Neeltje - Kirschenmund. Swantje van Leeuwen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Swantje van Leeuwen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750200814
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erstaunlich großen und hellen Raum führte. All ihren Mut zusammennehmend trat sie in die herrschende Stille.

      *

      »Ah, Vrouw Timmermans, neem ik aan?[11]«

      Neeltje wäre beinahe aus der Haut gesprungen, als sie die dröhnende Stimme vernahm, die sie anrief. Wie erstarrt blieb sie stehen.

      »Kom op, Meisje! ... Kom op! Ik ben Folpert van Haastrecht. Maar je kunt me Folpert noemen, als je dat liever hebt. Mijn woord erop: Je ziet eruit, alsof je een geest hebt gezien! Gaat het, mijn liefste?[12]«

      Neeltje versuchte ihre Atmung zu kontrollieren. Sie spürte, wie ihr Puls pochte und fühlte, wie ihr ganzer Körper leicht zu zittern anfing. »Ich ...«, setzte sie an. »Es tut mir leid. Ich bin nur völlig durcheinander.« Damit hatte sie einen Moment Zeit gewonnen, um ihre Umgebung eingehender zu betrachten. Sie war überrascht, denn in dem Raum fanden sich unzählige Schneiderpuppen, hunderte Stoffballen und mehrere große Tische, auf denen halbfertige Kleidungsstücke lagen. Richtig sprachlos machte sie aber Folpert van Haastrecht, der in der Mitte des Ganzen stand – ein stark übergewichtiger Mann mit rotem Gesicht, der sie, mit seinem rötlichen Haar und Vollbart, mehr an einen gebürtigen Schotten erinnerte und so gar nichts von einem Holländer an sich hatte. Zu seinem, dem Körperumfang geschuldeten, voluminösen Anzug trug er eine bunte, kreischende Krawatte.

      »Vielleicht kann ich dich für eine beruhigende Tasse Tee interessieren, mein süßes Kind? Du siehst mir so aus, als könntest du eine vertragen ... Of heb je liever iets sterkers?[13]« Bei seiner abschließenden Frage hob sich seine Stimme hoffnungsvoll, und er schien ein wenig enttäuscht zu sein, als sie ablehnend ihren Kopf schüttelte.

      »Bedankt. Ik ben in orde.[14]«

      »Nun, vermutlich hast du damit recht, Meisje«, lächelte er. »So früh am Tag sollte man wohl noch keine Trankopfer zelebrieren, nicht wahr? ... Aber ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich eines bringe.« Er zuckte kurz mit den Achseln. »Ich habe leider nie gelernt, dem Ruf eines guten Schlucks zu widerstehen.« Ein musternder Blick folgte. »Dein überraschter Ausdruck lässt mich vermuten, dass Hergen es wohl versäumt hat, dir zu sagen, warum er dich in mein bescheidenes Atelier geschickt hat, nicht wahr?«

      Neeltje nickte. »Ik heb geen flauw idee.[15]«, erwiderte sie bestätigend.

      »Hm, dachte ich mir«, murmelte Folpert und grinste vielsagend. »Hergen war schon immer ein Ausbund an Diskretion ... Nun, ich könnte hinzufügen, dass dies keine unerwünschte Eigenschaft im Umgang mit jemandem meines Berufs ist.«

      Verwirrt schüttelte Neeltje den Kopf. »Es tut mir leid, wenn Sie es als unhöflich empfinden. Aber könnten Sie mir bitte erklären, warum er mich zu Ihnen geschickt hat. Diese befremdliche Geheimnistuerei ist ein bisschen viel für mich.«

      Folpert lächelte warm und schenkte sich aus einer Karaffe ein großes Glas Rotwein ein. »Natuurlijk, Meisje, natuurlijk![16] Entschuldige bitte das Geschwätz eines alten Trunkenboldes.« Er machte eine halbkreisförmige Armbewegung mit der Hand, in der er das Glas hielt. »Wie du siehst, bin ich ein Künstler ... Meine Leinwand ist der menschliche Körper. Ich schaffe sehr spezielle Werke für noch sehr viel speziellere Kunden, meine Liebe.«

      »Von denen Hergen einer ist?«, fragte sie halblaut nach.

      »Von denen unser gemeinsamer Freund Hergen de Fries einer der leidenschaftlichsten und hingebungsvollsten ist, oh ja«, lächelte er breit. Dann bewegte er sich im Raum wie ein Schiff unter Vollsegel und verschüttete jedes Mal etwas von seinem Wein auf dem glänzenden Holzfußboden, wenn er leicht seine Richtung änderte.

      »Was sind das für spezielle Werke?«, wollte sie wissen, während sie ihm mit den Augen neugierig folgte. Ihr gefiel nicht, was sie im Subtext zu verstehen meinte.

