Eine Schlange in der Dunkelheit. R. B. Landolt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: R. B. Landolt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742723383
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Vasallen aus. Die Männer fürs Grobe.“ Der Pfarrer schnippte die Asche von seiner Zigarre. „Du solltest dich vorsehen, Jaco. Ich habe mich beeilt, denn auf dem Weg ist mir Matiar über den Weg gelaufen. Seine Miene verheißt nichts Gutes.“

      „Du kennst ihn“, knurrte Tiburon. „Er hasst dich. Dass du gesucht wirst, bedeutet ein Fest für ihn. Du hast keine Chance. Also, was willst du nun tun?“

      Betretenes Schweigen.

      „Ich habe keine Angst vor ihm. Und überhaupt, in ein paar Tagen ist die ganze Sache vergessen.“ Jaco gab sich alle Mühe, die Sache als Bagatelle abzutun, doch sein zuversichtlicher Tonfall klang nicht überzeugend.

      „Wenn ich nicht gewesen wäre“, entgegnete Tiburon, „wäre es dir schon gestern schlecht ergangen. Grimm wartet bloß auf eine Gelegenheit, um dir zu zeigen, wo der Hammer hängt.“

      „Was kann ich tun?“, fragte Jaco verbittert. „Soll ich mich entschuldigen? Niemals! Lieber lasse ich mich einsperren!“

      Auf der Schwelle drehte sich der Pfarrer nochmals um. „Da fällt mir ein, eine Fremde soll sich in der Stadt herumtreiben, eine sehr … ungewöhnliche Frau. Niemand kennt sie. Und in einem Bauernhaus wurde Brot und Fleisch gestohlen.“

      „Sie meinen eine Frau in einem zu großen Mantel?“, fragte Jaco.

      „Du kennst sie?“ Tiburon wandte sich mit gerunzelter Stirn um.

      „Sie gehört zum Zirkus. Seit heute früh wird sie vermisst.“

      „Woher weißt du das?“

      „Die Zirkusleute sind auf der Suche nach ihr.“

      „Und warum weißt du, wie sie aussieht?“

      „Ich wollte es dir erzählen, Tiburon, aber … Gestern Abend, auf dem Heimweg, hörte ich in der Nähe des Zirkuslagers einen Laut. Ich dachte zuerst an ein Kind oder ein eingesperrtes Tier. Ich wollte eigentlich weitergehen, schließlich geht es mich ja nichts an, aber irgendwie …“

      „Neugier!“, lachte Tiburon. „Du warst schon immer ein vorwitziger Vogel. Das wird dir noch einmal leidtun.“

      Jaco atmete tief durch und erzählte.

      „Man kann diesen Bengel keine Minute allein lassen, ohne dass er was Dummes anstellt. Vielleicht hast du sie erschreckt. Manchmal siehst du ein bisschen sonderbar aus.“

      „Vielleicht war es der plötzliche Lichtschein“, warf der Pfarrer nachdenklich ein.

      „Aber sie hat erst zu schreien begonnen, nachdem sie mein Gesicht sah ... Lach nicht so blöd, Tiburon, ich möchte dich sehen, wenn jemand bei deinem Anblick zu schreien anfängt.“

      „Das möchte ich wieder mal erleben!“, rief Tiburon. „Dass eine Frau bei meinem Anblick den Verstand verliert.“

      „Und diese Frau verschwand letzte Nacht aus ihrem Wagen. Ein paar Stunden, nachdem sie mich gesehen hatte.“

      „Wahrscheinlich hat sie dich verwechselt“, sagte der Pfarrer. „Das kommt vor. Mach dir keine Gedanken!“

      „Aber das Beste kommt noch“, sagte Jaco. „Sie lief mir heute Morgen über den Weg. Bevor sie wegrannte, rief sie mir ein Wort entgegen, einen Namen, mit dem ich nichts anfangen kann.“

      „Welcher Name?“

      „Carlucci. Oder so ähnlich.“

      „Carlucci?“ Tiburon wandte sich an den Pfarrer. „Kennen Sie jemanden, der so heißt?“

      „N…nein“, sagte der Pfarrer nach langem Überlegen. „Allerdings … mein Gedächtnis ist nicht mehr das Beste. Es scheint mir, dass ich den Namen irgendwo mal gesehen oder gehört habe.“

      „Sonst noch was?“, fragte Tiburon.

