Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim R. Steudel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738004960
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Ab­lauf. Im Mor­gen­grau­en, gleich nach dem Auf­ste­hen, ging ich mit Wang Lee zum Abt und führ­te dort mit ihm die mor­gend­li­chen Übun­gen durch. Ich nann­te das für mich Tai Chi, ob­wohl es doch ei­ni­ge Un­ter­schie­de gab. Auch hat­te ich es mir zur An­ge­wohn­heit ge­macht, gleich da­nach, wäh­rend die Mön­che ihre Mor­ge­n­an­dacht hiel­ten, et­was zu jog­gen, um mei­ne Aus­dau­er und Bein­mus­ku­la­tur zu stär­ken. Am ers­ten Tag kam ich nicht weit. Nach drei bis vier­hun­dert Me­tern ver­ließ mich die Kraft. Doch nach­dem ich die­sen Stand zwei Tage ge­hal­ten hat­te, lief ich am drit­ten Tag ei­ni­ge Me­ter wei­ter und als ich dach­te, es gin­ge nicht mehr setz­te ich noch ein Stück hin­zu. Das führ­te ich so fort bis ich es ge­schafft hat­te, fünf bis sechs Ki­lo­me­ter am Stück zu lau­fen. Das war das Pen­sum, das ich mir selbst auf­er­leg­te und bis auf we­ni­ge Aus­nah­men täg­lich ab­sol­vier­te. Nur die Ge­schwin­dig­keit oder die Stre­cke än­der­te ich ab und zu.

      Nach dem Jog­gen ging ich im­mer zu dem Was­ser­be­cken, an dem ich mei­ne ers­te Mor­gen­toi­let­te ge­macht hat­te. Bald fiel es mir auch nicht mehr schwer, in dem kal­ten Was­ser un­ter­zut­au­chen und ein we­nig zu schwim­men. Die­se Kör­per­rei­ni­gung, die ich oft auch abends durch­führ­te, tat mir sehr gut, wur­de aber von den Mön­chen, die das nicht kann­ten, lei­se be­lä­chelt.

      Fast im­mer schaff­te ich es, kurz vor oder am Ende der Mor­ge­n­an­dacht, ins Klos­ter zu­rück­zu­kom­men, um dann mit Wang Lee wei­ter zu trai­nie­ren. Die we­ni­gen Male, die ich spä­ter kam, fand ich ihn dann im­mer schon auf dem großen Platz vor den Un­ter­künf­ten. Ich bau­te mir auch bald ei­ni­ge Hilfs­mit­tel, fürs Kraft­trai­ning. Sie hat­ten zwar kei­ner­lei Ähn­lich­keit mit den Ge­rä­ten, die in mo­der­nen Fit­ness­stu­di­os ge­nutzt wer­den, aber ähn­li­che Funk­tio­nen. Wang Lee und ei­ni­ge an­de­re Mön­che nutz­ten sie ger­ne mit, denn sie er­leich­ter­ten ei­ni­ges.

      Die un­ge­wohn­te kör­per­li­che Be­tä­ti­gung ging nicht spur­los an mir vor­über. Nach den ers­ten Ta­gen tat mir jede Kör­per­stel­le weh und wenn ich mor­gens auf­stand, muss­te ich mich zu je­der Be­we­gung zwin­gen, da mich schon beim Auf­rich­ten der Mus­kel­ka­ter im Bauch schmerz­te. Die ers­ten Schrit­te staks­te ich steif wie ein Storch durchs Ge­län­de und Wang Lee hat­te oft Grund zum La­chen. Erst bei den Tai Chi-Übun­gen wur­den mei­ne Be­we­gun­gen lang­sam wie­der ge­schmei­dig und ich merk­te auch, dass der Abt man­che Übun­gen be­vor­zug­te, die die Mus­keln wie­der ent­krampf­ten. Es ver­gin­gen aber ei­ni­ge Wo­chen, bis sich mein Kör­per auf die neue, un­ge­wohn­te Be­tä­ti­gung ein­ge­stellt hat­te.

      Nach ei­ni­ger Zeit ver­trug ich auch das Es­sen bes­ser. Mein Ma­gen hat­te sich lang­sam an die frem­de Kost ge­wöhnt. Mit den Ess­stäb­chen konn­te ich auch im­mer bes­ser um­ge­hen und Wang Lees Chi­ne­sisch-Un­ter­richt zeig­te ers­te Früch­te.

      An der Mit­tag­san­dacht der Mön­che nahm ich nach ei­ni­ger Zeit gern und re­gel­mä­ßig teil. Zum einen ver­schaff­te es mir die Mög­lich­keit mich aus­zu­ru­hen und Kraft für das Nach­mit­tags­trai­ning zu schöp­fen und zum an­de­ren war es eine gute Mög­lich­keit, um zur Ruhe zu kom­men, zu me­di­tie­ren und Geist und Kör­per zu ver­ei­ni­gen. Der Abt, mit dem ich oft in den Abend­stun­den bei­sam­men saß, lehr­te mich auch, dass nur ein ge­sun­der und ent­spann­ter Geist zu au­ßer­ge­wöhn­li­chen Leis­tun­gen fä­hig ist. Ich er­kann­te, dass die Me­di­ta­ti­on ein gu­tes Mit­tel ist, um den Kör­per dazu an­zu­spor­nen. Die Ein­stel­lung zum Kör­per und zum Le­ben trägt we­sent­lich zum Wohl­be­fin­den bei. Wenn der Geist sagt, ich bin schön, ge­sund und stark, dann strahlt das der Kör­per, das Ge­sicht auch aus. Er ver­mit­tel­te mir, dass es nicht dar­auf an­kommt, stark zu sein und gut kämp­fen zu kön­nen, son­dern dass es wich­tig ist, wel­che Ein­stel­lung ich zum Le­ben, zum Kämp­fen, zur Ge­rech­tig­keit habe. Er zeig­te und be­wies mir, dass es durch­aus mög­lich ist, schwä­cher und dem an­de­ren un­ter­le­gen zu sein und den­noch so viel Kraft und Über­le­gen­heit aus­zu­strah­len, dass der Geg­ner ohne Wor­te und Ak­ti­on ein­ge­schüch­tert wird und jede Kon­fron­ta­ti­on ver­mei­det.

