Dunkle Seele Liebe. Fe Mars. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fe Mars
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738098891
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Truhe. Aber die alte Schrift war schwer zu lesen. Es wurde schon bald Morgen und er war immer noch kaum weiter mit dem Text.

      Er war zu jung, um die Alte Sprache wirklich gut zu beherrschen, und einen von den Alten wollte er nicht fragen. Sie hätten wissen wollen, warum er sich mit den verstaubten Geschichten befasste. Keinen von den Jungen interessierten sie mehr. Das Leben war viel zu schnell geworden für so etwas - selbst wenn es, sofern man denn Pech hatte, ewig dauerte. Verflucht! Und jetzt auch noch das Mädchen! Wie verletzlich sie ausgesehen hatte. Er hatte sofort gemerkt, wie seine sämtlichen Instinkte darauf angesprungen waren. Es hatte ihn alle Mühe gekostet, sich zu beherrschen, sie einfach stehen zu lassen und zu gehen. Sie hatte in seine Richtung geschaut, ohne ihn zu sehen, es war zu dunkel gewesen. Für ihn war das Sehen bei Dunkelheit kein Problem. Er war ein Nachtwesen.

      Ihr Gesicht war so bleich gewesen wie der Mond. Sie hatte die Brauen gerunzelt, ein wenig unsicher, und dann hatte sie die Angst getroffen. Er hatte das Vibrieren ihrer Nervenfasern spüren können. Die Schwingungen der Furcht – er kannte sie nur zu gut. Er mochte es, diese Vibrationen auszulösen, dieses Zittern. Er mochte es, weil er stärker war, weil er sich beherrschen konnte, weggehen konnte. Weil es ihm Macht gab. Nicht über die Kreatur, die in der Nacht stand, gefügig wie ein Lamm, das auf seinen Metzger wartete - nein, weil es ihm Macht gab über sich selbst. Er konnte das Spiel kontrollieren. Er musste es nicht mitspielen wie die anderen, Sklaven ihrer Triebe. Er konnte die Regeln bestimmen. Bis jetzt. Doch seit er das Mädchen gesehen hatte, war er sich nicht mehr so sicher. So schwer war es ihm noch nie gefallen. Der Hund hatte ihn schließlich weggezerrt.

      Diese schreckliche Verletzlichkeit. Es müsste verboten werden, so verletzlich zu sein! Mit einem Fluch fegte er das Pergament vom Tisch.

      *

      Die Fragen summten und kreisten in meinem Kopf wie ein Schwarm Bienen: Wer war das gewesen am Tor? Wem gehörte dieser Hund? Und warum hatten bei mir alle Alarmglocken geschrillt? War ich verrückt oder reagierten alle Frauen so auf Schatten in der Nacht?

      Das Grübeln hatte mich die halbe Nach wachgehalten und ich fühlte mich wie zerschlagen, als der Wecker läutete. Bei Tageslicht kam mir meine Reaktion auf die Gestalt im Garten hysterisch vor. Da hatte einfach jemand aus dem Haus noch eine Runde mit dem Hund gedreht. Sonst nichts. Später musste ich Lia nach seinem Besitzer fragen, jetzt schlief sie noch und gestern hatte ich sie nicht mehr getroffen, weil ich wie panisch in mein Zimmer gerannt war. Seufzend machte ich mir einen Kaffee.

      Heute sollte ich mich in meiner neuen Schule melden. ‚Archio - Scuola di Restauro’, eine Restaurierungsschule. Möbel, Bilder, Fresken als Schwerpunkte. Es war ein privates College und kostete Geld, aber da verpflichtend ein Praktikum nebenherlief, bei dem ich etwas verdienen würde, und da ich bei Lia umsonst wohnen konnte, war es machbar. Das Kostgeld würde meine Mutter aufbringen und das Fahrtgeld hatte mir ganz überraschend meine Großmutter ausgelegt. Geld war leider in unserer Familie ein beständiges Thema, vor allem, weil selten welches da war. Alles ging für die Instandhaltung unseres Familienstammsitzes drauf, Schloss Razburg. Ich war immer ziemlich gehänselt worden wegen des adeligen Getues meiner Großmutter. Sie hatte das Gefühl, etwas Besseres zu sein. Das machte es für mich nicht einfacher, Freunde zu finden. Jemanden mit nach Hause zu bringen war eine Qual, es sei denn, wir schafften es unbemerkt ins Schloss und verkrochen uns still und leise irgendwohin.

      Aber öfter noch verkroch ich mich alleine. Mein Lieblingsplatz war das chinesische Zimmer mit der verschossenen blassgrünen Seidentapete. Im Wäscheschrank hatte ich mir ein Lager eingerichtet. Wenn ich jemanden kommen hörte, klappte ich einfach die Tür zu ...

      Vielleicht war das der Grund, warum ich Restauratorin werden wollte: Aus Dankbarkeit dem Schrank gegenüber, der mich so oft beschützt hatte. Mir kam es selbst schrecklich vor, wenn ich daran dachte, als besten Kindheitsfreund einen alten Schrank zu haben, aber so war es nun einmal.