      „Ich weiß nicht recht, ob es wichtig ist …“

      „Herrgott, sag schon …!“

      „Na ja, als sie den Namen Carlucci sagte, zeigte sie auf mich. Und dabei machte sie den Eindruck, als sähe sie einen Geist vor sich.“

      Lollo

      Ein Jubelschrei brach durch die Stille des Vormittags. Serafina stutzte. Sie war auf dem Weg zum Marktplatz, wo sie zusammen mit Ezechiel und Agatha die Nachmittagsvorstellung vorbereiten wollte. Ein kleiner Junge mit einer viel zu großen Strickmütze kam eben aus einer Gasse gerannt, einen Gegenstand an die Brust pressend, der verdächtig nach einer Wurst aussah. Einige Meter hinter ihm hastete ein Mann, fluchend und prustend vor Anstrengung. Fenster wurden geöffnet, irgendjemand schrie: „Haltet den Dieb!“, ein anderer, der eben die Straße hochkam, versuchte, dem Jungen den Weg abzuschneiden, doch dieser setzte mit einem Sprung über das ausgestreckte Bein hinweg und prallte in einen Burschen, der eben um die Ecke trat. Seine beiden Begleiter sprangen rechts und links dazu und versperrten dem Flüchtling den Weg.

      Serafina eilte die Gasse hinunter. „He!“, rief sie entrüstet, als ein rothaariger Bursche den kleinen Kerl bei den Haaren packte. „Nicht so grob!“

      Die drei Burschen drehten sich um. „Er hat eine Wurst gestohlen!“ Mit diesen Worten griff der Mann, der den Dieb verfolgt hatte, wutentbrannt nach seinem Eigentum, doch der Kleine ließ sich nicht so leicht von seiner Beute abbringen. Mit einem Fauchen beugte er sich vor und biss zu. Der Mann prallte zurück. Auf seiner Hand zeichneten sich die Abdrücke von Zähnen ab.

      „Brauchen Sie Hilfe, um mit dem Kleinen fertigzuwerden?“, fragte Serafina, was mutiger klang, als sie sich fühlte.

      „Er stiehlt wie eine Elster. Das ist nun das dritte Mal in diesem Monat. Man müsste ihn einsperren.“ Der Mann drohte dem Jungen mit der Faust, der ihm zur Antwort die Zunge herausstreckte. „Das nächste Mal kriegst du Prügel, verstanden?“ Dann ging er rasch die Gasse hinauf, wo er kurz darauf von einer zeternden Frau in Empfang genommen wurde.

      Endlich hatte Serafina Gelegenheit, den Jungen genauer anzusehen, und jetzt erst erkannte sie erstaunt, dass er viel älter war, als es seine Größe vorgegaukelt hatte. Sein Gesicht glich einem verschrumpelten Apfel, der zu lange im Keller aufbewahrt worden war. Sein Alter war kaum zu schätzen. Während ihn der Rothaarige immer noch in festem Griff hielt, blickte sie der Kleine unverwandt an.

      „Siehst du nicht, dass er nicht ganz richtig ist?“, fragte ein blasser blonder Junge mit einem Verband um die Nase. Es schien sich um den Anführer der Gruppe zu handeln. „Lollo hat einen gewaltigen Dachschaden.“ Er bückte sich und zog den Kleinen an den Ohren. „Nicht wahr, kleiner Lollo, immer tiefe Nacht im Kopf.“

      Das Licht in Lollos Augen erlosch, er öffnete den Mund und spuckte den Jungen an. Dieser zuckte zusammen und wollte zu einem Schlag ausholen, doch Serafina fiel ihm in den Arm.

      „Das lässt du bleiben“, sagte sie.

      „Was mischst du dich ein? Das ist unsere Angelegenheit.“

      „Drei gegen einen, was für mutige Kerle ihr doch seid. Lasst ihn los!“

      „Lasst ihn los, lasst ihn los!“, höhnte der blasse Junge. „Was meinst du, Rübe, sollen wir ihn laufen lassen? Wir wissen ja, wo wir ihn finden.“

      Der Rothaarige nickte enttäuscht. „Na gut! Also hau ab! Wenn wir dich das nächste Mal erwischen, geht’s dir schlecht.“ Lautes Gelächter begleitete den Kleinen, als er wie vom Teufel gehetzt die Gasse hinunterrannte und um die nächste Hausecke verschwand.

      „Wer bist du eigentlich? Gehörst du zum Zirkus?“ Serafina gefiel der Blick des blonden Jungen nicht, mit dem er sie anstarrte.

      „Ja“, sagte sie. Die beiden anderen Jungen waren nähergetreten. Sie hatten eine gedrungene Gestalt und wirkten ziemlich fies, vor allem der Rothaarige. Der dritte im Bund, ein dicklicher, bleicher Bursche, dessen fettiges schwarzes Haar sich um seine abstehenden Ohren kringelte, starrte sie gierig an. „Sind das deine Leibwächter?“, fragte sie.

      „Ich brauche keine Leibwächter“,