Felix, der Erbe des Herrschers. Anne Düpjohann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anne Düpjohann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738060928
Скачать книгу
auf dem Weg zum nächsten Krankenhaus, das jedoch einige Kilometer entfernt war. Zum Glück zeigte sich der Mai in diesem Jahr von seiner besten Seite und die Sonne strahlte schon frühmorgens aufmunternd auf mich herunter, sodass man das Ganze unter einem sportlichen Aspekt betrachten konnte.

      Ich fuhr eigentlich gerne Rad und wenn es nicht gerade wie aus Eimern schüttete, radelte ich oft zur Arbeit. Bei schönem Wetter unternahm ich ausgedehnte Radtouren, zurzeit leider meistens alleine, da mein bester Freund, Aaron, vor einem Jahr aus beruflichen Gründen nach Süddeutschland ziehen musste. Seine Eltern waren damals nicht besonders begeistert gewesen, dass er sich nicht in der Nähe einen Job als Informatiker gesucht hatte, aber letztendlich mussten sie sich damit abfinden. Genauso wie meine Eltern akzeptieren mussten, dass ich sie nicht in die USA begleiten wollte.

      Aber Dank der heutigen Vielfalt der Kommunikationsmittel stand ich immer noch in regem Kontakt mit ihm. Das Gleiche galt natürlich auch für meine Eltern.

      Ich beschloss, zur Sicherheit auf dem Bürgersteig zu fahren. Da sah ich, wie mir meine Nachbarin Anja tränenüberströmt entgegenkam.

      Anja war erst vor einem halben Jahr in die Wohnung gegenüber eingezogen. Sie war schlank und hatte eine sportliche Figur. Ihre dunklen Haare umspielten ihr hübsches, wenn auch verweintes Gesicht. Ich schätzte sie auf Anfang zwanzig. Also ungefähr mein Alter, denn ich war fünfundzwanzig. Allerdings hatten wir bislang noch keine Gelegenheit gehabt, uns richtig kennen zu lernen. Sie hatte sich kurz nach ihrem Einzug vorgestellt, als wir uns im Treppenhaus zufällig begegneten. Wir hatten zwar beschlossen, uns mal auf ein Bierchen zu treffen, aber wie das so ist, es fehlte einfach die Zeit.

      Nach dem Aus meiner Beziehung vor einigen Monaten, meine Ex sprach damals von einer Beziehungspause, hatte ich mich in meiner Arbeit vergraben und alles andere ausgeblendet. „Seelische Erholung durch Arbeitsstress“, bezeichnete ich das insgeheim.

      Nun stieg ich wieder ab und fragte sie, was los sei. Allerdings erkannte ich gleich bei der Frage, dass das etwas dumm von mir war, da ich ja ihre Antwort gar nicht hören konnte. Also fügte ich hinzu, dass ich zurzeit taub sei. Doch sie schüttelte nur mit dem Kopf und deutete auf ihre Ohren und sagte dabei etwas, was ich natürlich auch nicht verstand. Allmählich stieg in mir ein leiser Verdacht auf.

      So deutete ich ihr an, mir zu folgen.

      Als wir in meiner Wohnung waren, schrieb ich auf einen Zettel, was mit mir los war. Zu meiner großen Überraschung stellte sich heraus, dass sie genau dieselben Symptome hatte wie ich.

      Ich schlug ihr vor, natürlich schriftlich, gemeinsam zum Krankenhaus zu fahren. Vielleicht war es ein unbekannter Virus, der unser Gehör außer Gefecht gesetzt hatte.

      Sie nickte erleichtert, glücklich, nicht allein mit ihrem Problem zu sein. Allerdings galt das auch für mich. So machten wir uns nun gemeinsam auf dem Weg zum nächsten Krankenhaus. Es war die geräuschloseste Radtour, die ich jemals unternommen hatte.

      Da wir beide nichts hörten, machte es wenig Sinn, sich zu unterhalten. Allerdings beunruhigte es mich sehr, was ich während der Fahrt sah – oder besser gesagt nicht sah. Auf den Straßen fuhr kein einziges Auto. Man sah vereinzelte Radfahrer, die mit versteinertem Gesicht in dieselbe Richtung fuhren wie wir.

      Ich hatte das Gefühl, dass meine anderen Sinne durch den Hörverlust geschärft wurden. Ich nahm meine Umgebung viel intensiver wahr. Die jungfräulichen Blätter der Bäume, die sich vom Winde wiegen ließen, oder das satte Grün des Grases am Wegesrand.

