Träume, die im Meer versinken. Edda Blesgen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Edda Blesgen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847679158
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wieder aufmerksam, fast forschend, an. Ich mag mein Schwesterchen nicht, dachte Jürgen. Mama hat nur noch die Kleine lieb und übersieht mich einfach, besonders wenn sie, wie jetzt, schlecht gelaunt ist. Jürgen erschrak. Nein, solch ein hässliches Gefühl musste man ersticken, bevor es sich ausbreitete.

      Mama hatte gar keine schlechte Laune – viel schlimmer, erfuhr Jürgen abends, als er im Bett lag. Sein Reich befand sich gleich neben dem Wohnzimmer. Vor dem Einschlafen hörte er manchmal Gesprächsfetzen, ohne eigentlich zu lauschen. Meistens allerdings herrschte Schweigen zwischen den Eltern. Aus dem Fernsehgerät rieselten Volksmusik, politische Kommentare oder – meistens – Sportmeldungen. An diesem Abend hingegen redeten Mama und Papa miteinander.

      Mama: „Oma hat mir angeboten, Jürgen für den Rest der Sommerferien zu sich zu nehmen.“

      Papa: „Und? Wann?“

      Mama: „Übermorgen. Ich habe mit ihm allerdings noch nicht darüber gesprochen. Er wird wenig begeistert sein.“

      Jürgen war entrüstet. Mich fragt niemand. Wie ein Buch, das man verleiht, schickt man mich zu Oma. Dabei mag ich sie nicht leiden; Mama weiß das genau. Warum tut man mir das an? Das Argument, das er nach einer Weile aufschnappte, war schlimm für ihn:

      „Ich bin überlastet. Wenn der Junge fort ist, bedeutet das weniger Arbeit.“

      Empörend! Sie ließ mich immer in dem Glauben, ich sei ihr eine große Stütze, dachte Jürgen wutentbrannt. Aber ich wurde wie ein kleines Kind beschwindelt, welches sich unbedingt nützlich machen will, tatsächlich jedoch nur im Weg steht. Dabei habe ich Julia gefüttert, beim Wäscheaufhängen und -abnehmen geholfen, die Windeln gefaltet. Es machte mir Spaß, obwohl das nun wirklich keine Jungenarbeit ist und ich immer befürchtete, Stefan oder Ben könnten mich dabei erwischen und auslachen. Und nun behauptet Mama, ich störe nur.

      Jürgen fing an zu weinen, was lange nicht mehr vorgekommen war, vor lauter Zorn flossen die Tränen gegen seinen Willen. Da hörte er einen Satz, der ihn seinen Kummer, seinen Ärger, ja sogar sich selbst vergessen ließ.

      „Ich wünsche, ich wäre tot“, sagte Mama, „und Julia gleich mit mir.“ Jürgen wurde unendlich traurig, verzagt wie nie zuvor in seinem Leben. Ein dicker, eiskalter Klumpen saß in seinem Magen. Jetzt versiegten sogar vor Kummer seine Tränen.

      Jürgen erwachte am nächsten Morgen und fühlte sich – er wusste nicht warum – todunglücklich. Erst allmählich fiel ihm der Grund dafür wieder ein.

      „Dein Papa und ich haben etwas beschlossen“, teilte Mama mit. „Du gehst ab morgen bis zum Ende der Ferien zu Oma.“

      Jürgen nickte gehorsam. Mama hatte wahrscheinlich Rebellion und Trotz erwartet und atmete erleichtert auf, als er nicht widersprach, ohne sich zu fragen, warum der Junge so gefügig nachgab. Offensichtlich dachte sie längst wieder an etwas anderes.

      Jürgen saß am Tisch, Julia auf seinem Schoß und blätterte in dem schon unzählige Male von ihm gelesenen Robinson-Crusoe-Buch. Seine Nase steckte jedoch nur scheinbar interessiert zwischen den Seiten, stattdessen beobachtete er Mama aus den Augenwinkeln, die den Frühstückstisch leer räumte, spülte, Kartoffeln schälte, die gewohnten Arbeiten wie üblich verrichtete. Schlank, mit kurzgeschnittenen Haaren, sah sie, obwohl älter als die Mütter seiner Mitschüler, noch jugendlich aus. Ihr Gesicht kam ihm heute fremd vor. Ich wünsche, ich wäre tot, hatte Mama gesagt. Wie wenig kenne ich sie, grübelte Jürgen. Niemals habe ich etwas von ihren schwarzen Gedanken geahnt. Nicht einmal reden kann man mit ihr darüber. So wie sie kein Wort über Liebe oder Zuneigung sagt, verschweigt sie auch ihren Kummer. Aber vielleicht fällt es Mama schwer, über Gefühle mit mir zu sprechen, weil ich ein unerträgliches Kind bin, so schrecklich, dass sie meinetwegen sterben will? Sie hat doch schon öfters gesagt, wenn auch lachend, als wäre das ein Witz, ich sei ein Nagel an ihrem Sarg. Eine Träne lief jetzt über ihr Gesicht. Wahrscheinlich sind nur die Zwiebeln schuld, die sie soeben schneidet, versuchte Jürgen sich zu beruhigen.

