TANZFLUR MASTER. Mave O'Rick. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mave O'Rick
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738044638
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habe, draußen etwas zu verpassen. So kann ich mich dem Elend zu 100 % hingeben. Herrlich. Die Berichterstattung zu Michael Jacksons Tod hatte mich damals genervt, denn die passierte sehr spät abends nach mitteleuropäischer Zeit und ich musste tags darauf arbeiten. 9/11 hingegen war perfekt getimt, da hatte ich gerade zwei Tage frei.

      Aber da bin ich schon wieder vom eigentlichen Thema abgedriftet. Am Montag war so ein perfekter Tag, an dem zuvor Michael Jackson gerne hätte sterben dürfen, denn ich hatte frei. Ich war auf dem Weg zu Boritz.

      Boritz ist mein bester Freund und ich wollte kurz auf einen Kaffee bei ihm vorbeischauen und ein paar Dinge bereden. Boritz ist selbständiger „Was-weiß-ich“; er macht Webseiten und plant Strategien für andere Selbständige. Deswegen hat er montagnachmittags Zeit genug, mich zu empfangen. Boritz heißt wirklich Boritz. Ich habe das nicht geglaubt und mir seinen Personalausweis zeigen lassen, als wir uns kennenlernten, und da steht es: Boritz Schultze, geboren am 27. Juni 1988.

      Seine Mutter war ein riesengroßer Boris-Becker-Fan, kein Match ohne Mama Schultze. Bei den Australien Open wurde nachts TV geschaut und tagsüber vorgeschlafen, bei den French Open und Wimbledon wurden Freundinnen ausgeladen, die keine Lust auf Tennisglotzen hatten, und während der US Open gab es bereits um 17 Uhr Abendbrot, damit man in Ruhe danach loslegen konnte mit Tennis-Gucken.

      Der Vater von Boritz hatte als Kind die Geschichten von Max und Moritz vergöttert. Nachdem man den erstgeborenen Sohn Max nannte, also den sechs Jahre älteren Bruder von Boritz, sollte der Nachzügler natürlich Moritz heißen. Aber da hatte Papa Schultze die Rechnung ohne den Tennis-Gott und Liebling von Mama Schultze gemacht. Nach langem Streit musste ein Namens-Kompromiss her und man einigte sich tatsächlich auf die absurde Idee, den zweiten Sohn Boritz zu nennen. Warum das zuständige Einwohnermeldeamt – oder wer auch immer dafür zuständig war – diesen Namen dann auch noch bewilligte, bleibt mir ein ewiges Rätsel und wäre sicher Stoff für ein ganzes Kapitel eines eigenen Buches.

      Sei’s drum, Boritz Schultzes Loft war Ziel meines Sparzierganges am letzten Montagnachmittag, denn die Drogenbeschaffung für das kommenden Partywochenende plant sich besser zu zweit, und vor allem nicht von alleine.

      02 ING! ONG!

       live Samstagabend, 22.11.2014 – 23:37 Uhr

      „Ding! Dong!“ macht es an der Tür vom „Ing! Ong!“, als ich die Klingel am Eingang drücke. Boritz sprach mir gerade auf die Mailbox, dass er später komme, also gehe ich einfach schon mal alleine hinein und checke die Stimmung.

      Das „Ing! Ong!“ ist der Club, in dem wir regelmäßig unsere Samstagnacht verbringen. Es ist teilweise wie eine kleine Familie, denn man kommt dort nur hinein, wenn man den Türsteher kennt oder mit jemandem dort aufschlägt, der den Türsteher kennt, und selbst das ist dann noch keine Garantie, hinein zu kommen. Es gab nur ganz seltene Fälle, dass jemand neu und ohne Connection sein Glück versuchte und dann doch von Piotr den Eintritt ermöglicht bekam, der letzte Fall dürfte wohl ich selbst gewesen sein.

      Piotr kommt aus Polen und ist seit vier Jahren der Türsteher vom „Ing! Ong!“. Auf den ersten Blick wirkt Piotr aufgrund seiner Größe von nur 1,72 m nicht besonders durchsetzungsfähig oder gar angsteinflößend, aber wenn man weiß, dass er erhebliche Talente und Kenntnisse in sechs verschiedenen Kampfsportarten hat, einen Waffenschein besitzt und in vier Jahren 17 Menschen krankenhausreif geprügelt hat, dann überlegt man es sich zweimal, bevor man an der Tür vom „Ing! Ong!“ rumpöbelt oder gar Piotrs Anweisung missachtet.

      Mein klarer Vorteil in Sachen Türpolitik des „Ing! Ong!“ besteht darin, dass ich einen riesigen Stein im Brett bei Piotr habe, was wohl daran liegt, dass ich ein riesiges Schwein im Bett bei Piotr bin. Drogen machen interessante Sachen mit einem Menschen, und ab einem gewissen Punkt des Drogenexzesses ist es vollkommen egal, ob dir nun eine Tunte oder eine Bitch einen bläst. Piotr ist bedingungslos in mich verschossen, bei ihm war es Liebe auf den ersten Blick und so komme ich mittlerweile umsonst in den Laden. Dafür darf er mir ab und an den Verstand aus dem Schwanz blasen, ich finde, das ist ein fairer Deal.

