"Er macht Gis zu Agur", murmelten die, die sich für wissend hielten.
Kaya ging an der Hand ihrer Mutter, hatte sich äußerlich abgefunden mit dem zugedachten Schicksal, war nicht davongelaufen, nicht in den Brunnen, nicht mit einer Schlinge um den Hals von einem Aste gesprungen. So sehr ihr die Ungestümheit im Blute lag, so sehr zeichnete sie sich auch durch Beherrschung aus. Es brachte nichts, ohne Geld, ohne Besitz, ohne Hilfe loszuziehen. Sie konnte es nur schlechter treffen als mit Tahnker. Überhaupt, dieser Mann schien doch wie für sie gemacht, hatte den gleichen Drang zur Unangepasstheit. Er würde ihr die Freiheit lassen, die sie brauchte. Eigentlich könnte sie glücklich sein. Doch das war die Ratio, das war ihr Hirn, das war nichts. Denn ganz anders sprach ihr Herz, nein es sprach nicht, es schrie, schrie vor Schmerz. Sie war nicht nur nicht glücklich, sie war zutiefst unglücklich, dachte immer nur an den einen, an den Dahergelaufenen, an den Fremden, an den Schwächling, der nicht töten konnte, der nicht für sie kämpfte, der es widerstandslos hinnahm, als sie einem anderen versprochen wurde. Sie verzieh es ihm. Was schon können Argumente, kann das Hirn gegen das Herz ausrichten? Was kann der Verstand gegen die Liebe tun? Nichts! Es gab nur den einen, würde immer nur den einen geben. Mochte er schwach sein, in ihren Händen war er stark. Mit ihr wäre er zu dem gereift, was sie sich so wünschte, zu ihrem männlichen Ebenbild. Als er den Rehbock erlegte, zeigte sich ihre Kraft in ihm. Mit ihr konnte er alles. Ihn wollte sie, nicht Tahnker. Es war noch immer Zeit, warf sie jedes schwer erdachte Argument über den Haufen. Sie konnten noch immer fliehen. Sie hatte noch nicht bei Tahnker gelegen, noch nicht die Vereinigung vollzogen. Sie müsste sich nur heimlich davonstehlen, zu den Ställen laufen, wo Gis immer wartete, bis der Priester verschwand. Sie würden sich zwei gute Pferde nehmen. Die Welt ist so groß. Es gibt einen Platz für uns, wusste Kaya tief im inneren. Sie ging an Altjes Hand. Drückte die Mutter besonders fest oder bildete sie sich das nur ein? Konnte die Mutter ahnen, was in der Tochter vorging? Kaya flehte zu Frigga. Ihre Seele schrie heftig und laut, schrie um Erlösung, um Gnade, um Abwendung des Unabwendbaren.
"Zeige uns einen Weg, Gis und mir. Zeige uns unseren, den gemeinsamen Weg." Kayas Lippen formten die Worte. Unhörbar schwebten sie im Herbstwind, hingen sie in der warmen Luft über der duftenden Erde abgeernteter Felder, über den vielen grob gezimmerten Tischen und Bänken, welche den Festplatz übersäten, an welchen lärmende und lachende Männer und Frauen, streng getrennt nach Freien und Abhängigen, aber doch vereint im Wissen um die drei schönsten Tage des Jahres, saßen und das frisch gebraute Festbier genossen. Und wie Kayas Worte, so schwebten auch ihre Gedanken, flogen hinweg über die vielen bekannten und doch so fremden Verwandten und Nachbarn, über all die Trivialität, über Frysunth, der bereits auf einem Podest stehend, alsbald zu ihnen sprechen, über Bonifatius, der noch hinter Frysunth stehen, alsbald hervortreten und den Dankesgottesdienst abhalten würde. Das gehörte dazu. Das musste sein. Das ließe sie für eine Weile innehalten in dem, wonach ihnen der Sinn wirklich stand, nach schnellem Tanze, nach derbem Scherze, nach kräftigem Besäufnis und nach ungezügeltem Ausleben ihrer animalischen Triebe, was den Zustand allgemeiner Trunkenheit und das damit verbundene allgemeine Vergessen und Verzeihen voraussetzte. Dankbar bemerkte Kaya, dass Tahnker abseits stehend, ohne den obligatorischen mit berauschendem Trank gefüllten Tonkrug in der Hand, auf die Worte des Vorstehers wartete und hin und wieder zustimmend nickte, als Frysunth in gewählter Sprache den Spagat zwischen freiem Friesentum und ergebener Untertanenschaft als Teil des Frankenreichs schaffte. Ihre Dankbarkeit wuchs weiter, als sich Tahnker während der von Bonifatius zelebrierten Messe weiterhin abseits hielt, seinen Blick auf die uralte Eiche richtete, die dem christianisierenden Kahlschlag entging, da keiner sie öffentlich als Sitz von Göttern verehrte. Kaya jedoch wusste, aus dieser Eiche verfolgten die alten Mächte das Treiben ihrer Kinder. Und sie wusste, dass auch Tahnker das wusste. Es passte wirklich alles zusammen. Tahnker besaß alles, was sie von einem Manne wünschte. Er besaß mehr davon, als Gis, der in seinem Mute Schwankende, der so schnell Vergessende, der sie fast im Stich Lassende. Es sprach so vieles für Tahnker, so wenig für Gis. Letztlich sprach allein ihre Liebe für Gis. Und noch einmal wurde ihr bewusst, gegen die Sprache der Liebe konnte nichts ankommen, sei es noch so groß und wichtig. Frigga würde sie verstehen. Friggas langes Haar raschelte im Eichenlaub. Friggas verführerische Lippen summten das Lied der Liebe. Für Kaya laut und deutlich hörbar, schwebte es im Herbstwind, hing es in der warmen Luft über der duftenden Erde abgeernteter Felder, über den vielen grob gezimmerten Tischen und Bänken, säuselte es der jungen, vor Liebe, vor Abenteuerlust, vor Freiheitssehnsucht tollen Frau einen Plan ins Ohr, einen Plan direkt in die schmachtende Seele.