      *

      Das Sekretariat in dem alten Palazzo war nicht schwer zu finden, eine Schlange Schüler stand bereits davor. Ich stellte mich dazu. Angesichts des Temperaments der Italienerinnen, die um mich herum redeten, lachten und gestikulierten, kam ich mir unbeholfen und sprachlos vor. Die Sekretärin drückte mir einen Packen Zettel in die Hand. Der reguläre Unterricht begann erst in ein paar Tagen, diese Woche war noch frei, damit sich alle in die Praktikumsstellen einarbeiten und ihre Unterkünfte organisieren konnten.

      „Hey! Du bist auch Erstsemester, ja?“ Das Mädchen, das hinter mir in der Schlange gestanden hatte, tippte mir auf die Schulter. „Woher kommst du?“

      „Deutschland. Und du?“

      „Rom. Ich heiße Celia.“ Sie schob mit dem Zeigefinger ihre Brille hinauf und lächelte. „Gehst du mit gegenüber ins Café?“

      Das ist ein guter Beginn, dachte ich.

      Wir ergatterten das letzte unbesetzte Tischchen und breiteten unsere Studienunterlagen aus. Grundlagen der Konservierungs- und Restaurierungstechniken, Kunstgeschichte, Werkstoffkunde nach historischen Quellen, Werkstoffgeschichte, Chemie und Physik der Arbeitsstoffe, Klima, Licht und Umwelteinflüsse, Denkmalpflege – das klang alles furchtbar technisch, trotzdem freute ich mich darauf.

      „Ich möchte auch mal ins Ausland, so wie du.“ Celia blickte verträumt ins Weite. „Das ist … mutig.“

      „Ich bin eigentlich gar nicht mutig. Eher das Gegenteil.“

      „Das meinst du nur! Erzähl, wo genau kommst du her, wie lebst du dort?“

      „Tja, ich wohne in Süddeutschland in einem Schloss, das dringend eine Rundum-Sanierung bräuchte. Meine Mutter ist eine gefangene Prinzessin und meine Großmutter der Drachen, der sie bewacht. Und in den Verliesen treffen sich verwunschene Horrorwesen, denen man am besten aus dem Weg geht, wenn man seine Seele behalten will. Alles ganz normal also. Und du?“

      Celia lachte so, dass sie sich unter der Brille die Tränen aus den Augen wischen musste. Ich lachte mit. Natürlich war es Unsinn gewesen, aber es tat trotzdem gut, mein bedrückendes Zuhause von der lustigen Seite zu betrachten.

      „Meine Mutter hat einen Modeladen. Drüben, auf der anderen Seite vom Tiber, im Trastevere. Da leben wir auch. Frauenhaushalt … Na, du kennst das ja, wie es aussieht!“ Celia verzog das Gesicht und grinste.

      Es war so einfach, mit Celia zu sprechen. Mir kam es vor, als wären wir schon seit langer Zeit Freundinnen.

      „Mein Freund macht Schmuck. Luca. Er verkauft die Sachen auf der Porta Portese, dem Flohmarkt. Er …“ Celia verstummte plötzlich und starrte über meine Schulter. „Sag mal, hast du einen eifersüchtigen Freund oder so was?“ Ich schüttelte langsam den Kopf. „Ah, na ja, dreh dich jetzt nicht um, aber da steht so ein Kerl und bohrt dir seine Blicke in den Rücken. Schon die ganze Zeit. Mit einem ziemlich wilden Gesichtsausdruck, wenn du mich fragst!“

      Ich fuhr herum, doch die Leute am Tisch hinter mir hatten sich gerade erhoben, und bis ich es schaffte, an ihnen vorbeizusehen, war niemand mehr da.

      Der Duft von Tomaten zog sich bis in den Hausgang. Lia stand am Herd und rührte in einem Topf. Die warmen Gerüche der Küche, die Radiomusik, diese ganze Normalität kam mir seltsam irreal vor. Auf dem Heimweg hatte ich mich immer wieder umgedreht, um zu sehen, ob mir jemand folgte. Ich hatte Blicke in meinem Rücken gespürt und um jeden Hauseingang, der im Schatten lag, hatte ich einen Bogen geschlagen. Und das am helllichten Tag.

      Ich hatte es gleich beim Nachhausekommen ansprechen wollen. Der Schatten im Garten. Und Razburg, unser Familiensitz. Lia war im Schloss aufgewachsen, genau wie ich. War sie je in den Kellern gewesen? Wusste sie irgendetwas, was mir Antworten auf meine Ängste und Albträume hätte bieten können? Oder hatte sie es geschafft, alle Erinnerungen hinter sich zu lassen? War das überhaupt möglich? Ich bezweifelte es – und hoffte es zugleich.

      „Lia, da ist …“, begann ich zögernd.

      „Ich koche immer Sugo vor. Ist doch praktisch, oder?“, rief sie fast im gleichen Moment. Dann warf sie mir über die Schulter einen Blick zu. „Was wolltest du gerade sagen? Hab ich dich unterbrochen?“

      „Nein,