»Ich übernehme von hier an.« Er verbeugte sich vor Alixena und scheuchte mit einer kleinen Handbewegung den Fahrer von ihr fort.
Sofort näherten sich einige Jungknechte und machten sich daran, den Wagen zu waschen und zu desinfizieren, ehe er in die Stallungen gefahren werden würde.
»Felix, nicht wahr?« Sie nahm dankbar seine Hand und lehnte sich leicht in seine Richtung, als wäre ihr nach der langen Fahrt schwindelig.
Vorsichtig hielt er sie am Ellenbogen fest – sie um die Hüfte zu fassen, wagte er noch nicht – und führte sie ins Innere von Palast Lue. »Felix M’nao. Ich war der oberste Kammerknecht von Lord Gero und Ihr Verlust trifft mich tief. Schließlich stand ich ihm sehr nahe und war an seiner Seite, als er plötzlich starb.«
Sie atmete tief durch, lehnte ihren Kopf an ihn. »Wie ist er gestorben?«
»Eine Unverträglichkeit. Haben Lady Alixena gewusst, dass Lord Gero keine Nüsse essen kann? Er hat von einer Erdnuss genascht.« Von einer, die er unter das feinkörnige Teepulver gemischt hatte. Aber natürlich hatte man neben dem Toten eine Schale Erdnüsse gefunden.
»Nein, das wusste ich nicht. Ich wusste, dass er keine Bohnen essen darf. Aber Erdnüsse? Das ist mir neu.« Sie drohte fast zu stolpern und Tränen schimmerten in ihren Augen.
Felix konnte sich nicht vorstellen, wie diese schwache Frau in der Lage sein sollte, Krieg zu führen. So sentimental, wie sie auf den Tod ihres Lords reagierte, konnte sie unmöglich hart genug sein, um Menschen zu töten. Sie machte es ihm geradezu lächerlich leicht.
»Ich habe mir die größte Mühe gegeben, ihm einen Abschied zu geben, der in Erinnerung bleiben wird. Wollen Lady Alixena ihn vor der Zeremonie sehen?«
Lady Alixena richtete sich gerade auf. »Ja. Aber zuerst möchte ich meinen Sohn sehen. Wo ist er?«
»Er ist bei mir. Gehen wir.« Es war gut, dass sie in sein Zimmer kommen wollte. So konnte er ihr Gesicht unauffällig von Narzissa betrachten lassen. Wer wusste schon, wofür das nützlich sein mochte?
5. Alixena
Bei dem Gedanken an den Anblick des toten Gero erschauerte sie. Solange sie ihn nicht mit ihren eigenen Augen gesehen und mit ihren eigenen Händen berührt hatte, solange sie nicht seine Stirn geküsst und ihre eisige Kälte geschmeckt hatte, solange war er noch nicht wirklich vergangen, so lange konnte sie noch auf ein Wunder hoffen. Auf eine Täuschung. Obgleich ihr bewusst war, dass es nicht passieren würde, hoffte sie, er würde zu ihr treten und gestehen, dass ihr nur ein böser Streich gespielt worden war.
Bevor sie dem Toten gegenübertreten konnte, musste Alixena Dario sehen, sich vergewissern, dass er unversehrt war.
Sie eilte die alten Stufen des Schlosses hinauf, Stufen aus grauen Beton, an einigen Stellen notdürftig mit Plastik ausgebessert, sodass man die verrosteten Stahlgerüste darunter erkennen konnte. Fast musste sie sich zwingen, sich zurückzuhalten, um Felix’ Räume nicht vor ihm zu betreten. Das wäre selbst für eine Warlady ungehörig gewesen.
Eine Ecke des Raumes war mit langen Tüchern verhängt. Vermutlich zog es von dort.
Aus den Augenwinkeln sah sie etwas aufblitzen. Hortete Felix dort seinen Schmuck oder sparte er auf eine Rüstung? Sie könnte es ihm nicht verdenken.
Ohne eine ordentliche Rüstung war es schwer, sich außerhalb von Behausungen oder Dampfmobilen aufzuhalten, aber Rüstungen waren teuer. Sie verschlangen Metall, Plastik, Drähte, Schmieröl, Membranen – Unmengen an Ressourcen, die begrenzt waren. So wie alles auf der Erde begrenzt war seit der großen Dunkelheit. Alixena schloss die Augen für einen Augenblick und sah wieder die drückende Finsternis ihrer Kindheit, spürte wieder die aschengraue Kälte auf ihrer Haut, welche Aufenthalte im Freien zu einer Tortur gemacht hatte. Den Regen, der schmeckte, als hätte sie eine Batterie abgeleckt und von dem sie einen seltsamen Ausschlag bekam, als sie einmal heimlich in den Pfützen herumgesprungen war.
Manchmal gab es sogar Schnee, der Kinder krank machte. So viele waren gestorben.
Und nun hatte sie auch Gero verloren. Gero, mit dem zusammen sie diese Zeit überlebt hatte. Mit dem sie alle Widrigkeiten irgendwie überstehen konnte, weil allein seine Anwesenheit alles erträglich machte. Die Kriege, den Hunger, die Kälte. Später die Hitze und die Kämpfe um alles, was gegen diese schützte.
Ohne ihn fühlte sie sich unvollständig und schutzlos. Aber sie hatte immer noch einen winzigen Teil von ihm: Dario.
Sie stolperte auf seine Wiege zu, nahm ihn heraus und brach neben Felix’ Bett zusammen, den Säugling eng an sich gedrückt. Ihr Kind war ihr geblieben, ihr gemeinsames Kind. Ihr Sohn, der etwas von Gero in sich trug, etwas von ihrer Vergangenheit. Saurer Regen auf Kinderhaut. Eine Vergangenheit, die sich niemals wiederholen durfte, solange sie lebte und darüber hinaus. Das war sie ihm schuldig – und allen anderen Menschen in ihrem Einflussbereich. Schluchzer schüttelten ihren Körper und Alixena spürte heiße Scham über ihre Schwäche. Sie war eine Warlady. Sie musste diese Emotionen im Zaum halten. Irgendwie. Aber sie konnte nicht.
Warme Hände legten sich auf ihre Oberarme und sie spürte, wie jemand sie vorsichtig festhielt. Felix. Er gab ihr Halt.
Sie zog die Nase hoch, legte Dario vorsichtig auf das Bett und wischte sich mit dem Arm über die Augen. »Es tut mir leid. Dieser Ausbruch … Ich hätte nicht …«
»Es ist gut, Mylady. Sie geht sich besser erfrischen, ich habe bereits die Zofen rufen lassen. Die Zeremonie des Abschieds ist nach dem Mittagsmahl. Ich hätte gerne mehr Zeit gelassen, aber die Hitze … Mylady versteht.«
»Ja. Ich verstehe.« Natürlich. Sie hatten nur begrenzte Möglichkeiten, Geros Körper zu kühlen. »Ich werde mich meines Ranges entsprechend verhalten.« Sie nahm ihr Kind wieder an sich und ging hoch erhobenen Hauptes in die angrenzenden Räume – die, die sie mit Gero geteilt hatte. Die, in denen alles sie an ihn erinnern würde, selbst die drei jungen Frauen, die mit demütig gesenkten Köpfen darauf warteten, sie nach der langen Reise zu versorgen.
Sie musste stark sein. Geros Reise war eine viel längere, und sie hatte ihn an ihrem Beginn zu begleiten.
Sobald die Sonne endgültig untergegangen war