Mit diesem unterschwelligen Appell an ihre Mildtätigkeit hatte er einen deutlichen Punktsieg gelandet. Für ein paar Sekunden war es ruhig.
„Mh, also gut“, lenkte die weibliche Stimme schliesslich ein. „Aber nur eine Nacht. Damit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, lass dir das gesagt sein.“
Dann machte die Dame des Hauses ihrem Ehemann noch einmal unmissverständlich klar, dass sie auf ein unbefristetes Rückgaberecht bestehe, sollte die Ware sich als mangelhaft herausstellen. Oder, wie sie es ausdrückte, „uns der Bengel noch das Dach über dem Kopf anzündet“.
Kurz darauf traten die beiden wieder aus der Küche, er lächelnd, sie mit einem entschlossenen Zug um die Mundwinkel. Bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte mich die Dame schon an den Schultern gepackt und in einen Waschzuber gesteckt, während meine verlausten Lumpen im Ofen ein lustiges Feuerchen abgaben. Nach zahlreichen Waschgängen mit 40 Grad und mit frisch ausgekämmten Haaren muss ich recht passabel aus der von der Nachbarsfamilie geliehenen Wäsche geschaut haben. Die Leihaktion war notwendig geworden, nachdem das Veto meines Gönners die Ausstaffierung meiner Wenigkeit mit den von der Tochter zurückgelassenen Kleidungsstücken verhindert hatte. Obwohl die Dame des Hauses mit einem geblümten Rock liebäugelte, der, wie sie meinte, hervorragend zu meinen Locken passen würde, musste sie dann am Ende doch zugeben, dass mir ein Paar Cordhosen auch nicht schlecht standen.
Nachdem sie mein Äusseres zu ihrer Zufriedenheit generalüberholt hatte, war es an der Zeit, sich um mein leibliches Wohl zu kümmern. Ich wurde gründlich mit köstlichen Würstchen und herrlichem Kartoffelsalat vollgestopft, die ich mit Unmengen von süsser Limonade hinunterspülte. Etwas zu gierig, wie ich bald merkte. Mein Magen war sich die reichliche Kost natürlich nicht gewöhnt und rebellierte rumorend gegen die unvertraute Nachtschicht. Erst, als sich der Speisebrei seinen Weg die Speiseröhre hinauf zurück in meinen Mund zu suchen drohte, wurde mir bewusst, dass es vielleicht doch nicht so eine gute Idee wäre, jetzt auch noch den Teller leer zu schlecken. Gesättigt lehnte ich mich zurück und warf einen schläfrigen Blick auf meine Gönner. Das letzte, an was ich mich erinnern kann, ist das zufriedene Lächeln, welches die Dame des Hauses ihrem Gatten zuwarf, bevor ich sanft einschlummerte.
In den kommenden Tagen sollte jedoch nicht nur das überreichliche Nahrungsangebot, sondern auch der Umgangston, der im Hause herrschte, für Wohlgefallen sorgen.
Er redete seine Frau stets liebevoll mit „Mutter“ an, hing nicht in Kneipen rum und wenn er mal pieseln musste, öffnete er nicht einfach das nächstbeste Fenster, sondern ging aufs Klo. Zumindest nahm ich das an, denn er hielt sich eher bedeckt, was seine Pinkelgewohnheiten anging. Zudem hatte er immer ein Lächeln auf den Lippen, grad so, als würde er sich stets über das amüsieren, was in der Welt um ihn herum vorging.
Sie wiederum redete ihren Mann liebevoll mit „Vater“ statt „Saufkopf“ an und benutzte den Teppichklopfer nur für den Teppich, statt damit den Hintern eines Kindes zu malträtieren. Bei uns zuhause war das grad umgekehrt. Eine Zweckentfremdung, die sich aufgrund des Überangebots an Kinderhintern geradezu aufdrängte, wohingegen wir keinen einzigen Teppich unser Eigen nennen konnten.
Natürlich waren gewisse Konzessionen meinerseits notwendig, um mein dauerhaftes Verbleiben in dieser Idylle zu sichern. So liess ich mir zum Beispiel meine Haare weiter wachsen, um der Illusion einer Quasitochter statt eines Adoptivsohnes wenigstens einigermassen gerecht zu werden. Zwar nur von hinten, aber immerhin. Von vorne klappte das nicht ganz so gut, aber das Leben ist ja schliesslich kein Wunschkonzert. Zudem bemühte ich mich um einen gepflegten Jargon, denn mit den Ausdrücken, die ich zuhause aufgeschnappt hatte, liess sich in diesem Haushalt schlecht punkten. Somit musste sich auch die Auflösung des Rätsels „was ist ein versoffener Schafspimmel“ (ein Begriff, den ich bei meiner Mutter aufgeschnappt hatte) noch einige Jährchen gedulden und auch mit den väterlichen Trinksprüchen wie „Statt nur blöd herumzufurzen, kipp ich lieber einen Kurzen“ hielt ich mich vorerst zurück. Sowas hörte man hier nur ungern, speziell bei Tisch.
