Träume, die im Meer versinken. Edda Blesgen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Edda Blesgen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847679158
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dachte Jürgen. Sie hat das doch sicher längst alles ihrer Mutter erzählt und wiederholt es jetzt nur, um vor mir zu prahlen.

      „Ich muss reingehen“, sagte er und hätte am liebsten hinzugefügt dort wartet eine leckere Buttercremetorte auf mich, verkniff sich aber diese lächerliche Aufschneiderei. „Dann bis morgen.“

      „Wie war es heute in der Schule?“, stellte Papa, der gerade von der Bushaltestelle kam, seine allabendliche Frage.

      „Wir haben Ferien“, antwortete Jürgen. Sein Vater war bereits in die Zeitung vertieft. Mit wem soll ich reden, sprechen, schwatzen?, überlegte der Junge. Julia ist noch zu klein. Mama hat selten Zeit für mich; für Papa bin ich kaum vorhanden. Er fühlte sich einsamer als Robinson auf seiner Insel. Der konnte wenigstens laute Selbstgespräche führen. Hier verhielt man sich am besten ganz still. Entweder studierte sein Vater die Zeitung, schlief oder starrte auf den Fernsehbildschirm. Auf jeden Fall machte er immer etwas, bei dem Reden störte. „Lass ihm seine Ruhe“, ermahnte Mama ständig. Jetzt schaltete Papa das Fernsehgerät auf volle Lautstärke. Jürgen, den die Fußballübertragung nicht interessierte, kauerte mit seiner Lieblingslektüre, Robinson-Crusoe, in einem Sessel. Er war der einzige Bücher-Leser in der Familie. Seine Mutter bevorzugte Hefte mit Doktor- und Heimatromanen; die Zeitung blätterte sie von hinten nach vorne durch, überflog Geburts-, Heirats- und Todesanzeigen auf der Suche nach bekannten Namen, bemühte sich, das Kreuzworträtsel in der Wochenendbeilage zu lösen. Vater studierte täglich gründlich den Sportteil. Von der Politik las er die Überschriften und vertiefte sich nur in den Artikel, wenn es um Krankenkassenbeiträge, Tarifverhandlungen und Steuererhöhungen ging. Außerdem interessierten ihn die Stellenanzeigen, trotz seines sicheren Jobs bei der Stadtverwaltung. Im Lokalteil informierte er sich über Verkehrsunfälle, Einbrüche und neulich hatte er die täglichen Berichte über die Gerichtsverhandlung in einem Mordprozess verfolgt. Das Gebrüll aus dem Fernseher störte Jürgen erheblich; es war ihm unmöglich, sich auf sein Buch zu konzentrieren. Aber wen interessierte das? Er durfte nicht sagen: Ich möchte meine Ruhe haben. O je, das würde ein schönes Donnerwetter geben.

      Mama rief nach ihm, sie brauchte seine Hilfe beim Tischdecken fürs Abendbrot. Julia lag inzwischen in ihrem Bettchen. „Hast du dich schon mit Elisa von nebenan angefreundet?“, wollte sie wissen.

      „Anfreunden? Was denkst du bloß? Ich gebe mich doch nicht mit einem Mädchen ab.“ Mama achtete weder auf Jürgens Antwort, noch merkte sie dessen Verstimmung. Sie stellte keine Fragen mehr. Ihre Gedanken schienen ganz woanders zu sein, vielleicht bei Oma, die Mama trotz ihrer einundvierzig Jahre wie ein kleines Mädchen behandelte? Aber Jürgen hatte seinen eigenen Kummer, über den er nachgrübelte: Elisa war weit und breit, neben Stefan und Ben, die nichts von ihm wissen wollten, die einzige gleichaltrige Spielgefährtin – schöne Aussichten für die Zukunft.

      Die Stimmung im Haus wechselte wie Aprilwetter. Am Tag darauf war Mama freundlich und heiter. Neuerdings hat sie eben Launen, dachte Jürgen. Er beschloss, sich nichts mehr daraus zu machen. Doch er würde wieder traurig sein, wenn Mama erneut bedrückt herumlief, das wusste er jetzt schon.

      Um Ben, Stefan und auch Elisa aus dem Weg zu gehen, spielte Jürgen in der Garage auf dem Hof. In einem Anfall von Ordnungsliebe schichtete er Holzscheite aufeinander, die für den offenen Kamin im Wohnzimmer bestimmt waren, den es zusätzlich zur Zentralheizung gab. Dann wandte er seine ganze Geschicklichkeit auf, um den Holzstoß von einem alten wackligen Stuhl aus zu erklettern. Es gelang – der Stapel schwankte zunächst ein wenig. Jürgen hielt die Luft an, dann thronte er obenauf, lehnte den Rücken gegen die Mauer, ließ die Beine baumeln, trällerte einen Schlager: Du bist wunderbar, schon vor einem Jahr, ja da war mir klar, du bist wunderbar. So oder ähnlich ging der Text, den Mama öfters sang – das war jetzt allerdings schon eine Weile her, in letzter Zeit hörte man nur noch selten ihre Sopranstimme. Jürgen pochte mit den Fersen vorsichtig den Takt gegen die Scheite. Dieses leise rhythmische Klopfen vermischte sich mit Schritten. Die Klingel schrillte durchs Haus. Gleich darauf hörte Jürgen, wen seine Mama begrüßte – Oma war schon wieder da.

