Ja, das werde ich machen. Ich werde ihm zuschauen, werde bald ins Bett gehen, habe heute Nacht eh schon viel gelernt, wenn man das so nennen darf. Aber vorher schaue, schlage ich zumindest die Erste Seite auf.
Oder? Ich überlege.
Sollte ich in einem Buch, das den Titel »Das Ende« trägt, zuerst mal nachsehen, was auf der letzten Seite steht? Schauen, wie das ganze endet und dann entscheiden, ob mich die erste Seite überhaupt noch interessiert. Ja, so mache ich es. Ich wende das Buch auf meinem Schoß, schaue die Rückseite an.
Mir stockt der Atem. Ich frage mich, ob man zugleich wach und doch ohnmächtig sein kann.
Kapitel 10
Ein eiskalter Schauder durchläuft meine Wirbelsäule. Wüsste ich es nicht besser, könnte man meinen, eine Bestie befinde sich mit mir im Raum. Aber der Temperatursturz kommt nicht von einer Bestie, er kommt aus mir. Ich gefriere beim Anblick der Rückseite zu Eis. Gefriere, weil jemand das Buch auf meinen Stapel gelegt haben muss, als ich schlief.
Die Gänsehaut wird noch ärger, als mir bewusst wird, dass die gleiche Person das Blatt mit der Teddy-Bestie in mein Buch gelegt haben könnte, weil es einen unverkennbaren Zusammenhang gibt.
Ich fahre mit meinem Fingernagel die feinen Striche auf dem weißen Leder nach. Alle Striche zusammen ergeben eine Zeichnung, ein Bild. Es ist perfekt, fast wie echt. Eine Frau, eine junge Frau. Ihr ganzer Körper ist voller Tattoos.
Sie ist eine Kämpferin und sie hält ein Plüschtier in der Hand, das aussieht wie ein Teddybär mit einem blauen schimmernden Brustpanzer. Auf ihrer Stirn überstrahlt ein Tattoo alle anderen. Es ist der Stern vom Buchtitel.
Und die Frau?
Sie sieht aus wie ich!
Etwas älter, vielleicht nur etwas reifer. Es sind viele Tattoos dazugekommen. Ich erkenne sie alle. Alle, die ich heute schon trage, und ich sehe jedes, das ich noch nicht habe. Aber der Stern ist das Schönste von allen. Ihre Augen zeugen von Stärke und einem unbeugsamen Willen. Sie ist fast nackt, nur ein dünnes Kleid beschützt sie vor neugierigen Blicken Fremder.
Ich würde mich niemals nackt fotografieren lassen, schießt es mir plötzlich durch den Kopf und mit einem Mal wird mir ganz warm. Soll das wirklich ich sein?
Die Frau sieht mir zum Verwechseln ähnlich! Die Idee, das könnte ich sein, finde ich spontan anziehend, auch wenn mir das Motiv viel zu sexy ist. Also echt, warum muss die Retterin denn nackt sein?
Retterin? Wie komme ich denn darauf, dass sie eine Retterin sei?
Ich schlage das schlanke Buch auf. Von hinten. 111 Seiten. Nicht mehr. Das kann ich heute Nacht schaffen, wenn es spannend ist.
Mal sehen ob sie tatsächlich eine Retterin ist? Ich werde es herausfinden. Ich lese einen Absatz, die letzten beiden Sätze:
Die Göttin der Liebe kam hernieder. Die Zeit war ihr einziger Zeuge. Sie sah auf den Einen hinab, der tot zu ihren Füßen lag, und das besiegelte das Ende der Gräueltaten, der Knechtschaft aller Überlebenden, gleich Mensch, gleich Bestie. Das war das Ende.
Ein Happy End! Das ist sehr schön! Ich blättere durch die Seiten, lasse sie durch meine Finger wehen wie Blätter im Oktoberwind, bis kein Blatt übrig ist. Bis mich die erste Seite ansieht.
Das Ende. Dies ist die 3. Prophezeiung von Calideya.
Winter.
Dezember Jahr Null. In dem Jahr, als alles wieder von vorne begann und die Zeit zum dritten Mal neu geschrieben wurde.
Kapitel 1 Göttin der Liebe
An dem Tag, als Hoffnung starb, fand sie die Eine und einzige unter ihnen die ihr das Zeichen der Sonne schenkte. Die Liebe wurde von unvorstellbarer Energie durchströmt und sie überwand Raum und Zeit und kam zurück und Hoffnung wurde neu in der Welt geboren. Und dann kam ihr Ende und das war auch sein Ende, und sie war die Eine, die den Frieden bringt.