Wobei es sich bei dem „hier“ um ein wunderschönes Doppeleinfamilienhaus in einer gepflegten Siedlung handelte. Dort standen die schmucken, weissen Fachwerkhäuschen in Reih und Glied und glichen sich wie ein Ei dem anderen, was der Gegend auch ein bisschen den Anstrich von einem Sozialprojekt gab.
Ein Begriff, der auch auf mich gepasst hätte, denn neu eingekleidet, mit Schuhen versehen und vom Dreck befreit, hatte mein neues „Ich“ wenig Ähnlichkeit mit dem rotznasigen Bengel, den „Vater“ vor ein paar Tagen aufgelesen hatte. Rotznasig war ich zwar immer noch, aber statt in den Ärmel des Pullovers zu schnäuzen, benutzte man hier Stofftücher, die man speziell für diesen Zweck bei sich trug. Das schöne, rundum bestickte und mit Initialen versehene Stofftuch nur für diesen Zweck zu verwenden, hielt ich jedoch für Verschwendung und so sinnierte ich über weitere Einsatzmöglichkeiten dieses so unterbewerteten Tuchs nach. Die Tatsache, dass es hier auf dem Klo spezielles Papier gab, mit dem man sich den Hintern abwischen konnte, nahm mir zwar etwas den Wind aus den Segeln, aber ich konnte bald mit zahlreichen anderen Ideen aufwarten. Aber was auch immer ich mir einfallen liess, meine Bemühungen, das Teil einer universelleren Bestimmung zuzuführen, stiessen stets auf Ablehnung.
So war „Mutter“ wenig erfreut, als ich ihr eines Tages mit meinem Schnupftuch beim Geschirrtrocknen zur Hand ging und auch als Brillenputztuch für „Vater“ konnte ich damit nicht wirklich punkten. Umgekehrt konnte er es nicht ausstehen, wenn man in dasselbe schnäuzte, was ich sehr seltsam fand.
Und auch meine Idee, mein Schnupftuch als Serviettenersatz bei einem der seltenen Restaurantbesuche zu verwenden, fand keinen Anklang. Womit sich auch das etwas säuerliche Lächeln der Serviertochter erklärte, als ich ihr stolz den mittlerweile recht verklebten Stoffballen unter die Nase hielt.
Dass man in einem Wirtshaus nicht nur trinken, sondern auch essen konnte, war mir hingegen neu, und auch zahlreiche andere Verbesserungen meiner Lebensumstände sollten bei mir für Wohlgefallen sorgen. Im Vergleich zu zuhause lebte es sich bei meinen Ersatzeltern nämlich wie im Schlaraffenland. Jeden Tag schlug man sich pünktlich morgens, mittags und abends den Bauch voll und vor dem Zubettgehen gab es sogar noch ein Täfelchen Schokolade. Und am Sonntag gab es immer Hefekuchen zum Frühstück und Rindsbraten zu Mittag satt.
Dieses Schlemmerleben mochte ich bald nicht mehr missen.
Ich wünschte mir, ich könnte dasselbe vom Kirchenbesuch behaupten, zu dem man mich gleichentags nötigte.
Ab in die Kirche
Ich mag mich noch gut an meinen ersten Kirchgang erinnern.
Frömmelnde Leser werden nun sicher frohlockend „Hosanna“ rufen und den Grund dafür in einem religiösen Schlüsselerlebnis vermuten.
Nun, ganz so war es leider nicht.
Dafür blieben einfach zu viele Fragen offen. Da war zum Beispiel die Sache mit dem Blut Christi, welches zu Wein werde. An diesem Trick hatte sich Papa auch schon versucht, war aber immer an der 3 Promille Grenze gescheitert. Im Blut von Christi musste wohl irgendeine Ingredienz enthalten sein, die der Umwandlung zu Wein förderlich war. Zudem konnte der Gute ja meist auf göttlichen Beistand zählen, während Papa höchstens häuslicher Widerstand gewiss war. So hatte auch er sein Kreuz zu tragen, in gewisser Weise.
Es waren aber eher grundsätzlichere Fragen, die mich vor meinem ersten Gottesdienst beschäftigen sollten. So zum Beispiel, was eine „Kirche“ überhaupt war und vor allem, warum man da unbedingt hin musste, wo es zu Hause doch grad so gemütlich war.
Natürlich hatte ich schon im Vorfeld versucht, mir ein gewisses Grundwissen anzueignen. Dies gestaltete sich jedoch schwieriger als erwartet, denn „Mutters“ ausweichende Antworten waren nicht dazu angetan, Licht ins Dunkel zu bringen.
„Eine Kirche