      Ich warf einen Blick zu Anja, die offensichtlich auch in Gedanken versunken war. Ich glaubte fast, ich hörte ihre Gedanken und ihren Wunsch, dass unsere Symptome harmlos wären. Ich seufzte innerlich und stimmte ihr zu. Auch ich hoffte dies sehnlich. Dann schüttelte ich den Kopf:

      „Meine Güte“, dachte ich, „jetzt fange ich schon an zu fantasieren, und bilde mir ein, Anjas Gedanken wahrzunehmen!“

      Endlich kam das Krankenhaus in Sicht, aber wir konnten es kaum glauben, was wir dort sahen.

      Es war belagert von einer riesigen Menschenmenge. Tausende drängelten und schubsten sich gegenseitig weg. Hier und da wurden einige sogar handgreiflich, um sich zum Eingang des Krankenhauses durchzuschlagen.

      Entgeistert schauten Anja und ich uns an. Dann schüttelte ich mit dem Kopf. Hoffnungslos! Ich deutete ihr an, dass ich umkehren wollte. Da kam mir eine Idee. Ich fragte ganz laut in die Runde, was denn hier los sei und warum hier ein derartiger Menschenauflauf herrsche.

      Mir war schon klar, dass ich die Antworten nicht verstehen würde, aber darauf kam es mir auch gar nicht an.

      Niemand reagierte auf meine Frage – so als hätte mich keiner gehört!

      Genau das hatte ich mir gedacht. Meine Vermutung, dass alle Leute dasselbe Problem wie Anja und ich hatten, bestätigte sich damit.

      Es konnte nicht sein, dass plötzlich alle auf einmal taub waren! So einen Virus gab es doch gar nicht! Ungläubig schüttelte ich meinen Kopf. Das war doch äußerst seltsam.

      Wir beschlossen, den Heimweg anzutreten, als wir sahen, wie sich jemand brutal durch die Menge boxte. Natürlich ließen sich das einige nicht gefallen und wehrten sich, worauf der Mann eine Pistole zog und in die Luft schoss.

      Allerdings hatte das nicht den erwünschten Erfolg. Wie denn auch, wenn keiner den Knall hören konnte?

      Daraufhin zielte dieser rabiate Mensch mit seiner Pistole auf einen kräftigen Mann, der ihm den Weg verstellt hatte. Doch plötzlich zitterte die Hand des Kriminellen, in der er die Waffe hielt. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze und seine Augen wurden glasig. Dann richtete er die Waffe auf seine Brust und drückte ab.

      Ich hielt die Luft an. Was war denn da gerade passiert! Schockiert und entsetzt schaute ich zu dem Mann, der zu Boden gefallen war und regungslos liegenblieb.

      Aus seiner Brust quoll Blut. Ich erschauderte und auch die umstehenden Menschen wichen entgeistert zurück. Keiner traute sich, zu dem am Boden liegenden zu gehen, um ihm zu helfen.

      Verstört und zutiefst erschrocken blickte ich auf den am Boden liegenden Mann. Auch ich wäre am liebsten zurückgewichen und hätte Reißaus genommen, doch meine innere Stimme sagte mir, dass ich mich um ihn kümmern und mich nicht, wie alle anderen abwenden und wegschauen sollte. Ich sah in die Gesichter der anderen Menschen, deren Blicke nahezu paralysiert waren. Ich holte tief Luft und gab mir einen Ruck, um mich aus meiner Lethargie zu befreien. Langsam wurden meine Gedanken wieder klarer und mein Verstand diktierte mir, was ich tun sollte.

      Da ich erst kürzlich einen Erste – Hilfe – Kursus absolviert hatte und wusste, wie man jemanden wiederbeleben konnte, gab ich meinem feigen Ich einen Stoß und kniete mich zu dem Verletzten, stellte aber bestürzt fest, dass er mit gebrochenen Augen ins Leere starrte.

      Er war tot, daran gab es keinen Zweifel, trotzdem versuchte ich, seinen Puls zu fühlen. Keine Chance.

      Warum hatte er sich auf einmal selbst erschossen?

      Fassungslos schaute der kräftige Mann, der zuvor von dem am Boden liegenden bedroht worden war auf den Selbstmörder. Auch er begriff nicht, was hier geschehen war.

      Ein Wahnsinniger?

      Hilfesuchend sah ich ihn an und gab ihm zu verstehen, mir dabei zu helfen, den Mann von hier weg zu tragen, doch er schüttelte angewidert den Kopf und machte sich rasch davon.

      Na toll! Und jetzt? Der Tote konnte hier schließlich nicht liegen bleiben.

      Ich musterte die Menschenmasse, die vor dem Krankenhaus stand.

      Unmöglich den Mann ins Krankenhaus zu schaffen. Sie bildeten eine undurchdringliche Mauer.

      Ich wusste, dass es neben dem Krankenhaus eine Leichenhalle gab, darum forderte ich einige Männer auf, mir beim Transport des Toten zu helfen.

      Doch es ist mitunter erstaunlich, wie viel Platz man selbst im dicksten Gedränge haben kann. Nach langer stummer Diskussion packten