      Er sah die beiden Frauen in der Küche, deren Fenster zum Hof hinausging. Es machte Spaß, sie durch das offenstehende Garagentor zu beobachten, ohne selbst in der dunklen Ecke entdeckt zu werden, obwohl wahrhaftig nichts Beachtenswertes geschah. Mama hantierte mit der Kaffeemaschine, trat nun ans Fenster, rief „Jürgen, Jürgen“, zuckte die Schultern, als keine Antwort kam und schloss die Scheiben. Der Junge schmunzelte vergnügt in seinem Versteck. Er kreuzte die Arme, schlug die Beine übereinander. Die Mauer war angenehm kühl in seinem Rücken. Ihm kam es nicht in den Sinn, ins Haus zu gehen und mit Händchen- und Küsschengeben das liebe Enkelkind zu spielen, um dann wieder die selben Sprüche über schlechtes Benehmen und mangelnde Manieren beim Essen ertragen zu müssen.

      Während die beiden Frauen gemeinsam den Tisch deckten, ertönte, ausnahmsweise einmal laut und durchdringend, Schwesterchens Babygeschrei. Mama lief hinaus. Oma nutzte den Augenblick des Alleinseins, um sich Kaffee einzuschenken. Jürgens Mutter kam wieder herein, mit der jetzt zufrieden vor sich hinlächelnden Julia auf dem Arm, setzte sie auf Omas Schoß und machte das Fläschchen zurecht. Die beiden Frauen unterhielten sich. Ihre Münder öffneten sich, auf, zu, auf, zu, wie Fische im Aquarium sahen sie hinter der Fensterscheibe aus. Mama unterstrich jeden Satz mit einer lebhaften Gebärde. Ich muss mir einmal merken, welche Handbewegung sie zu welchen Worten macht, dann weiß ich, was sie sagt, auch ohne es zu hören, dachte Jürgen und überlegte, ob dies wirklich möglich sei. Wieder sang er sein Liedchen leise und klopfte den Takt mit den Füßen gegen den Holzstoß. Dieser geriet ins Wanken; erschreckt hielt der Junge still. Würde er umstürzen? Eine Weile war Jürgen damit beschäftigt, das Gleichgewicht zu halten. Als er sich wieder einigermaßen sicher auf seinem Sitz fühlte, wanderte sein Blick erneut zum Haus hinüber. Irgend etwas stimmte nicht. Mama, regungslos gegen den Tisch gelehnt, die linke Hand auf eine Stuhllehne gestützt, sagte etwas und schaute dabei sehr betroffen drein.

      „Oma – du alte Ziege“, schimpfte Jürgen laut vor sich hin. Sicherlich hatte sie abermals mit ihrem albernen Gerede über Julias verspätete Entwicklung angefangen und von irgendeinem Wunderkind aus ihrem Bekanntenkreis erzählt, das schon im zartesten Babyalter laufen, sprechen und wer weiß was sonst noch alles konnte.

      Jürgen kletterte von seinem Sitz. Dabei geriet der Holzstoß erneut ins Schwanken und stürzte diesmal endgültig um. Macht nichts, nachher schichte ich ihn wieder auf, dachte der Junge, kroch zwischen den Scheiten hervor, klopfte das Sägemehl von Hose und Hemd und schlich hinaus. Ich muss mich unbedingt an Oma rächen. Aber wie? Käme sie mit dem Fahrrad, könnte man die Luft aus den Reifen lassen. Der Gedanke an eine radelnde Oma reizte Jürgen zum Lachen. Er stellte sich vor, wie der schwarze Rock vom Fahrtwind hochgeblasen wurde und darunter ein altmodischer Schlüpfer mit Beinansatz bis zu den Knien zum Vorschein kam. Seine gute Laune war wiederhergestellt; er vergaß seine Rachegelüste.

      „Da bist du ja!“, rief es aus dem nun offenen Fenster. Oma hatte ihn entdeckt. Diesmal konnte Jürgen sich nicht drücken, er ging hinein. Das gewohnte Spiel begann: Händchen- und Küsschengeben. Besonders Letzteres verabscheute er, weil Omas Atem schlecht roch.

      „Warum machst du keinen Diener? In meiner Jugend gehörte er einfach zu einem guterzogenen jungen Mann und die Mädchen vollführten einen Knicks.“ Es folgte der übliche Redeschwall, als hätten sie sich nicht erst gestern gesehen: „Blass schaust du aus, du wächst zu schnell. Früher bekamen die Kinder täglich einen Löffel Lebertran, der würde dir auch gut tun, besser als die ganze Babypampe, die gibt dir doch keine Kraft.“

      Jürgen lächelte brav, Mama zuliebe. Innerlich kochte er vor Wut: Diener machen, Lebertran schlucken! Soll Oma doch selber Lebertran einnehmen, oder noch besser Rizinusöl. Wenn sie eine Woche auf der Toilette hockt, bleiben wir wenigstens von ihren Besuchen, mit denen sie nur Unheil anrichtet, verschont. Mama gab sich zwar heiter, doch Jürgen spürte genau, irgendetwas Unangenehmes war gesagt worden, das ihr jetzt noch durch den Kopf ging und sie bedrückte.

      Am nächsten Tag besuchte seine Mutter mit Julia wieder mal den Kinderarzt, schon das dritte Mal in diesem Monat. Sie übertreibt, dachte Jürgen. Mit mir ist bestimmt nicht so ein Theater veranstaltet worden. Dabei wusste er