraft ausnutzte. Ich kannte nur Schuften und Schlafen, keinen Feiertag, keinen Sonntag. Gott sei Dank waren es reiche Leute, so dass ich genug und gut zu essen bekam. Sonst wäre ich wohl jetzt nicht mehr. Aber das Leben war hart, Mary, und ich bin froh, dass ich meine Kindheit hinter mir habe.“

      Mary stand auf und blies die Kerze aus. Sie schmiegte sich noch einmal an John und streichelte ihn. So schliefen sie ein. In dieser Nacht hörte es zu regnen auf.

      2. Galeeren in den Docks von London

      Als Peter Carpenter am Morgen sein Alehouse öffnete, schien die Sonne. Nach monatelangem Regen war der Anblick so ungewohnt wie eine Frau im Kettenhemd. Der helle Tag ließ in dem Mann fast ausgestorbene Gefühle erwachen. Seine Lebensfreude loderte auf. Er stemmte die Fäuste in die Seiten, bog das Kreuz durch und sog tief die würzige Luft ein. Er streckte sich, klatschte in die Hände und machte sich voll Tatendrang daran, sein Lokal aufzuräumen. Es glich einem Schlachtfeld, denn am Abend zuvor hatte es in London etwas zu feiern gegeben: Ein Mann namens Craig O'Neill war Vater geworden, nachdem er zwanzig Jahre vergebens darauf gewartet hatte. Nun war seine Anne niedergekommen und hatte im Alter von 44 Jahren einen gesunden Jungen geboren. Craigs Freude über den späten Spross war unbeschreiblich gewesen. Er hätte sie aller Welt zeigen mögen, beschränkte sich aber darauf, seine besten Freunde freizuhalten. Der Umtrunk auf den kleinen O'Neill war jedoch in ein Gelage ausgeartet.

      Dementsprechend sah Peters Pub aus. Er hatte an diesem sonnigen Morgen alle Hände voll zu tun, um es zu reinigen. Die grob gezimmerten Tische klebten von verschüttetem Bier, das wie Sirup in den zahlreichen Kerben der Tischplatten lagerte. Diese von Messerspitzen zurückgebliebenen Wunden im Holz passten zu dem verkrusteten Blut, das seinen Duft süßlich in den Raum verströmte, denn nachdem O'Neill und seine Freunde sich die Bäuche mit gegrilltem Saubein und Ale beschwert hatten, hatte das Spiel 'Metall und Fleisch' begonnen, bei dem ein Mann die Hand auf den Tisch legt, und sein Gegenüber so schnell wie möglich die Messerspitze zwischen die gespreizten Finger hackt. Wird ein Finger getroffen, zahlt der Stecher - für einen äußeren Finger mehr als für einen der inneren - und scheidet aus. Ebenso wird der Gegner belangt, wenn ihn der Mut verlässt und er die Hand wegzieht. Wer übrig bleibt, ist Sieger.

      Die Balken des Fachwerks stanken nach Urin und warteten darauf, abgewaschen zu werden. Der Boden war vollgekotzt, so dass der Sand erneuert werden musste. Überall lagen abgenagte Knochen herum, über die sich die Ameisen hermachten, und - als wären sie Teil dieses traurigen Haufens Unrat, lagen zwei Betrunkene in einer Ecke, von denen einer in gleich bleibenden Abständen aufstieß, und der andere stöhnte.

      Das alles störte Peter wenig, wenn er an seinen prallgefüllten Lederbeutel dachte, der wie ein gegossener Klumpen Metall an seiner Hose baumelte, auch wenn ein volles Pub wie am vorigen Tag keine Ausnahme gewesen war. Das Alehouse lag in der Nähe der Docks an der Themse, so dass Peter Carpenter allabendlich mit regem Betrieb rechnen konnte. Täglich legten Handelsschiffe an, die entladen werden mussten, und wenn dies geschehen war, gönnten sich die Dockarbeiter ein paar Tankards voll Ale. Ebenso verhielt es sich mit der Mannschaft, die oft monatelang auf See gewesen war und nach Alkohol und fremder Gesellschaft dürstete.

      Man schrieb den 3. Mai 1478. Zur sechzehnten Stunde erreichte George Smith die Themse. Er streckte sich und drückte den Rücken durch, der ihm vom langen Reiten schmerzte. Er schirmte seine Augen gegen die Sonne ab, blickte nach Westen über den Fluss und grunzte zufrieden. Er tätschelte den Hals seines Pferdes und sagte: „Wir sind da, altes Mädchen. Da drüben ist London, schätze ich. Oder ich müsste mich sehr täuschen. Wir müssen nur sehen, wie wir da rüber kommen.“

      Das Pferd schnaubte, als hätte es verstanden und fiel in gemächlichen Trab, der die beiden am Fluss entlang führte. Bald trafen sie auf ein paar Bauern, die auf dem Feld arbeiteten und den Reiter neugierig musterten. Als George Smith herankam, zeigte er auf die andere Seite des Flusses und rief: „He, Leute, wie komm ich denn da rüber?“

      Ein Bauer stützte sich auf seine Harke, als wäre ihm die kurze Pause willkommen. Er zog die Augenbrauen hoch und fragte: „Wollt Ihr nach Westminster?“

      Der Reisende schüttelte den Kopf. „Nach London will ich.“

      Ein leichter Wink mit dem Kopf deutete auf die Stadt auf der anderen Seite des Flusses. „Was Ihr da drüben seht, ist aber Westminster, Sir.“

      George Smith schüttelte den Kopf. „Wollt Ihr mich auf den Arm nehmen? Da ist doch klar und deutlich der Tower zu sehen.“

      Die Frauen lachten, ließen sich jedoch nicht bei der Arbeit stören. „Das ist das Abbey und der Palast, Sir“, sagte der Mann. „Ihr seid wohl vom Weg abgekommen. Die Stadt da drüben heißt Westminster, und hier seid Ihr in Lambeth. Wenn Ihr aber ungefähr zwei Meilen am Fluss entlang reitet, dann kommt Ihr nach Southwark. Dort führt die London Bridge über die Themse. Es ist die einzige Brücke weit und breit.“

      Nun