Ich muss wohl äußerst geistlos dreingeschaut haben. Jedenfalls lachten die beiden plötzlich laut los. Langsam ging es mir auf, dass das mit den fünfzig Euro wohl ein Spaß gewesen war. Eine seltsame Art von Humor hatten die Leute hier.
"Nochmals Danke!" Der Eine sah ja richtig gut aus. Ich strich über meine Haare und stellte mich ein wenig in Positur. "Das war knapp."
"Gar nichts war knapp", behauptete der Andere. "Harry ist harmlos."
"Na, Mahlzeit! Wenn der zu der harmlosen Sorte zählt, dann möchte ich die gefährliche aber lieber nicht kennenlernen!"
"Diese Stadt liebt dich nicht, hat er gesagt", schaltete sich mein gutaussehender Retter wieder ein. "Kann sein, dass er Recht hat!"
"Wieso?" Ich verstand nicht so ganz.
"Weil das alte Orakel bei mir auch Recht hatte. - Jedenfalls bis jetzt! Er hat mir vor Jahren auf den Kopf zugesagt, dass ich schwul bin. Und dann hat er noch gesagt, das ich mal umgebracht werde, und zwar von einer Frau. Und darum würd' ich mal sagen, mach's gut, Schatz!" Lachend hakte er sich bei seinem Begleiter ein und die beiden schlenderten weiter.
Junge, das war starker Tobak! Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Wenn das so weiterging, würde ich meine Freizeit wohl lieber in meinem Zimmer bei Tante Lucy verbringen. So ein süßer Junge! Wirklich jammerschade.
Unmerklich war es dunkler geworden. Langsam bekam ich schon Schwierigkeiten, die Straßennamen auf dem Stadtplan zu erkennen. Eine breite Straße war ich hinuntergegangen und dann links abgebogen. Hinter einem Bahntunnel war ich auf ein Neubaugebiet gestoßen und dahinter auf einen Ortsteil, der aussah, wie ein kleines Dorf. Hier gab es kaum Verkehr. Die ersten Lichter flammten hinter den Fensterscheiben auf.
Ich beschloss, jetzt auf geradem Weg nach Hause zu gehen.
`Talbrückenstraße', das war der kürzeste Weg. Auf der Karte führte die Straße im Außenbezirk der Stadt ein Stück weit durch saftgrüne Wiesen. Ein bisschen Landluft kam mir gerade recht. Nicht, dass ich Heimweh gehabt hätte, aber in der Stadt war es die ganze Zeit lang so bedrückend eng gewesen. Man kommt sich so klein vor, zwischen all den hohen Häusern. Entschlossen marschierte ich los.
Als ich die letzten Häuser passierte, wurde das Dämmerlicht langsam zur Dunkelheit. Ein Taxi fuhr an mir vorbei, hielt an, und setzte ein Stück zurück. Die Seitenscheibe schnurrte ein Stück weit herunter. "Wollen sie mit?"
"Nein danke“, lehnte ich ab. "Ich laufe lieber!"
Wortlos schloss der Mann die Scheibe wieder und fuhr weiter.
Jetzt war es schon richtig dunkel. Mit schnellen Schritten ging ich auf der linken Straßenseite weiter, als plötzlich schräg über mir, im Scheinwerferlicht eines Fahrzeugs, ein gewaltiger, gemauerter Bogen auftauchte. Langsam, nach oben schauend, ging ich weiter. Ein kleiner Schwarm Sternschnuppen zischte über den Himmel. – Hübsch! Noch lieber wäre es mir aber gewesen, wenn der Vollmond ein wenig heller geleuchtet hätte.
Wieder kam ein Auto die Talbrückenstraße entlang. Im Streulicht der Scheinwerfer konnte ich genauer erkennen, was da in der Dunkelheit über mir schwebte: Eine Brücke. Eine uralte, aus Quadersteinen gemauerte Brücke! Die gewaltigen Säulen verloren sich links von der Straße in der Finsternis, während der Bogen direkt über mir so hoch war, dass ich ihn nicht erkennen konnte. Ich blieb stehen.
Ein Kleinlaster kam die Straße herunter. Er musste schwer beladen sein, die Scheinwerfer standen sehr hoch. Nun erst sah ich, dass die Brücke gar nicht über die Straße führte. Sie hörte ein wenig abseits einfach mitten in der Luft auf. Wie das Ende einer Sprungschanze ragte der letzte Viertelbogen weit über mir in die dunkle Nacht. Eine Brücke ins Nichts! Dahinter war kurz die schlanke Silhouette einer Betonkonstruktion zu erkennen, die, wohl anstelle der alten Brücke, das Tal überspannte. Klar, ich stand ja auf der Talbrückenstraße, fiel es mir ein. Daher also der Name.
Viadukt! Plötzlich stand das Wort in meinen Gedanken. Talbrückenstraße - Viadukt, diese Begriffe waren irgendwie miteinander verkettet!
