In der Schule wurde er zum Außenseiter - als den „fetten Willi“ verspotteten ihn bald alle. Auch das belastete ihn eher wenig - er wusste, dass er bald dieses Tal und diese engstirnigen Gesellen verlassen und in der großen weiten Welt (wenn es auch nur das weite Ötztal wäre) seinen Traum verwirklichen würde.
Kapitel 5
Endlich war es dann soweit – Wilhelm hatte die 9-jährige Volksschule im Pitztal mit durchschnittlichem Erfolg abgeschlossen und war bereit, den nächsten, langersehnten Schritt zu tun – er begann seine Kochlehre. Ein Bekannter seines Tets Josef arbeitete im renommierten Hotel „Post“ in St. Anton am Arlberg und Wilhelm konnte durch ihn einen Lehrplatz beim weithin bekannten Chefkoch Moll ergattern. Es war zwar nicht das Ötztal, aber auch St. Anton kam Wilhelm wie eine quirlige Metropole vor im Vergleich zum verschlafenen, engen, dunklen Pitztal.
Seine Lehrjahre bewältigte Wilhelm mit großem Eifer. Sein auch für seine Hitzköpfigkeit bekannter Meister erkannte sofort die Leidenschaft, mit der Wilhelm ans Kochen ging und er förderte und forderte ihn bei jeder Gelegenheit.
Nach der mit Auszeichnung bestandenen Lehrabschlussprüfung nahm der mittlerweile 19-jährige Wilhelm sein neues Lieblingsbuch, den gerade erstmals erschienenen Gault Millau, zur Hand und bewarb sich bei den besten Hotels und Restaurants in Österreich und Deutschland. Mit seinem Zeugnis und einem Empfehlungsschreiben des Chefkochs Moll war er guten Mutes, den nächsten Schritt in Richtung Erfüllung seines Lebenstraumes machen zu können. Und tatsächlich bekam er sogar mehrere positive Antworten, doch als er eines Tages einen Brief mit einem Goldenen Adler auf dem Kuvert aufgedruckt in Händen hielt, wurde er richtig nervös. Er verehrte Maître Feiersinger, den Starkoch dieses Restaurants in München und wünschte sich nichts sehnlicher, als unter diesem Meister kochen zu dürfen. Mit zittrigen Fingern öffnete er sorgfältig das Kuvert, öffnete das gefaltete Blatt Papier und konnte kaum glauben, was er da las: „............. freuen uns, Sie zu einem Bewerbungsgespräch am ....... zu uns einzuladen.“
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals vor Aufregung und Glück, er sah sich schon in seiner Vorstellung gemeinsam mit Maître Feiersinger am Herd stehen und ihm bei den neuesten Kreationen behilflich sein.
Kapitel 6
Wilhelm war gerade in der Stuba, dem Wohnzimmer, und schaute mit seiner Mutter fern. Übermorgen sollte der große Tag sein, an dem er mit dem Bus nach Innsbruck und dann mit dem Zug nach München fahren und das erste Mal seinem großen Idol gegenübersitzen sollte. Er konnte an fast gar nichts mehr anderes denken. Draußen schneite es in dicken Flocken und er betete, dass die Straße talauswärts nicht wegen Lawinengefahr gesperrt sein würde. Plötzlich stand seine Mutter auf und stöhnte: „Irgendwie isch mir heit gar nit guat, Bua.” Sie schaute ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, drehte sich in Richtung Türe, wollte einen Schritt nach vorne machen und fiel vornüber auf den Boden. Wilhelm war zuerst wie erstarrt und erwartete, dass sie gleich wieder aufstehen würde. Er hatte seine Mutter noch nie richtig krank gesehen, er dachte zuerst sie sei nur gestolpert. Doch sie blieb regungslos liegen. Da schoss er aus seinem Fernsehsessel und beugte sich über sie. Er rief: „Muater, Muater, was ist mit dir?“ Keine Reaktion. Er schüttelte sie und tätschelte ihre Wangen - nichts, sie lag einfach nur da. Nun bekam es Wilhelm mit der Angst zu tun, er sah zwar, dass sie noch atmete, aber er ahnte, dass etwas Schlimmes passiert war. Schnell zog er seine dicke Winterjacke an und lief im Schneegestöber zum Haus der „Demesen”, zu Martha, der Hebamme und Heilerin des Dorfes. Er stürmte zur Türe herein und schrie: „Martha, kimm schnell, die Muater....!“
