Immer noch wie in Trance ging auch er langsam hinein. Sein Onkel erwartete ihn schon bei der Aufnahme und gemeinsam suchten sie einen freien Platz im Warteraum. „Des wird jetzt a Weile dauern, sie machen die ganzen Untersuchungen und dann wissen wir hoffentlich mehr“, sagte Josef mit gedämpfter Stimme. Wieder nickte Wilhelm kurz. „Dann wissen wir mehr“ – hallte es plötzlich in Wilhelms Gehirn wider und es kam ihm vor, als erwache er aus einem bösen Traum. Doch nach kurzem Überlegen realisierte er, dass er nicht geträumt hatte, sondern dass das alles wirklich geschehen war. Auf einmal brach er in Tränen aus. Er verbarg sein Gesicht in seinen Händen und schluchzte laut. „Was ist mit ihr? Verlasst sie mi jetzt a so wie der Vater? Was soll jetzt werden?“. Josef nahm ihn in seine Arme und versuchte, ihn zu beruhigen: „Es wird sicher alles wieder gut, Bua, die Ärzte da können wahre Wunder vollbringen.“ Doch irgendetwas sagte Wilhelm, dass das nicht stimmte.
Kapitel 7
Sie warteten über zwei Stunden, eine gefühlte Ewigkeit, bis endlich eine Schwester herauskam und sie zu sich rief. „Der Herr Chefarzt erwartet euch in seinem Büro...” sagte sie mit leiser Stimme und gesenkten Augen und zeigte auf eine Tür am Ende des langen Ganges. Schweren Herzens und angsterfüllt vor dem, was jetzt kommen würde, gingen Josef und Wilhelm darauf zu, klopften an und als eine kräftige Stimme „Herein” rief, betraten sie den Raum. Hinter einem Schreibtisch, auf dem stapelweise Krankenakten lagen, saß der Herr Oberarzt. Er sah auf und zeigte auf zwei Stühle vor ihm. Als die beiden sich hingesetzt hatten, fragte er: „Seid ihr die Verwandten von der Ida Neururer?”. Josef erwiderte: „Ja, i bin ihr Bruder, Josef, und das ist ihr Bua, der Wilhelm.” Der Arzt schaute von Josef zu Wilhelm und nickte. Er erklärte: „Also, die Ida hat einen Schlaganfall gehabt.” Wilhelm schluckte laut, sein Herz raste. Der Doktor fuhr fort: „Wie es ausschaut, wird sie es überleben. Aber viel mehr können wir momentan noch nicht sagen. Ich weiß, ihr wohnt hinten im Pitztal und bei dem Schneefall war es sicher eine sehr gefährliche Fahrt, aber da die Ida nit schnell genug ärztlich versorgt werden hat können, werden mit ziemlicher Sicherheit Schäden zurückbleiben. Wir können no nit sagen, wie diese ausschauen, da müssen wir warten, bis sie aufwacht.”
Schon beim Wort „Schlaganfall” hatte Wilhelm sofort verschiedene Bilder im Kopf – die alte Demesen-Zita, die nicht mehr reden oder sich sonst irgendwie verständigen konnte, der Schwiegervater von Josef, Hartls Anton, der auf der gesamten rechten Seite gelähmt war... Er kannte einige, die „ein Schlagl gstreift” hatte, wie man es bei ihnen im Tal ausdrückte. Nun hatte es also seine Mutter erwischt. Das nächste, was er wieder hörte, war: „hinteres Pitztal – Schneefall – nit schnell genug” und als er begriff, was diese Worte wirklich bedeuteten, spürte er mit einem Mal Wut in sich aufsteigen, eine unbändige Wut. Er ließ sich von seinem Onkel aus dem Zimmer hinausschieben und auf dem Gang brach es aus ihm heraus: „Warum müssen wir in diesem verdammten kalten grausamen Tal wohnen? Wenn wir woanders wären, würd die Muater wieder ganz gsund werden.” Er hämmerte mit seinen Fäusten auf die Brust seines Tets und schrie so laut, dass der Oberarzt wieder besorgt aus seinem Zimmer herauskam und Josef fragend anschaute. Doch Josef fasste die Hände seines Neffen und nahm ihn in seine Arme. Der Junge legte langsam seinen Kopf an Josefs Schulter und sein Schreien wurde gedämpfter und wich langsam einem lauten Schluchzen. „Aber sie lebt ja und vielleicht wird sie a wieder ganz gesund, so genau kann man des nie sagen, oder Herr Doktor?” versuchte Josef sein Patenkind zu beruhigen und schaute fragend zum Oberarzt. Dieser erwiderte: „Tja, Wunder gibts zwar immer wieder, aber aus medizinischer Sicht kann i euch nit viel Hoffnung machen. Wir werden ja sehen, was die nächsten Wochen bringen.”