Ich wandte mich nach links. Meine Augen hatten sich jetzt vollständig an die Dunkelheit gewöhnt. Auf der Straße war alles ruhig. Hinter einer flachen Buschreihe lag eine helle, ebene Fläche. Wahrscheinlich ein großer Parkplatz. Undeutlich Schimmerte die Silhouette eines abgestellten Kleinbusses durch die Finsternis.
Undeutlich nahm ich ein leises Rauschen wahr, so wie von schnell fließendem Wasser. Neugierig geworden, ging ich die Einfahrt zum Parkplatz hinunter und überquerte die grau gepflasterte Fläche. Richtig! Schwache Reflexe aus dem wolkenverhangenen Himmel verrieten mir, dass ich vor einem Gewässer stand. Einem See! Ob groß oder klein, das konnte ich nicht feststellen. Das jenseitige Ufer lag jedenfalls in völliger Finsternis.
Unter mir zischte und brodelte es. Das musste das Rauschen sein, das ich vorhin gehört hatte. Ich stand direkt über einem künstlich angelegten Abfluss. Unaufhörlich strömte das schwarze Wasser in den Betonschacht.
Ich ging ein Stück am Ufer entlang. Bei Tag musste es hier recht schön sein. Ich stellte mir vor, wie die Städter bei schönem Wetter hier ihre Freizeit verbrachten. Jetzt war es aber entschieden zu dunkel um sich wohl zu fühlen. Schnell ging ich wieder auf die Straße zu. Hoch über mir donnerte ein Güterzug über die neue Brücke. Mühsam kämpfte ich mich durch das Buschwerk; ich war einfach zu bequem gewesen, zur Einfahrt zurückzugehen. Direkt vor mir raschelte etwas auf dem Boden. Eine Ratte vielleicht? Unsicher blieb ich stehen.
Jetzt war es mir doch etwas unheimlich zumute. Ich hab Ratten nicht so gerne. Ich hab mal eine gesehen, die ist über zwei Meter hoch gesprungen. Laut klatschte ich in die Hände, um das Tier, was immer es auch war, zu verscheuchen, und machte einen großen Schritt nach vorne.
Plötzlich legte sich eine stählerne Klaue um meinen rechten Knöchel. Erschrocken fuhr ich zurück, stolperte und fiel hin. Schnell erhob ich mich wieder. Es hatte bei meinem Sturz laut geratscht, und ich spürte einen kalten Luftzug an meiner Wade. Tja, die Jeans waren wohl hin.
Unsicher tastete ich mich einen Schritt weit vorwärts und suchte vorsichtig nach dem Hindernis. Undeutlich sah ich einen dünnen Gegenstand aus der Erde ragen und griff zu, um mich zu stützen. Ich glaube, ich habe vor Entsetzen laut aufgeschrien, spürte ich doch die knöcherne Kälte einer skelettierten Hand, an der verwesendes Fleisch hing, zwischen meinen Fingern! Im selben Moment brach unter meinem rechten Fuß der Boden ein und mit abgeknicktem Knöchel fiel ich laut aufschreiend auf den Rücken.
Einige schreckliche Sekunden später hatte ich mich wieder einigermaßen in der Gewalt. Noch war kein Knochenmann über mich hergefallen und hatte mir seine dornigen Klauen in den Leib geschlagen. Außerdem tat mein umgeknickter Fuß teuflisch weh. Vorsichtig zog ich ihn zu mir heran. Jetzt konnte ich auch erkennen, was mich eben so erschreckt hatte: Ein Knäuel dünner Eisenstangen ragte aus der Erde. Das verwesende Fleisch, das ich gefühlt hatte, war ein Stück meiner eigenen Jeans gewesen, das wie ein Wimpel daran hing. - Eine hübsche Falle - wirklich!
Verdrossen rappelte ich mich auf und setzte mich auf ein Mäuerchen, das, halb von Gras überwachsen, schemenhaft vor mir zu erkennen war.
Leider kam ich nicht umhin, mich selbst eine Idiotin zu nennen. Wer, außer mir dreidämlicher Kuh, käme wohl noch auf die Idee, in stockfinsterer Nacht mitten durch die Botanik zu trampeln, nur um einige Meter Weg zu sparen?
Es war unglaublich warm geworden. Schweißperlen standen auf meiner Stirn. Die Kleidung klebte mir am Körper. Bestimmt kam das vom Schmerz in meinem Knöchel. Ich öffnete meine Jacke, um kurz etwas mehr Luft an meinen Körper zu lassen.
Die erhoffte Abkühlung blieb aus. Nur muffige, abgestandene Luft war um mich herum. Leicht konnte ich den Geruch von Heu wahrnehmen. Es roch nach Sommer.
1944! Plötzlich wurde mir mit einem Schlag klar, wo ich mich befand. Fragmente alter Geschichten, die ich als Kind gehört hatte, vereinigten sich schlagartig zu einem Ganzen: Talbrückenstraße, die Eisenbahnbrücke, Spätsommer 1944! Ich befand mich genau an der Stelle ...
Schaudernd