So ging es weiter. Seite für Seite. Die Göttin der Liebe, findet und bezwingt die Bösen. Gähn. Ich tappe voll im Dunkeln, wer oder was die Bösen sind oder sein sollen. Menschen, Bestien oder etwas ganz anderes?
Der Prophet, eine Frau namens Calideya, lässt den Leser, also mich, völlig im Dunklen tappen. Schon auf Seite zwanzig beginne ich quer zu lesen, werde das Gefühl nicht los, dass ich ein Märchen lese. Eine Geschichte, geschrieben für Kinder, die in eine Welt geboren werden, in der die Monster zur traurigen Wahrheit gehören. Ich blättere die Seiten durch, auf der Suche nach einem interessanten Wort, das mich dazu bewegen könnte, inne zu halten und mehr erfahren, lesen zu wollen. Diese Göttin der Liebe entwickelt auf ihrer Reise durch die Zeit übermenschliche Fähigkeiten. Kann mit Gedankenkraft Energiewellen, wie Elektrizität aus ihrem Körper abfeuern. Also es ist so, wie ich es mir schon gedacht habe. Es bleibt bis zum Ende ein Märchen.
Mehr nicht. Die verblüffende Ähnlichkeit mit meiner eigenen Gestalt, die Tattoos, der blaue Teddybär. Das alles ist nicht mehr als ein Zufall. Genauso wie die Tatsache, dass ich keine Ahnung habe, wo das Märchenbuch hergekommen ist, wer es in meinen Stapel geschmuggelt hat. Klein genug wäre es ja, sich unter den anderen Wälzern zu verstecken.
Alles Zufall und ich bin müde. Zu müde, um noch mehr Märchen zu lesen. Morgen beginnen die Prüfungen, das ist die Realität. Es ist Zeit, ins Bett zu gehen.
Ich lösche das Licht der kleinen Stehlampe neben mir. Als wäre sie ein treuer Begleiter, seufzt sie leise, als ich ihr den Strom abstelle. Fast so, als wäre sie traurig, dass ich sie jetzt alleine lasse. Nur das Licht der Stadt, die nie ganz schläft, dringt jetzt durch die Fensterfront herein und geleitet mich sicher zum Ausgang der Bibliothek.
Alle schlafen, alles ist ruhig, so friedlich. Die Nacht hat etwas Magisches, das ich nicht in Worte fassen kann. Ich fühle mich gepanzert, unverletzbar. Au Mist, gerade in diesem Moment ziept meine Verletzung und lässt meine Hand zu meinem Bauch fahren.
Zwingt mich, auf dem Weg zu den Schlafgemächern stehen zu bleiben. Nicht, dass das etwas gebracht hätte. Das mit meiner Hand, die jetzt auf meinem Bauch liegt. Einfach ein natürlicher Schutzreflex.
»Hallo!«, sagt jemand. Hilfe! Mein Herz setzt einen Schlag lang aus.
Kapitel 11
Jemand ist hier in den Gängen, hat mich gesehen und hat mich angesprochen.
»Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich wollte das nicht. Ich meine, dass Sie sich zu Tode fürchten.« Habe ich mich aber - fast.
Wer ist er? Wie kommt er hier rein? Was will er? Was macht er hier, mitten in der Nacht?
Und warum ist das Licht nicht an?
»Geht es Ihnen wirklich gut?«
»Mir? Ja! Ist alles gut. Ich lebe noch.« Ich höre ihn schmunzeln, sehen kann ich es nicht. Jemand sollte das Licht anmachen. Ich kann ihn im Dämmerlicht der Notbeleuchtung kaum erkennen. Er ist groß, sehr groß. Mindestens zwei Köpfe größer als ich. Und ich bin nicht klein.
»Was machen Sie hier?«, frage ich.
»Das Gleiche frage ich Sie.« Seine Stimme ist klar, schneidend, gebieterisch.
»Wer sind Sie?«
»Und wer sind Sie?«
»So kommen wir nicht weiter«, sage ich nach einer Pause, in der keiner etwas sagt. Er nicht und ich auch nicht.
»Da fürchte ich, haben Sie recht.«
»Also gut, ich wollte gerade ins Bett.« Er mustert mich, das weiß ich, obwohl sein Gesicht im Dunkeln verborgen liegt.
»Andere stehen um diese Zeit auf!«, sagt er.
»Ich