Die Kinder des Clavierbauers. Sabine Baumert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabine Baumert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742728531
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bekommen. Als junge Frau durfte sie nie offiziell in der Werkstatt des Vaters mithelfen. Deshalb hatte sie ihr gutes Auge für Formen auf eine typisch weibliche Art umgesetzt, gegen die niemand etwas haben konnte. Sie hütete wie einen Schatz ein altes Schulheft von Johann, in dem ein paar Seiten frei geblieben waren. Obwohl Papier knapp war, hatte sie es geschafft, das Heft nach Johanns Schulabschluss an sich zu bringen, so dass niemand davon wusste. Dort zeichnete sie heimlich Schnittmuster-Entwürfe für Kleidungsstücke und Stickmuster für deren Verzierung auf.

      Zunächst hatte sie Blusen und Röcke für die kleine Anna entworfen, die Kleider hasste und am liebsten in einem Arbeitskittel und Hosen herumgelaufen wäre, wie das ihr Vater und Johann taten. Aber das kam natürlich nicht in Frage. Deshalb entwarf Magdalena Kleidung für ihre geliebte kleine Schwester, die gerade noch den Anforderungen an Mädchenkleidung genügte und Anna trotzdem gefiel. Die Mutter war immer ganz stolz, wenn sie Magdalena abends beim Nähen und Sticken zusah. Inzwischen hatte es sich im Ort herumgesprochen, dass man bei Familie Harrass nicht nur Instrumente, sondern auch schöne Kleidung in Auftrag geben konnte, die sonst keiner so hatte. Natürlich konnten sich das die Bewohner des kleinen thüringischen Ortes nur selten leisten. Aber Magdalena konnte auch Alltagskleidung mit ein paar Kniffen so abändern, dass Kleidungsstücke fast wie neu wirkten. Trotz ihrer jungen Jahre konnte sie so die Familienkasse stetig aufbessern, denn solche Aufträge kamen viel regelmäßiger herein als Anfragen wegen eines neuen Instrumentes.

      Magdalena hatte noch einen anderen Grund, sich weit weg zu wünschen. Immer öfter kam Tobias, der Sohn eines Instrumentenbauers aus dem Dorf, bei Familie Harrass vorbei. Er fand immer wieder Gründe, Magdalena zu sehen. Die war von dessen Aufmerksamkeiten allerdings wenig begeistert. Sie konnte ihn einfach nicht leiden und seine zänkische Mutter noch weniger. Sie wagte nicht an eine Zeit zu denken, in der sie mit dieser Frau unter einem Dach leben müsste. Ihr Vater wäre von einer solchen Verbindung ganz begeistert gewesen, denn Tobias´ Vater baute zwar nicht so hochwertige Instrumente, dafür aber preisgünstigere, die er schneller fertig stellte. Bei ihm kamen öfter Aufträge ins Haus als bei der Werkstatt von Harrass, deshalb war die Familie finanziell auch um einiges besser gestellt.

      Die Mutter wusste zwar nichts von der Verlobung ihres Ältesten, aber sie kannte und liebte ihre Kinder und konnte sich sehr gut vorstellen, was gerade in den beiden vorging. Wenn Magdalena nur kein Mädchen wäre! Sie würde sich mit Begeisterung auf die Reise machen und von dort wichtige Erkenntnisse für ihr eigenes Leben mitbringen, nicht nur eine unliebsame Pflichtreise für den Vater erfüllen, die sie von sich aus nie gemacht hätte.

      Anna, geradeaus wie immer und mit der Unbefangenheit ihrer jungen Jahre, stellte die Frage, die ihre großen Geschwister sicher nicht stellen wollten. „Vater, dürfen wir jetzt alle nach Hamburg reisen und uns die Stadt anschauen?“

      Johann Heinrich schaute wehmütig vor sich hin und sagte: „Ach Kind, du kannst mir glauben, es gibt nichts, was ich lieber täte! Ich wünsche mir so sehr, auch einmal etwas von der Welt sehen zu können Mein Vater ist ja schon so früh gestorben. Ich hatte gar keine Wahl, als Ältester musste ich die Werkstatt übernehmen. Versteht mich nicht falsch, ich liebe meinen Beruf, aber ich hätte so gern einmal Anregungen von woanders bekommen.“

      „Anna, so eine weite Reise könnten wir uns gar nicht leisten. Außerdem muss doch immer jemand in der Werkstatt sein, wenn Nachfragen kommen. Und die Gänse und die Hühner brauchen schließlich auch ihr Futter. Dafür darfst du heute etwas länger aufbleiben und uns Erwachsenen zuhören.“

      „Die Mutter hat es ja schon gesagt.“ Johann Heinrich sah seine Frau liebevoll an. „Sie denkt immer so praktisch. Ohne sie wäre ich mit meiner Werkstatt sicher schon lange pleite. Nein, wir können nur einen von uns nach Hamburg schicken. Das wird natürlich Johann sein. Ich beneide dich so sehr, mein Sohn. Wie gern würde ich mitkommen. Aber ich muss hier schon mit der Arbeit für den Herrn Bach beginnen. Ich weiß, du wirst mich in Hamburg hervorragend vertreten.“