"Verzeih mir, lieber Tahnker", formten Kayas Lippen und Frigga lächelte dazu.
Gis saß zwischen seines Vaters, jedenfalls seines Ziehvaters Pferden. Sie kannten ihn gut. Sie vertrauten ihm. Selbst die Schwarze, der er doch den Herrn nahm, die er durch Mord für sich nahm, die er gar für schwere bäuerliche Arbeit in Beschlag nahm - andernfalls hätte Frysunth das Bleiben des Tieres nicht geduldet, denn nur wer arbeitete, durfte auch essen - schenkte ihm große Zuneigung, schien die Liebe zu spüren, die er für sie im Herzen trug. Für sie hatte er gemordet, einen Menschen getötet. Gis unterbrach seine Gedanken. Er tötete den Franken, weil dieser ihn töten wollte. Die Liebe zur Schwarzen kam erst später. Er wollte wenigstens zu sich selbst ehrlich sein. Dazu gehörte auch, dass er wegen einer Frau tötete, die Trophäe seiner Tat als Kleidung trug. Kaya hatte ihn dafür fragend angesehen, Kaya, der er schon so nahe war und von der er sich wieder so weit entfernte. Kaya, die ihn herausforderte, ihn zum Äußersten trieb, für die er tötete und die er unter der Last des Täglichen zurückstieß in die Masse der anderen, in die Vielzahl derer, bei denen er lebte, ohne einer der ihren zu sein. Gis saß noch immer auf dem Boden. Seine Zehen, wie selbstverständlich trug er wieder die einfache bäuerliche Kleidung, er durfte ja nicht mit auf das Fest, spielten mit dem duftenden Heu. Er konnte sie nicht still halten, war zu aufgeregt, wenn er an das dachte, was verging, noch mehr jedoch, wenn er daran dachte, was kommen könnte. Sein staubüberzogenes Gesicht verbarg sich in den schmutzigen Händen. Tropfen bahnten sich den Weg durch Staub und Schmutz, kamen aus grünen Augen, wuschen kleine Straßen frei. Er dachte an seine Sippe. Er sollte dazugehören, sollte in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden, sollte kein Kind mehr sein. Die Götter sollten ihn den Männern seiner Sippe gleich erachten. Dafür trug er die alten Symbole auf der Haut. Dafür überwand er das Wasser des Flusses, seines Flusses, an dem sein Dorf lag.
"Warum nahmt ihr mir das alles", rief Gis in das flaue Licht des Stalls. Der umherwabernde Staub wirbelte durcheinander. Durcheinandergewirbelt wie mein Leben, dachte Gis bei diesem Bild. Warum durfte er überhaupt leben, wo alle anderen starben, der Vater so früh, Mutter und Großvater ebenfalls weit vor der Zeit?
"Was habt ihr mit mir vor?" Er achtete die Gefahr der Entdeckung nicht, schrie laut. Die Götter sollten ihn hören, Wodan sollte ihn hören, Saxnot sich seiner erbarmen. Und kam da nicht eine Antwort? War da nicht mehr als das Schnauben der Pferde.
"Die Götter sind mit den Starken." Gis vernahm es ganz deutlich. Und er hörte seinen Namen, nicht den, den ihm Adalbert anhängte, den, den er von seinem Großvater bekam, Gis, der Pfeil.
"Ein Pfeil ist nur im Fluge frei."
War es Saxnot, der zu ihm sprach? Musste alles so kommen, damit er seinem Namen gerecht wurde? Durfte er sich nicht an Vergehendes binden? Sollte er die Knechtschaft abwerfen? Dann durfte er auch nicht unter neuer Knechtschaft leben. Dann musste er auch die neue, aus Not heraus angenommene Heimat verlassen. Musste er aus diesem Grunde Kaya vergessen, weil er frei sein und die seinen aus Knechtschaft befreien sollte? Doch die seinen waren tot. Wen sollte er befreien, die Friesen oder nur sich selbst?
"Antworte