Vor der verriegelten Kellertür warteten drei Priesterinnen auf sie.
Eine nahm ihr ihren Sohn ab, die andere ihren Schleier und die Dritte zeichnete mit weißer Farbe Punkte auf ihre Wangen, dann mit roter Farbe einen langen Strich von ihrer Stirn über ihre Nase bis zu ihrem Kinn.
»Lord Gero Lue ist in das Haus der Nachtkönigin eingezogen. Er sitzt an ihrer Tafel, doch er kann ihre Speisen nicht essen und ihr Wasser nicht trinken.«
Die Trommeln wurden schneller, begleitet von Sklaven, die mit Schellen an den Fußknöcheln tanzten.
»Ich habe mit meinen Gebeten seinen Weg begleitet, damit er an ihrer Tafel sitzen kann. Was muss ich tun, damit er von ihrer Tafel speisen kann?«
»Er muss durch das Feuer gehen. Solange er nicht bereit ist, werden ihm keine Speisen bereitet.«
Alixena senkte den Kopf. »So sei es.«
Immer noch tanzend und mit den Fußschellen klingelnd, öffneten die Sklaven die Tür in den Keller.
Vor dem Ofen lag Gero auf seiner Glasbahre, die Blumen auf seinem Körper schon leicht verwelkt.
Der süßliche Geruch nach Verwesung mischte sich mit dem Duft der Rosen, aber auch mit dem leicht fauligen Geruch der bereits welken Blätter. Die Hitze in dem kleinen Raum ließ die Farbe auf ihrem Gesicht schmelzen. Sie musste all ihre Willenskraft aufbringen, um keine Miene nicht zu verziehen. Wenn sie einen Fehler machte, würde es Gero bei der Nachtkönigin schlecht gehen.
Ein Lächeln drohte, ihre Mundwinkel zu rühren. Eine Träne, ihr Auge beim Gedanken an ihn zu verlassen. Sie wusste, welch ein Geschenk wahre Liebe war. Sie musste dankbar sein, es überhaupt erhalten zu haben, statt darum zu trauern, dass es ihr wieder genommen worden war. Aber wieso tat ihr Herz dabei so weh?
Man durfte es ihr nicht anmerken.
Im Rhythmus der Trommeln schritt sie zur gläsernen Bahre.
Das Rascheln und Klingeln der tanzenden Sklaven, die Gerüche und die Hitze umnebelten in ihren Verstand, bis sie nur noch verschwommen sah, fast wie in Trance agierte.
Eine Priesterin reichte ihr eine Schale mit roter Farbe.
Alixena trug sie auf ihre Lippen auf und drückte einen Kuss auf Geros Stirn. »Mit diesem Kuss zeichne ich dich. Durch dieses Zeichen werde ich dich an der Tafel der Nachtkönigin wiederfinden, wenn ich einst selbst hinabsteige.« Sie trat zurück und drückte den Hebel herunter, der die Bahre aus schwarzem Glas langsam ins Innere des Ofens fahren ließ.
Die Trommeln steigerten sich zu einem schnellen, fast rasendem Rhythmus. Ihr Herz drohte, mit den Trommeln aus ihrer Brust zu springen. Das Rascheln und Klingeln um sie herum wob sie in die Schatten ein. Immer wilder die Tänze, immer schneller die Trommeln, immer heißer die Luft, bis sie es über Gero flimmern sah und die Rosenblüten verglühten, noch ehe sein Körper die Klappe erreicht hatte.
Zuletzt sank sie zu Boden, ihr Körper zuckte und als sie schrie, verband sich ihr Schrei mit dem Glühen der Welt um sie herum.
Gero war angekommen.
Gegenwart
1. Elessa - 15 Jahre später
Wie lange sollte sie noch vor dem Spiegel sitzen und sich sämtliche Haare ziehen lassen? Sie war sich jedenfalls sicher, dass sie mit jedem Strich des Lockenkamms etliche davon verlor, und das wollte sie garantiert nicht: mit einer Glatze zum Fest im Clanschloss der Lue erscheinen. Glatzen hatten nur alte Menschen. So alt, dass sie sich noch an die ganze Zeit der Großen Dunkelheit erinnern konnten. Denen hatten damals der Regen die Haare direkt vom Kopf gespült. Was Elessa trotz des nervigen Unterrichts, den ihre Mutter ihr aufzwang, noch nicht ganz verstand. Nicht, dass es sie überhaupt interessierte.
Sie baumelte mit den Beinen und wünschte sich weit weg aus dem Palast der Dotar. Zu den Straßenratten, wo ihre wirklichen Freunde waren. Wo ihre Anwesenheit etwas änderte. Wenn sie sich in die Lumpen unter ihrem Bett hüllte, die Hände mit Binden umwickelte und mit ihnen in den Müllbergen um Dotar-Schloss nach Plastik, Glas und Metallen suchte, fühlte sie sich frei. Sie brauchte das Geld nicht, aber sie war gut, und konnte mit ihrer Suche zumindest die Armen unterstützen. Hier jedoch, hier fühlte sie sich nutzlos. Ihre Mutter schenkte ihr alles, was sie wollte – solange es Dinge waren. Aber das, was sie wirklich wollte, bekam sie nicht: Freiheit.
Schloss Dotar war ein hübscher Käfig voller Metallfäden und glitzernder Glassteine, voller dünn gewalzter Plastikblätter mit hineingedrückten Geschichten und mit Gewächshäusern voller nützlicher und schöner Pflanzen. In alldem fühlte sie sich die meiste Zeit so sehr eingesperrt, dass sie nachts in ihr Kopfkissen schrie, bis sie keine Kraft mehr hatte und vor Erschöpfung einschlief.
Die Zofen hörten endlich auf, an ihrem Haar herumzuzupfen – was sprach gegen praktische Zöpfe? – und zeichneten ihr stattdessen das traditionelle Muster der Dotar aufs Gesicht. Den geradlinigen dunkelroten Streifen von Schläfe zu Schläfe, über ihre geschlossenen Augenlider hinweg und über ihren Nasenrücken.
Immerhin war ihr Gesicht nicht so bleich wie das ihrer Mutter, bei der dieser Streifen immer wirkte, als hätte sie Blut im Gesicht. Dennoch – die Bemalung fühlte sich unangenehm an und sie war sich sicher, dass die Farbe spannen und bröckeln würde, bevor sie ihr Ziel erreicht hatten. Also wozu das Ganze, wenn es ohnehin die nächsten Tage über niemand sehen konnte?
Nach der Antwort brauchte sie allerdings gar nicht fragen, denn sie lautet stets gleich: Weil sie eine Dotar war und es sich so gehörte. Darum.
Das war auch der Grund, aus dem sie sich in ihre Kleidung zwängen ließ – ein Großteil davon bestand aus irgendwie zusammengesuchten Stoffresten, die jemand einheitlich dunkelblau gefärbt hatte, gemischt mit einem Gewebe aus langgezogenen Plastikfäden. Fast so stabil wie eine Rüstung und mit Sicherheit genauso einengend. Auch wenn Elessa noch keine Rüstung tragen musste – sie lebten nicht mehr in der vergangenen Zeit, in der man sogar für Kinder welche angefertigt hatte. Wenn sie ehrlich war, war sie froh darüber, über ihren Sachen nicht auch noch diesen Metallklotz tragen zu müssen.
Trotzdem würde sie lieber ihre Straßenrattenkleidung tragen. Alles nur Lumpen, aber immerhin weiche, abgetragene Lumpen, aus Stoff,