Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt. Frans Diether. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frans Diether
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742795755
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aus selbigem. "Vater erwartet uns bestimmt nicht so schnell. Er hätte auch kein Verständnis, wenn man ein Pferd zu Grunde reitet."

      Gis nahm erschrocken den Druck von des Tieres Flanken. Er musste sich beherrschen. Wie er das anstellen sollte, schien ihm allerdings rätselhaft. Natürlich schliefen sie im Haus auf engem Raum. Selbst die Zieheltern lagen nicht weit von ihnen, das hätte der verfügbare Platz nicht erlaubt. Dennoch achteten Altje und Frysunth streng darauf, dass zwischen Jungen und Mädchen eine Armlänge frei blieb. So fiel es Gis nicht schwer, die körperliche Nähe der Weiber zu meiden, wenn auch um den Preis, Tammos Schnarchen im Nacken spüren zu müssen. Auch am Tage kreuzten sich die Wege der Kinder kaum. Das ließ die harte, nach Geschlechtern verteilte Arbeit nicht zu. Und während der Mahlzeiten wurde geschwiegen. So kam es, dass Gis mit Kaya während seiner gesamten Zeit im Friesendorf kaum zehn Worte wechselte, bis zu jenem, von Altje heraufbeschworenen Moment. Der Junge hasste sie dafür, kochte innerlich vor Wut und war mehr als einmal kurz davor, dass Hexenweib auf den Waldboden zu werfen und die Flucht anzutreten. Doch seine Vernunft siegte. Er wusste, er war auf seine neue Familie angewiesen, hatte niemanden sonst auf dieser Welt. So ertrug er Kayas Nähe.

      Das Pferd schritt ruhig dahin. Locker saß Gis auf dem breiten Rücken. Locker saß Kaya hinter ihm. Im Takt des Vierbeiners baumelten ihre Zehen gegen seine Fersen.

      "Sei doch nicht so verkrampft", sprach Kaya weiter. "Hat sich noch nie eine Frau an dich geschmiegt?"

      "Doch", antwortete Gis trotzig, auch wenn es nur seine Mutter war. Das sagte er allerdings nicht. Er sagte gar nichts mehr. Der Gedanke an die Mama trieb ihm Tränen in die Augen. Er wischte sie schnell hinweg, wollte stark erscheinen, sich keine Blöße geben, erst recht nicht vor Kaya.

      "Dann zier dich nicht so." Kaya lachte, beugte sich nach vorn, griff in die Zügel und brachte die Schwarze zum Stehen. Es ging so schnell, dass Gis nichts dagegen tun konnte. Gleich darauf sprang Kaya auf den von raschelndem Laub bedeckten Waldboden, dabei sorgfältig die Zügel der Stute in der Hand haltend.

      "Überrascht?", rief sie. "Ich zeig dir jetzt mal was. Wenn du mitmachst, verlieren wir nicht viel Zeit, und Vater wird dich nicht strafen."

      Wohl oder übel fügte sich Gis. Das Weib hatte ihn überrumpelt. Sie war eine Hexe. Wenn es bisher noch Zweifel daran gab, so wurden diese nun komplett ausgeräumt.

      "Steig ab", befahl Kaya und band die Stute an eine zitternde Esche. Fast wie ich, dachte Gis beim Blick auf den Baum, gab sich jedoch alle Mühe, Kaya aufrecht und mit festem Schritt zu folgen. Als diese jedoch ein Dickicht aus Strauchwerk auseinander schob, staunte er nicht schlecht, war seine Neugierde geweckt.

      "Das ist meine Höhle. Warte hier." Kayas Worte und ihre abwehrend ausgestreckte Hand hielten Gis davon ab, der schlanken Gestalt in das dunkle Loch zu folgen. Er fand es zwar beschämend, von einem Weib kommandiert zu werden, fürchtete aber auch ihre Hexenkünste und die Dämonen, welche sie in der Dunkelheit des Erdlochs anrufen konnte. Ohnehin tauchte sie nach kurzer Zeit wieder auf, zwei Bögen in der Hand haltend.

      "Wir kommen zu spät", sprach Gis aus, was sein Herz bedrückte. Gleichzeitig hingen seine grün leuchtenden Augen an den Waffen. Seit dem Schuss auf den Franken hielt er keinen Bogen mehr in der Hand. Er rang mit sich, wollte einerseits den Ziehvater nicht erzürnen, den einzigen Menschen, der wirklich zu ihm stand. Andererseits spürte er große Lust, seine Treffsicherheit zu beweisen, Kaya zu zeigen, was er konnte und damit ihre Hochachtung einzufordern.

      "Natürlich kommen wir zu spät. Und du wirst die Schläge dafür einstecken, nicht wahr? Du wirst alle Schuld auf dich nehmen." Kaya lachte wieder. Was trieb sie für ein Spiel? Gis durchschaute sie nicht. Doch was waren schon Schläge? Davon hatte er genügend erhalten. Es brannte eine Weile, dann vergaß man es. Diesen Preis wollte er zahlen.

      "Wenn du mich ein paar Pfeile verschießen lässt, nehme ich die Schuld auf mich", zeigte er sich denn auch stark.