Beim Gedanken an die Zukunft rollten wieder Tränen über Wilhelms Wangen. „Morgen sollt i nach München zum Vorstellungsgespräch fahren, aber wenn i nit woas, was mit der Muater los isch, kann i nit weg.” „Das Gespräch kannscht sicher verschieben, das ist ja ein Notfall und vielleicht kannst es ja bald nachholen, wenns der Ida wieder besser geat“, sagte Josef mit beruhigender Stimme.
So rief Wilhelm schweren Herzens im Goldenen Adler an und verlangte den Chefkoch Feiersinger, um ihm mitzuteilen, dass er leider seinen Termin für das Vorstellungsgespräch wegen Krankheit seiner Mutter auf noch unbestimmte Zeit verschieben müsste. Der Maitre war sehr freundlich zu ihm, was Wilhelm noch mehr das Herz zerriss. Wäre Feiersinger doch ein zorniger, griesgrämiger Kerl gewesen, wahrscheinlich hätte es den Jungen wenigstens ein bisschen getröstet. Doch nun tat es ihm noch mehr leid, diese Chance wegen seiner Mutter – diesen Gedanken verbat er sich jedoch gleich wieder – und vor allem wegen dieses grausamen Tales ausschlagen zu müssen.
Doch einen Funken Hoffnung hatte er noch, dass er in baldiger Zukunft alles nachholen könnte, er hörte immer wieder den Doktor sprechen: „Wunder gibts immer wieder, ..... Wir werden ja sehen, was die nächsten Wochen bringen.”
Kapitel 8
Doch die nächsten Wochen brachten nichts Gutes. Ida erwachte nach drei Tagen und hatte kein Gefühl in ihrer gesamten linken Körperhälfte, dort war alles gelähmt. Ihr Gesicht glich einer schrecklichen Fratze, auf der linken Seite hielt kein Muskel die darüber gespannte Haut nach oben, alles hing nur schlaff herunter. Es war ein jämmerlicher Anblick. Bei ihren ersten zögerlichen Versuchen zu sprechen kamen nur unidentifizierbare Laute aus ihrem Mund, vor denen sie selbst erschrak.
Wilhelm blieb bei seiner Mutter im Krankenhaus, er bekam ein Bett neben ihr zugewiesen und versuchte zu helfen, wo er konnte. Er lernte, sie zu waschen, er fütterte sie und versuchte sie aufzuheitern, obwohl ihm selber immer eher zum Weinen oder laut Aufschreien zumute war. Er ließ sich von den verschiedenen Therapeuten Übungen zeigen und wiederholte diese oft mit seiner Mutter, immer noch in der Hoffnung, dass sie bald wieder gesundwerden würde. Doch die Fortschritte hielten sich in Grenzen. Das Einzige, was sich besserte und wieder fast so war wie vor dem Schlaganfall war das Sprechen und die Lähmungen im Gesicht. Nach ein paar Wochen sah Ida zumindest im Gesicht wieder aus wie früher und sie konnte wieder kommunizieren. Aber sie war keineswegs mehr die Alte. Ein weiteres Mal musste Wilhelm mitansehen, wie sich seine Mutter veränderte – auch dieses Mal nicht zum Besseren.
Ida war verzweifelt, sie war am Boden zerstört. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Gott sie noch einmal so hart bestrafte – zuerst nahm er ihr ihren geliebten Bruder