      »Oh, meine Liebe, es sind sehr spezielle, glaub' mir«, schmunzelte der Übergewichtige und nippte an seinem Glas. »Ich entwerfe besondere Kleidung für jeden Geschmack, und unser gemeinsamer Freund hat diesbezüglich sehr ausgefallene Wünsche und extrem hohe Anforderungen an deren perfekter Ausführung.« Er wankte zu einem Regal im Hintergrund. »Wie du feststellen wirst, kann ich eine Reihe interessanter ›Features‹ ins ›Outfit‹ integrieren, das du bequem und völlig unauffällig auf der Straße tragen kannst, ... ohne unerwünschte Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen.« Er leerte sein Glas und wollte sich noch einmal nachschenken. »Möchtest du sehen, was ich für dich angefertigt habe?«

      »Ze hebben een outfit voor me gemaakt[17]?«, reagierte sie erstaunt und verwundert zugleich.

      »Ja, habe ich.«

      »Maar hoe weet je mijn kledingmaat?[18]«

      Ein wissendes Lächeln umspielte die schmalen Lippen seines geröteten Gesichts. »Ich kann dich beruhigen, Meisje. Es wird alles perfekt passen. Unser Freund hat zusammen mit seinen profitableren Talenten ein exzellentes Auge für Konfektionsmaße.« Er lachte kurz auf. »Ich sage ihm immer, er hätte Schneider werden sollen.« Er seufzte. »Nun, er hat wohl den lukrativeren Berufsweg eingeschlagen. Aber dem Handwerk ist damit ganz sicher ein hervorragender Designer und Schneider verloren gegangen. Ein echter Jammer.« Folpert warf ihr einen auffordernden Blick zu. »Komm' mit, meine entzückende ›Amuse Bouche[19]. Gestatte mir, dir meine neueste Kreation vorzustellen.«

      Neeltje verfolgte, wie Folpert durch den Raum wankte, als würde er von der Ebbe ins Meer hinausgezogen, und sich gegen die Tische lehnte, während er sich bewegte. Als er schließlich im hinteren Teil des Raumes eine schlanke Schneiderpuppe erreichte, riss er theatralisch das darüber ausgebreitete Tuch herunter.

      »Voilà!«, rief er ihr grinsend auf Französisch zu. »Na, was sagst du dazu?«

      Neeltje wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber das was er ihr gerade zeigte war es bestimmt nicht.

      Folpert hatte die Schaufensterpuppe angezogen.

      Na ja, es ist halt ein Anzug, dachte sie still. Zweifellos ein sehr schöner und von einer Qualität, die alles übersteigt, was ich jemals getragen habe. Aber so besonders ist er ja nun auch nicht, dass er ein solches dramatisches Aufhebens darum macht. »Er ist wirklich nett, ... sehr schön«, bemerkte sie vorsichtig, sah aber an Folperts Gesichtsausdruck, dass er mit einer sehr viel stärkeren Reaktion ihrerseits gerechnet hatte.

      »Nett?! Sehr schön?! ... Aber Meisje, das ist meine Mona Lisa!« Er warf ihr einen funkelnden Blick des Missfallens zu. »Vor dir steht der Leonardo da Vinci der textilen Renaissance! Jedes Stück ist die fantastische Geburt einer speziellen Idee ... Nett?!« Er zeigte ihr ein gekünsteltes Schmollen, und erst nachdem er einen Schluck Wein getrunken hatte, fuhr er fort. »Ich bin der Alberti, Donatello, Botticelli, Bramante, Raffael, Michelangelo und Tizian der Fetischmode! Nett?! ... Pah!« Er hatte seine Arme nach oben gerissen, während er sich all der Namen brüstete. »Nenn' mich Dante Alighieri, denn in meinen Modeschöpfungen erleidet die Trägerin die sieben Höllen unendlicher Lust! ... Oh ja, denn damit wird es eine ›Divina Commedia‹, oder besser: eine ›Orgiastische Komödie‹!« Er beruhigte sich ein wenig, was seinem eh schon sichtlich erhöhten Blutdruck ganz bestimmt nicht abträglich war, und strich zärtlich, ja fast schon verliebt, über seine kostbare Kreation. »Das ... das hier ist wunderschön! ... Schau', probier' es an und dann wage es, mir noch einmal zu sagen, dass es einfach nur nett ist!« Mit dem beleidigten Gesicht einer exzentrischen Diva sah er zu ihr herüber.

      Verlegen sah Neeltje zu Boden, als er die Puppe zu entkleiden begann.

      »Nett?! Tse, tse, tse ...«, brummte er schwer atmend vor sich hin. »Ich werde dir jetzt das verdammt Schönste und Ausgefallenste zeigen, was du jemals gesehen hast, du unwissendes, nichts ahnendes, dummes Ding!« Eine wegwerfende, verächtliche Handbewegung kam untermalend, aber unmissverständlich hinzu.

      Erst als er der Puppe das Outfit ausgezogen hatte, verstand sie seine heftige Reaktion.