      „Da steht ein schlimmer Artikel in der Zeitung“, brach Mama unerwartet ihr Schweigen und tippte auf die fettgedruckte Überschrift: Geistigbehinderter acht Jahre in Stall eingesperrt. Jürgen achtete kaum auf das, was seine Mutter sagte. Er atmete erleichtert auf; Mama mag mich doch, sonst würde sie nicht so freundlich mit mir sprechen.

      „Und so etwas geschieht im zwanzigsten Jahrhundert“, entrüstete sie sich und las den Artikel über den geistigbehinderten Jungen, der jahrelang von seinen Eltern in einem sechs Quadratmeter großen Schuppen auf dem Hinterhof versteckt gehalten wurde, laut vor. Die Polizei fand ihn völlig verschmutzt, abgemagert, frierend, in zerlumpte Decken gehüllt, auf einem Strohlager. Der Hund des Ehepaares hingegen saß wohlgenährt und gepflegt im Wohnzimmer auf dem Sofa. Der Grund für das unmenschliche Verhalten: Die Eltern schämten sich vor den Nachbarn.

      Jürgen war empört, genau wie Mama. Doch dann fiel ihm etwas ein: Vor Julias Geburt hatten sie zusammen – obwohl ihm dies, bei seiner Wasserscheu, gar nicht gefiel – regelmäßig das städtische Hallenbad besucht. Einmal planschte neben ihm im Nichtschwimmerbecken ein offensichtlich geistigbehindertes Kind. Er fand den unförmig dicken Jungen mit dem stumpfen Gesichtsausdruck abstoßend und ekelte sich, als ein dicker Speichelfaden von den wulstigen Mundwinkeln herunterlief. „So jemanden dürfte man gar nicht in die Schwimmhalle lassen. Sicherlich macht er auch noch Pipi ins Wasser“, sagte Mama damals. Jetzt war sie von dem Zeitungsartikel betroffen und entsetzt über die Rabeneltern. Jürgen fragte sich, warum Erwachsene einmal so sprechen und dann wieder ganz anders. Aber etwas kam ihm in den Sinn, das ihm im Augenblick viel wichtiger erschien: Wie konnte eine todtraurige Mama sich über diese Meldung aufregen? Denkt man, wenn es einem zum Sterben elend geht, über fremder Leute Verhalten nach? Vielleicht bin ich gestern Abend eingeschlafen, als ich mich ärgerte, weil ich einfach abgeschoben werde? Sicherlich habe ich nur geträumt; gewiss hat Mama niemals Ich wünsche, ich wäre tot gesagt. Er fühlte sich auf einmal unendlich erleichtert. Jetzt machte es ihm gar nichts mehr aus, für eine Weile zu Oma zu müssen. Erst als Mama Schlafanzüge, Zahnbürste, Unterwäsche, Hosen, Pullover und Hemden in eine große Reisetasche packte, wurde er wieder traurig.

      Nach zwei Stunden bei Oma kam es Jürgen vor, als verfolge ihn unablässig ein schwarzes Gespenst. Wohin er auch ging, seine Großmutter stand neben ihm, gab Ratschläge, hielt Vorträge über gutes Benehmen; selbst vor der Toilettentür verharrte sie und redete weiter. Dieser Geist, nicht weiß, mit hellen Betttüchern bekleidet, sondern schwarz gewandet, da Oma noch immer Trauerkleidung trug, obwohl Opa Johannes, ihr Mann, schon über sechs Jahre tot war, stürzte sich begeistert auf eine neue selbstgewählte Aufgabe, nämlich Jürgens Erziehung.

      Wenigstens bleibe ich jetzt vor der albernen Elisa verschont und Ben und Stefan können mich nicht mehr ärgern, dachte Jürgen. Aber Oma, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgte, war viel, viel schlimmer als die Nachbarskinder.

      „Johannes, halte dich grade. Denke immer daran, so aufrecht zu gehen, als trügest du ein Buch auf dem Kopf.“ So hatte man vor fünfundsiebzig Jahren gepredigt, um aus ihr eine gesittete junge Dame zu machen und diese Ratschläge schienen Oma auch in der heutigen Zeit noch sinnvoll zu sein, selbst für einen Jungen. „Wenn du mit Armen und Beinen schlenkerst wie ein Hampelmann, wird niemals ein Gentlemen aus dir. Und sitze aufrecht. Meine Mutter, Gott hab sie selig, saß sogar noch im Alter von neunzig Jahren stets kerzengerade, ohne je mit ihrem Rücken eine Stuhllehne zu berühren.“

      Jürgen sah die alte Dame erstaunt an. Johannes? Mit wem sprach sie? „Ich werde dich ab sofort nur noch Johannes nennen“, erklärte Oma. „so wie du nach meinem lieben Mann, deinem Großvater und Paten, Gott hab ihn selig, getauft bist. Aber deine Eltern wollten modern sein und setzten diesen grässlichen Namen Jürgen davor, obwohl sie wussten, wie weh mir das tat. – Jürgen“, fügte Oma noch einmal verächtlich hinzu.

      „Aber ich heiße Jürgen.“

      „Johannes, sei nicht trotzig“, ermahnte Oma ungerührt.

      „Ich heiße Jürgen. Jürgen! Jürgen!“, schrie er. Dazu stampfte er den Takt mit dem rechten Fuß. Aber der Wutanfall schien seine Wirkung zu verfehlen. Die Großmutter ging schweigend hinaus