      Das kleine Türfenster auf Kopfhöhe von Piotr geht auf, er sieht mich an, und das ehrliche Lächeln bringt eine irgendwie schizophrene Sanftheit in sein ansonsten sehr hartes slawisches Gesicht. Die Tür geht auf und ich trete ins Foyer, Piotr würde mir sicher am liebsten einen Kuss geben, aber keiner weiß, dass Piotr eine Tunte ist, zumindest gehe ich davon aus, dass das keiner weiß, und so ist ihm das sicher zu riskant. Mir wäre das ja total egal, wenn er mich begrüßte wie ein aufgeregtes pubertierendes Mädchen, denn ich weiß überhaupt nicht so genau, was ich wirklich bin, und ich denke darüber auch nicht nach, denn ich habe in diversen vollkommen übertriebenen Drogennächten alles gebumst, was zwei Beine hat, und mich würde es nicht wundern, wenn es in dem einen oder anderen Fall auch mal vier gewesen wären.

      Statt mir mit einem vorgetäuscht männlichen Handschlag Hallo zu sagen, wie das sonst so seine Art ist, nutzt Piotr die Gunst der Stunde meines alleinigen Erscheinens und begrüßt mich mit einem zielsicheren Griff zwischen meine Beine, denn auch Renate von der Kasse ist gerade nicht am Platz. Es scheint noch nicht so viel los zu sein, denn neben Piotr und mir befindet sich im Eingangsbereich nichts außer gähnender Leere, und so ergreift er seine Chance, mir unmissverständliche Avancen für die Nacht zu machen.

      Eine Garderobe gibt es nicht. Wer eine Jacke mitbringt, schmeißt sie einfach in die Ecke rechts neben der Eingangstür, 90 % der Gäste kommen eh ohne Jacke. Der Mix aus Drogen, den die meisten Clubbesucher hier intus haben, verhindert sowieso jegliches Empfinden für die eigene tatsächliche Körpertemperatur und die klimatischen Begebenheiten draußen. Am Ende der Party gehen alle nackter nach Hause, als sie kamen, und wer dennoch Angst hat, sich auf dem Weg nach Hause den Tod zu holen, greift eine der paar Jacken ab, die in der Ecke rechts neben dem Eingang bereit liegen. So ist es übrigens dazu gekommen, dass ich im Laufe der letzten Jahre eine beachtliche Sammlung von Jacken vorweisen kann – mit Jacken, die mir gar nicht gehören.

      Ansonsten gibt es im Foyer nur noch die Kasse mit der eben erwähnten, 68-jährigen Clubbesitzerin Renate, einen Bildschirm, der live das Geschehen auf der Tanzfläche überträgt, eine Tür zu den Toiletten und den Eingang in den Club in Form eines ca. zehn Meter langen, leicht abfallenden Ganges.

      Renate ist die unangefochtene Königin und Mutter des Nachtlebens dieser Stadt. Sie ist eine unglaublich herzliche und warme ältere Dame, die zugleich härter und kompromissloser sein kann als ein Profi-Boxer. Ist sie einem wohl gesonnen, so hat man ein leichtes Leben, wenn sie einen nicht mag, dann kann man sich eigentlich sofort eine neue Stadt suchen.

      Der Bildschirm im Foyer und die dazugehörige Kamera im Club hat Piotr einbauen lassen, um jederzeit die Situation im gesamten „Ing! Ong!“ unter Kontrolle zu haben. Ich glaube allerdings, dass er das nur hat installieren lassen, um mich zu beobachten. Man nennt Boritz und mich hier die Tanzflur-Master, weil wir in der Regel den kompletten Clubaufenthalt auf der Tanzfläche verbringen, und so hat Piotr immer die Möglichkeit, mich, seinen Schwarm, zu stalken. Mir macht das keine Angst, ich finde das im Gegenteil sogar sehr schmeichelhaft und es macht mich etwas geil.

      Der Gang ist auch gerade wie ausgestorben, ich bin aber auch selten so früh im „Ing! Ong!“. Ich hatte etwas Angst, dass die Drogen zu wirken anfangen, bevor ich hier bin, und bei all dem Scheiß, der sich bereits in meinem Körper darauf vorbereitet, Fasching zu feiern, war das sicher auch eine gute Entscheidung. Nur leider ist der Club gerade echt ein Trauerspiel. Die Musik, die aus dem Club in den Gang ballert, ist irgendwie auch noch nicht so das, worauf ich gerade Bock habe. Aber egal, kommt die Droge, dann kommt die Stimmung.

      Der Gang ist von allen Seiten mit diesen Metallplatten verkleidet, die man von den Seitenzugängen bei Karussellen und beim Autoscooter auf der Kirmes kennt. Die Bässe der Elektromucke lassen die Bleche im Sekundentakt krachen, so dass dieser Gang tatsächlich wie der Vorhof zur Hölle erscheint. Beleuchtet wird er nur durch ein paar Schwarzlichtbirnen, die Schuppen und Sperma auf dunkler Kleidung immer ganz besonders hübsch ins rechte Licht setzen, und von Letzterem fließt hier auch im Gang in besonders exzessiven Nächten einiges.

      Im Club selber