"Nein, Rupert, meine Eltern sitzen in Arequipa im Gefängnis. Der offizielle Grund ist, dass man ihnen vorgeworfen hat, sie hätten mit Drogen gehandelt. Tatsächlich wurden sie verhaftet, weil man ihnen vorwarf, sie hätten mit dem `Leuchtenden Pfad´ sympathisiert. Sie waren beide Lehrer, waren politisch engagiert, engagierten sich sozial. Das passte nicht ins System. Es war schrecklich, als sie abgeholt wurden."
Roxana hatte jetzt Tränen in den Augen.
"Ich habe einen jüngeren Bruder, Gabriel, der in einer Landwirtschaftsgenossenschaft arbeitet. Er war damals noch klein, gerade zehn! Er hat so entsetzlich geweint, als sie ihn wegschleppten! Ich war schon sechzehn und wurde zu Verwandten nach Lima geschickt. Wir haben monatelang versucht, etwas über den Verbleib Gabriels herauszufinden. Es hat fast ein Jahr gedauert, bis wir herausfanden, dass man ihn in diese Genossenschaft gesteckt hatte. Da war eine kinderlose Frau, die sich um ihn gekümmert hat. Er wollte dann auch von dort nicht fort, und wir wollten ihn nicht zwingen. Ich besuche ihn oder er besucht mich von Zeit zu Zeit."
"Und deine Eltern?" fragte Graf.
"Sie sind beide zu zwanzig Jahren Haft verurteilt worden. Der Prozess war reine Farce! Als sie verhaftet wurden, hatten sie plötzlich einige Päckchen Kokain in den Taschen. Meine Eltern! Sie waren so anständige Leute!"
Jetzt rannen Tränen über Roxanas Gesicht.
Graf nahm sie in den Arm. Sie klammerte sich an ihn.
Sie schluckte.
"Meine Eltern sind sehr religiöse Menschen. Sie versuchten, uns moralische und ethische Grundsätze zu vermitteln und uns Vorbild zu sein. Sie kümmerten sich um Kinder aus armen Familien, sie gaben ihnen umsonst Unterricht. Mein Vater war von morgens bis abends auf den Beinen, er unterrichtete selbst noch am späten Abend. Dann kamen die Indios, die tagsüber arbeiteten. Er brachte ihnen Spanisch Lesen und Schreiben bei. Es war unvermeidlich, dass dabei auch sozialpolitische Themen angesprochen wurden."
Roxana schluchzte jetzt wie ein kleines Kind.
"Mein Vater hat nicht mal gewusst, wie Kokain überhaupt aussieht!"
Graf streichelte ihr über den Rücken.
"Und, hast du Kontakt zu deinen Eltern?"
"Ich durfte sie fünf Jahre lang nicht besuchen. Ich habe sie kaum wiedererkannt, als ich sie sah. Sie sind in getrennten Gefängnissen. Es war entsetzlich!"
Sie hatte Mühe, zwischen ihren Schluchzern Luft zu holen.
"Verwandte von mir aus Arequipa gehen regelmäßig hin. Mein Bruder jetzt auch. Ich schicke Geld, damit Gabriel und meine Tanten Lebensmittel für meine Eltern kaufen können. Die Behandlung in peruanischen Gefängnissen ist keine Kur. Beide verdienen sich etwas dazu, indem sie Wärtern und Gefangenen Unterricht geben."
Sie holte tief Luft.
"Und weißt du, was das Traurigste war? Als ich meinen Vater wiedersah, nach fünf Jahren, da fragt der mich doch tatsächlich: `Mein Kind, hast du dir deine Unberührtheit bewahren können?` Wir konnten uns durch den Maschendraht gerade mal an den Fingerspitzen berühren, ich hab geheult wie ein Schlosshund, und der hatte nichts anderes im Kopf, als dass ich noch jungfräulich wäre! Er hatte gesehen, dass ich noch unverheiratet war, und dass ich dann jungfräulich zu sein hatte, entsprach seinen religiösen und moralischen Vorstellungen! Der arme Kerl, sitzt da in strengster Haft und zerbricht sich den Kopf, ob seine erwachsene Tochter unter die Räder gekommen ist!"
Sie schluchzte. Als sie zu Graf aufsah, war ihr Gesicht tränenüberströmt.
Graf war etwas hilflos in dieser Situation.
Er nahm Roxana fest in den Arm und drückte sie. Wahrscheinlich war es das Beste, den Mund zu halten!