      Vater Harrass konnte zwar sehr streng sein, aber seine Kinder wussten, wie sehr er sie im Grunde alle liebte. Deshalb antwortete Johann ganz offen. „Vater und Mutter, ihr kennt mich gut. Sicher könnt ihr euch vorstellen, dass ich nicht gern von hier weggehe. Meine Heimat ist hier in Großbreitenbach, ich gehöre in diese Familie, die ich liebe. Aber natürlich kenne ich meine Pflichten und werde den Auftrag so gut ich es irgend vermag erfüllen.“

      „Wir wissen, was wir dir damit zumuten“, wandte der Vater sich an seinen Sohn. „Ich wusste, dass du mich nicht im Stich lassen würdest. Und bedenke- du wirst nur für einige Wochen weg sein, und du kommst nicht zu ganz fremden Leuten. Der Herr Bach hat versprochen, an den Clavierbauer in Hamburg zu schreiben, dass du kommst. Er sagte, die Familie sei sehr freundlich. Er kennt sie ja schließlich schon. Bach kann übrigens nicht selbst noch einmal nach Hamburg reisen. Das wäre ja am einfachsten gewesen. Aber er hat schon beim letzten Mal viel länger Urlaub genommen, als er das eigentlich durfte. Um ein Haar hätte er seine Stelle verloren. Der muss jetzt brav in Arnstadt seinen Dienst verrichten.“

      „Sieh es doch mal so, Johann, eigentlich ist es eine Ehre, dass du bis nach Hamburg reisen darfst. Die anderen in Großbreitenbach werden sicher schon ganz neidisch sein. Ich habe mir übrigens überlegt, dass du mit einem unserer Buckelapotheker mitreisen könntest. Von denen geht sicher in nächster Zeit mal einer in Richtung Norden. Morgen auf dem Markt treffe ich sicher eine ihrer Frauen, die frage ich gleich“, meinte die Mutter. „Und jetzt auf ins Bett, alle miteinander, wir haben viel vor in nächster Zeit!“

      Auf dem Markt und in der Werkstatt

      Anna war in der Schule, der Vater und Johann in der Werkstatt und Magdalena mit den Vorbereitungen zum Mittagessen beschäftigt. Gelegenheit für Mutter Harrass, auf dem Markt mit anderen Frauen ins Gespräch zu kommen. Die Waren der Markthändler waren auch immer interessant anzuschauen. Insgesamt blieb die Familie Harrass gern unter sich, denn alle wussten sich selbstständig Arbeit in Haus und Garten zu suchen, und sie machten alle nicht gern viele Worte. Vater Harrass war in dieser Hinsicht besonders schweigsam, Anna die Lebhafteste mit der größten Leidenschaft fürs Geschichten-Erzählen und mit dem größten Freundeskreis.

      Obwohl die Familie Harrass sich auch weitgehend selbst versorgen konnte – es gab Eier von den Hühnern, Federn von den manchmal kämpferischen Gänsen, Milch von der Ziege hinten im Hof und Gemüse aus dem nahen Garten- gab es auf dem Markt manchmal schöne Stoffe zu kaufen. Auch den Vorrat an heilsamen Kräutertinkturen musste Mutter Harrass auffrischen. Im Winter hatte doch manches Familienmitglied mit Husten zu kämpfen gehabt. Anna schien dafür besonders anfällig zu sein. Bei dieser Gelegenheit wollte sie mit einer der Frauen eines Buckelapothekers sprechen und hoffte, dabei gleich eine Mitreisegelegenheit für Johann zu finden. Außerdem hatte Magdalena ihrer Mutter versprochen, ihr einen schönen Rock zu nähen. Die Mutter meinte aber doch, bei der Näharbeit könne sie gut das meiste selbst machen. Magdalena sollte dann lieber den Stoff zuschneiden, denn sie hatte sich schon einen ganz besonderen Schnitt ausgedacht und eine schöne Stickerei für den Saum. Gleich vorn am Markt war ein Stoffhändler, der nur selten in den Ort kam. „Schöne Stoffe, direkt aus Holland“, pries er seine Ware an. Marie Harrass trat neugierig näher. Ganz vorne lag ein Ballen Stoff, mit kleinen Quadraten in Hell- und Dunkelblau. Das ist er, dachte sie glücklich. Magdalenas Stickerei würde sich darauf hervorragend machen, und sie hätte nicht so viel Arbeit mit den Zählmustern wie früher in der Schule bei dem Stickmustertuch, das sie dort anfertigen musste.

      Zum Glück habe ich einen guten Mann, dachte Marie glücklich. Sie hatte schüchtern bei ihm angefragt, ob sie vielleicht einen kleinen Teil des Vorschusses von Johann Sebastian Bach für einen neuen Rock für sich verwenden könne. „Natürlich, meine liebe Frau“, hatte er gesagt. „Du hast es dir verdient, dir von dem Geld auch etwas Schönes zu gönnen.“ Andere Frauen hatten mit ihren Ehemännern nicht so viel Glück, das wusste Marie genau. Die hätten den Vorschuss gleich im Wirtshaus vertrunken, und die Familie hätte von dem Geld überhaupt nichts gehabt. Marie wollte ihrem Johann aber auch zeigen, dass sie ihr Geld nicht verschleuderte. Vielmehr feilschte sie hart mit dem Händler um den Preis des Stoffes, bis er schließlich jammerte, er werde am Abend nicht zu essen haben, weil er ihr die