Martha, durch den fast hysterischen Unterton in seiner Stimme alarmiert, sprang auf, zog sich schnell den Wintermantel über, schnappte sich ihre große schwarze Tasche und lief mit Wilhelm hinaus zum Nachbarhaus. Ida lag immer noch genauso am Boden, wie sie Wilhelm verlassen hatte. Martha beugte sich zu ihr hinunter, fasste ihr an den Hals, zog ihre Augenlieder nach oben, ließ sie wieder los, tastete nach ihrem Puls am Handgelenk, sah auf die Uhr, schaute auf und sagte hastig: „Da kann ich nichts machen, wir brauchen schnell einen Arzt.“ Die nächsten Stunden erlebte Wilhelm wie in Trance, er war irgendwie emotionslos, so als ob ihn das Ganze nichts angehen würde. Er stand nur da und sah zu, wie Martha in den Vorraum stürmte, den Telefonhörer abnahm und eine Nummer wählte. Er hörte sie in der Ferne irgendetwas sagen und verstand nur „Krankenwagen..................... Straße gesperrt...........“. Mittlerweile hatte sich das Unglück schon im Dorf herumgesprochen, und Josef kam hereingestürmt. Er redete schnell mit Martha und sagte dann laut: „Dann fahr ich mit ihr ins Krankenhaus, de Lena soll nur kemmen“. Schnell beugte er sich hinunter, nahm seine regungslose Schwester auf seine Arme und hob sie auf. Zu Wilhelm gewandt schrie er: „Mach mir die Türe vom Auto auf, Bua!“ Der Junge erwachte aus seiner Starre und lief vor seinem Tet zum Auto, öffnete die Türe zum Rücksitz und beobachtete, wie seine Mutter sanft dorthin gebettet wurde. Er konnte sie zwar atmen sehen, aber ansonsten schaute sie aus wie tot. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, nicht nur wegen der Kälte. Er war gerade dabei, sich auf den Beifahrersitz zu setzen, als ihn Josef fragte: „Bua, des wird eine gefährliche Fahrt, die Straße ist wegen Lawinengefahr gsperrt, willst du wirklich mit?“ Ohne Nachzudenken und ohne ein Wort zu sagen, setzte sich Wilhelm demonstrativ hin und schnallte sich an. Josef nickte mit dem Kopf, ging schnell um das Auto herum und setzte sich auf den Fahrersitz. Er startete den Wagen und fuhr langsam durch den schon hohen Schnee über die vereiste Brücke aus dem Dorf hinaus auf die Bundesstraße. Auch hier war schon seit Stunden kein Räumfahrzeug mehr gefahren und dementsprechend viel Schnee lag auf der Fahrbahn. Josef starrte konzentriert nach vorne und versuchte, die Straße auszumachen. Man konnte kaum die Hand vor den Augen sehen, geschweige denn den richtigen Weg vor dem Auto. Aber Josef war diese Strecke schon so oft gefahren, er wusste genau, wo es langging. Und er wusste auch, dass er nicht zu sehr aufs Gas steigen durfte, so gerne er das auch tun wollte. Seine Schwester, die er über alles liebte, lag reglos hinter ihm und er spürte, dass die Zeit gegen ihn war. Der Schneefall wurde immer mehr, und Josef betete, dass sich die Lawine, die bei diesen Bedingungen meist vor St. Leonhard niederging, noch Zeit ließ. Er sah vor sich den geschlossenen Lawinenschranken. Es war nicht das erste Mal, dass er diesen ignorierte, doch heute lag wirklich schon sehr viel Schnee auf dem Berg zu seiner rechten und er wusste, dass der Untergrund nicht der Beste war. Eigentlich konnte es nicht mehr lange dauern, bis sich eine weiße Wand ins Tal wälzte. Er wies Wilhelm an: „Schnell, steig aus und mach den Schranken auf! Wenn i durch bin, machst ihn wieder zu!“. Dieser tat flink wie ihm geheißen und kurze Zeit später fuhren sie durch den Lawinenstrich. Josefs Herz schlug ihm bis zum Hals, er starrte wie gebannt aus dem Fenster und versuchte, nicht von der Straße abzukommen. Er wusste es genau - einige 100 m rechts von ihm ragte eine Felswand empor und ein paar Meter links von ihm rauschte die Pitze. Beides keine verlockenden Ziele. So konzentrierte er sich und hantelte sich von Schneestange zu Schneestange, die in regelmäßigen Abständen plötzlich aus dem Schneegestöber erschienen. Gleichzeitig horchte er nach draußen, ob schon ein Grollen von oben zu hören war. Kurz schaute er zu Wilhelm hinüber, der wortlos und mit schneeweißem Gesicht nach vorne starrte. Natürlich wusste auch er von der Gefahr, in der sie sich befanden. Um die unheilvolle Stille zu durchbrechen und auch sich selbst Mut zu machen, sagte Josef: „Mir schaffen des, Bua, es werd alles wieder guat!“, und legte eine Hand auf das Knie seines Schützlings. Dieser starrte weiter nach draußen und nickte fast unmerklich. Josef nahm das Lenkrad wieder fest in beide Hände und richtete seinen Blick konzentriert nach vorne. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren und langsam tastete sich der Wagen vorwärts. Fast gleichzeitig erblickten beide die Kapelle von Weixmannstall – das Ende des Lawinenstrichs – und atmeten erleichtert auf. Die erste Gefahrenstelle lag hinter ihnen. Auch die Straßenverhältnisse besserten sich ein wenig, hier war wohl vor noch nicht allzu langer Zeit ein Schneepflug gefahren. Josef gab ein bisschen mehr Gas und sie kamen schneller voran. Nun lag der zweite und letzte