"Ich war aber schon nicht mehr jungfräulich!" sagte Roxana mit einem trotzigen Unterton in der Stimme. "Meine Jungfräulichkeit wurde ich los, als mich drei Polizisten nach Lima überführten, um mich bei meinem Onkel abzuliefern!"
Sie hielt Graf weiter umklammert.
Der hatte angefangen, mit seinem Zeigefinger ihren Nacken zu streicheln, und fuhr im Inneren ihres Blusenkragens herum. Das schien sie zu beruhigen. Zumindest hörte sie auf, zu weinen. Ihr Atem wurde wieder langsamer, und er merkte, wie sie unter diesem Streicheln leicht erschauerte.
Sie hob ihren Kopf zu ihm auf und begann, Graf langsam, aber immer intensiver, zu küssen.
---
Garcia war ratlos.
Er hatte nicht mitbekommen, als die Gruppe um Graf die Rechnung bezahlt hatte.
Plötzlich waren alle aufgestanden und hatten das Restaurant verlassen. Bis er gezahlt hatte und hinterhergehen konnte, waren sie verschwunden. Er war über die Treppe in die Hotelhalle gelaufen, hatte in die Bar gesehen, aber weder Fernandez noch Graf noch Kinzel entdecken können.
Garcia war nach draußen gestürzt und hatte die Ausfahrt der Hotelgarage im Auge behalten. Nach wenigen Augenblicken waren sowohl Kinzels Mercedes als auch Fernandez´ schwarzer BMW die Auffahrt heraufgekommen und hatten sich in den abendlichen Verkehr eingefädelt.
In beiden Autos hatten jeweils nur zwei Personen gesessen.
Garcia ging zurück in die Bar. Er war sicher, dass Graf noch im Hotel war. Er rechnete damit, dass Graf nochmal an die Bar kommen würde, um noch etwas zu Trinken.
Es war gerade halb elf Uhr abends.
Er bestellte noch einen Whisky.
---
Während Roxana im Bad zugange war, überlegte Graf, was er mit dieser jungen Frau machen sollte. Das Vernünftigste schien, sie so schnell wie möglich wieder los zu werden.
In diesem Moment klingelte das Telefon.
Er hob ab.
"Erkennen Sie meine Stimme? Wenn ja, dann begrüßen Sie mich jetzt nicht mit Namen oder Titel!"
Graf war sich nicht sicher.
"Wir haben heute miteinander gesprochen?"
"Ich habe Sie aufgefordert, nicht so verdammt höflich zu sein! Haben Sie ein Auto? Wenn nicht, besorgen Sie sich eins. In einer halben Stunde steht auf der Avenida Javier Prado, hundert Meter von der Avenida Arequipa aus in östlicher Fahrtrichtung ein gelber Toyota, bei dem ein Rücklicht defekt ist. Sobald Sie dieses Fahrzeug sehen, blinken Sie es an und folgen Sie dann diesem Fahrzeug!"
Es wurde aufgelegt.
Graf klopfte an die Badezimmertür.
"Komm ruhig rein!" rief Roxana von drinnen.
Sie war gerade dabei, in einen der weißen Frotteebademäntel zu schlüpfen und sah zum Anbeißen aus.
Er nahm sie in den Arm.
"Roxana, ich muss noch mal weg. Ich weiß nicht genau, wohin. Erst mal zu einer Avenida Javier Prado."
Sie war überrascht. Eigentlich hatte sie gehofft, jetzt zu Rupert ins Bett kriechen und sich an ihn schmiegen zu können.
"Noch mal weg?" fragte sie.
"Ja, ich hatte gerade einen Anruf. Ich muss noch zu einem Gespräch. Ich nehme einen Wagen vom Hotel."
"Nein, ich fahre dich! Hauptsache, wir sind zusammen. Ich ziehe mir eben was an."
---
Oberst Carlos Garcia hoffte, dass ihm der Kellner noch ein weiteres Schälchen mit Chips und Erdnüssen hinsetzen würde. Zwei hatte er schon leergegessen, er hatte Hunger!
In dem Moment betrat Graf die Hotelbar und stellte sich an die Theke.
Der Barkeeper goss Graf ein Glas Weißwein ein, ohne dass Gracia hätte sehen können, dass Graf es bestellt hätte.
Graf machte eine Bemerkung zu dem Barkeeper. Der lachte und schob Graf einen Teller mit Häppchen zu.
Garcia beobachtete Graf.