      "Hier ist der Bogen. Und dort ist dein Ziel. Siehst du das Astloch an der knochigen Weide?" Kaya deutete auf einen sicherlich uralten Baum, von dessen verwachsenem Stamm wohl schon vor längerer Zeit ein dicker Ast abgeschlagen wurde, eine gut sichtbare runde Narbe hinterlassend.

      "Jeder drei Pfeile", gab Kaya sogleich die Regeln vor. "Wer die meisten ins Ziel bringt, darf die Schwarze zum Feld und nach Hause führen."

      "So sei es", stimmte Gis siegesgewiss zu.

      "Spann die Bögen und warte kurz." Kaya verschwand erneut in ihrer Höhle und kam mit sechs Pfeilen, drei weiß, drei schwarz gefiedert, wieder hervor. Die Bögen waren inzwischen schussbereit.

      "Du darfst beginnen." Kulant reichte sie Gis die fein aus Esche gearbeiteten, mit einer scharfen Eisenspitze versehenen Pfeile, an deren Ende drei weiße Federn angewickelt waren. Gis ließ sich nicht weiter bitten, legte den ersten Pfeil auf, verschmolz mit dessen Spitze, lenkte Auge und bogenführende Hand exakt aufeinander abgestimmt in Richtung Ziel. Für kurze Zeit würde er dem Geschoss die Freiheit schenken, es auf leicht gekrümmter Bahn zum Astloch schicken und über den ersten Treffer triumphieren. Er lächelte. Die Sehne schnurrte. Die Pfeilspitze bohrte sich in das alte Holz.

      "Treffer", jubelte Gis und sprang in die Höhe. Als er wieder auf den Füßen stand, stak ein Pfeil mit schwarzen Schaftfedern neben dem seinen.

      "Treffer", sagte Kaya trocken.

      Gis hatte seine beiden verbliebenen Pfeile vor sich in den Boden gesteckt. Er griff sich den Zweiten, zielte kurz und traf erneut, diesmal jedoch, ohne zu jubeln. Er wollte sich nicht wie ein Kind benehmen, nicht vor Kaya. Auch das Mädchen legte erneut an, verschmolz wie Gis mit der eisernen, wenn es sein musste todbringenden Spitze. Ein kurzer Flug und der vierte Pfeil steckte im Ziel. Gis vergaß Ziehmutter, Ziehvater, das Essen und überhaupt alles um sich herum.

      "Wer einen Pfeil aus dem Ziel schießt, hat gewonnen", zischte er durch die Zähne.

      "Psst", Kaya deutete auf die Lichtung. Ein Rehbock, noch nicht sehr alt, wohl ohne schlechte Erfahrung, wohl nicht allzu ängstlich, trat aus dem Schutz der Bäume.

      "Der ist für den dritten Pfeil", hauchte sie tonlos. Doch Gis ließ den Bogen sinken. Du sollst nicht töten, hörte er die fast vergessene Stimme. Seine Ruhe war dahin. Er wusste, dass er zittern, das Ziel verfehlen würde.

      "Du kannst nicht mal ein Reh töten", flüsterte Kaya weiter. "Du kannst nur auf Bäume schießen, du Versager."

      Und obwohl sie tonlos sprach, konnte Gis ihre Verachtung so deutlich hören, als habe sie diese herausgeschrien.

      "Ich tötete den Franken", gab er ebenso leise doch nicht minder bestimmt zurück. "Wenn es sein muss, kann ich alles."

      "Du tötetest den Franken? Dann wirst du doch nicht bei einem Reh versagen", zischte Kaya lachend und gleichzeitig fürchtend, der Bock könne fliehen, wo ihr doch bei seinem Anblick bereits der Speichel im Munde zusammenlief. Doch ihre Wut auf den Jungen war nicht besänftigt.

      „Dein Pfeil flog ins Nirgendwo. Ohne mich hätte der Kerl dich getötet. Versager!“ Kaya wollte es niemals aussprechen. Gis ließ ihr keine Wahl. Sie konnte nicht immer für ihn kämpfen.

      "Ich bin kein Versager." Gis konnte sich kaum beherrschen.

      „Sag, dass es nicht wahr ist.“ Seine Seele war aufgewühlt. Und dabei klang sie immer lauter, die Stimme aus seinem Innersten, die Stimme des Missionars. Du sollst nicht töten, rief sie.

      „Nein“, rief er laut. Wenn es sein musste, konnte er töten. Gis war fest davon überzeugt. Und jetzt musste es sein, musste er dem Weibsbild beweisen, dass ihr Spott fehl am Platze, ihre Überheblichkeit nur Produkt ihres Neids war. Voller Wut, innerlich zerrissen, im Blick nur Pfeil und Ziel, legte er an und ließ die Sehne los, ohne Adalberts Stimme Zeit zu geben, erneut die magischen Worte auszusprechen. Das Geschoss schlug in die Brust des Tieres. Gis schrie auf.

      "Sei ruhig", fauchte er seine tosende Seele an, während der verwundete Bock in Richtung Wald sprang. Du sollst nicht töten, hämmerte es hinter seinen Schläfen. Ein zweiter, schwarz befiederter Pfeil brachte das Reh endgültig zur Strecke.

      "Wir