      Doch vor­erst hat­te ich da­mit zu tun, mei­ne Ge­dan­ken zu ord­nen, zur Ruhe zu kom­men und mich nur auf das We­sent­li­che zu kon­zen­trie­ren. Die Zeit, in der ich auf­ge­wach­sen und in die ich hi­n­ein­ge­wach­sen war, war so an­ge­füllt von Rei­zen und äu­ße­ren Ein­flüs­sen, dass der Geist ei­gent­lich gar nicht mehr zur Ruhe ge­kom­men war.

      Es war kein Wun­der, dass es so vie­le Men­schen mit Schlaf­stö­run­gen gab, dass so vie­le Men­schen hek­tisch, ner­vös und über­reizt wa­ren. Wie oft hat­te ich es selbst ge­macht oder bei an­de­ren ge­se­hen, dass meh­re­re Din­ge auf ein­mal oder ne­ben­ein­an­der ab­lie­fen. Schon als Ju­gend­li­cher hat­te ich bei den Haus­auf­ga­ben laut Mu­sik ge­hört, durch das ge­öff­ne­te Fes­ter die Ne­ben­ge­räusche von der Stra­ße, Ge­sprä­che der Passan­ten oder Fa­mi­li­en­mit­glie­der ge­hört und doch kei­nes von al­le­dem rich­tig oder ein­präg­sam wahr­ge­nom­men.

      Wie oft hat­te ich ge­se­hen, dass je­mand ein Buch las, den Fern­se­her an­hat­te und einen Film an­schau­te und doch kei­nes von bei­den rich­tig ver­stand. Oder dass beim Zu­sam­men­sein mit Freun­den der Fern­se­her lief und sich dann der eine oder an­de­re wun­der­te, wenn man un­auf­merk­sam beim Ge­spräch war oder einen Ein­wurf weit weg vom The­ma mach­te.

      Das­sel­be galt für Bü­cher und Fil­me. Wenn ich einen Film be­wusst an­schau­te oder ein Buch be­wusst las, ohne mich durch et­was an­de­res stö­ren oder be­ein­flus­sen zu las­sen, nahm ich Klei­nig­kei­ten wahr, die mir sonst oft ent­gan­gen wa­ren und die mir zum Ver­ständ­nis des Gan­zen oft­mals fehl­ten. Wenn ich mir am Ende des Fil­mes oder Bu­ches dann noch die Zeit nahm, mit ge­schlos­se­nen Au­gen über be­stimm­te Stel­len nach­zu­den­ken, fie­len mir dann manch­mal noch Klei­nig­kei­ten auf, die ich vor­her gar nicht wahr­ge­nom­men hat­te.

      Zu die­sen Er­kennt­nis­sen ge­lang­te ich in den Zei­ten der Me­di­ta­ti­on. Ich brach­te mei­nen Kör­per und Geist zur Ruhe und lern­te be­wusst zu le­ben. Mit der Zeit ord­ne­te ich mei­ne Ge­dan­ken, lern­te aus mei­nen Feh­lern und ver­stand es, gute Din­ge be­wusst wahr­zu­neh­men und zu le­ben.

      Doch es gab auch Mo­men­te, in de­nen ich an mei­ne Fa­mi­lie und mein dum­mes Ver­hal­ten, das zum Tod mei­ner Lie­ben bei­ge­tra­gen hat­te, dach­te. Am An­fang zer­brach ich dann fast im­mer an die­sen Er­in­ne­run­gen und die Selbst­vor­wür­fe woll­ten kein Ende neh­men. Doch ir­gend­wann ver­stand ich, dass ich das Ge­sche­he­ne doch nicht mehr än­dern konn­te und nun das Bes­te aus mei­nem jet­zi­gen Le­ben ma­chen muss­te. Viel­leicht soll­te das so sein, viel­leicht hat­te auch al­les einen tie­fe­ren Sinn und das Ge­sche­he­ne trug zu et­was We­sent­li­chem und Wich­ti­gem bei. Viel­leicht wa­ren die­se Ge­dan­ken auch Aus­flüch­te und Wunsch­vor­stel­lun­gen, aber sie hal­fen mir sehr, mei­nem Le­ben wie­der einen Sinn zu ge­ben. Doch es dau­er­te lan­ge, bis ich mein Gleich­ge­wicht ge­fun­den hat­te und auch mit die­sen Er­in­ne­run­gen um­ge­hen konn­te.

      Mit­hil­fe des Trai­nings, das bis auf die we­ni­gen Pau­sen fast den gan­zen Tag und sie­ben Tage in der Wo­che an­dau­er­te, lern­te ich lang­sam mei­nen Kör­per ken­nen und ver­ste­hen. Mit der Zeit stähl­te sich mein Kör­per und ich lern­te Mus­keln, wenn sie schmerz­ten oder über­an­strengt wa­ren, zu scho­nen, die An­stren­gung auf an­de­re oder meh­re­re Kör­per­par­ti­en zu ver­tei­len