Der Krieg. Barbara E. Euler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Barbara E. Euler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742794246
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internus“, hatte Delacourt ihn mitleidig korrigiert. Cornelis seufzte. Manchmal hatte er alles so satt.

      Draußen erklangen Fanfaren. Die Menschen drängten an die trüben Fenster und schoben sich bald auf die Straße hinaus, wo Herolde in den Farben der Königin die Ankunft des Trauerzugs verkündeten. „Die Körbe“, sagte Hieronymus Grootland halblaut. Der Wirt war vorbereitet. Eifrig lief das Mädchen nach dem Keller und kam mit zwei großen Henkelkörben voll frischer Semmeln zurück, die appetitlich mit Kümmel und Koriander bestreut waren. Und mit Salz. Viel Salz. Hieronymus überprüfte die Zahl seiner Fässer. So ein Begräbnis machte durstig.

      Joris aß ruhig weiter. Niemals würde er einen Rest Fleischsuppe zurücklassen. „Müsstet Ihr nicht beim Trauerzug sein?“, fragte er mit vollem Mund. Cornelis fuhr mit dem Zeigefinger durch eine Weinpfütze. „Gabriel braucht mich nicht mehr.“

      Joris legte eine Hand auf die des Arztes und fischte mit der anderen das letzte Stück Fleisch aus seiner Suppe. „Esst“, sagte er, und Cornelis nahm das Fleisch, das wunderbar mürbe war und nach Lorbeer und Wacholder schmeckte. Er hatte gar nicht gewusst, wie hungrig er war.

      „Gebt mir besser eure Börse“, meinte wenig später der Bettler, als sie endlich doch draußen zwischen den Schaulustigen standen. Der Arzt lugte zu seinem Freund hoch, der auf seinen Schultern saß. „Hast wohl einen Kumpel gesehen!“ Es war lange her, aber er hatte die Regeln der Straße nicht vergessen. Sein Geldbeutel enthielt nur wenige Münzen und er konnte ihn auf seiner Brust fühlen. Aber hier war Joris’ Revier. Gutmütig nestelte er den Beutel los und übergab ihn dem Bettler.

      Hinter den Herolden streute Gesinde von einem behäbigen Karren Stroh auf die Straße, das den Dreck aufsog. Goldstaub flirrte in der Sonne. Joris nieste. Gleich würde der Zug kommen. „Gabrielsbrötchen – esst feine Gabrielsbrötchen! Nur heute! Nur drei Pfennige das Stück!“ Hieronymus schob das Schankmädchen mit den Körben in die Menge. „Gabrielsbrötchen!“ rief auch sie und hielt ein Brötchen hoch. „Ich nehme zwei Dutzend!“ rief der Leibarzt. „Gebt sie den Kindern!“ Mit dem Daumen wies er nach oben. „Er zahlt. Und er wird aufpassen, dass sie alles bekommen!“ Kinder. Hieronymus unterdrückte einen Fluch. „Frisches Bier! Frisches Bier!“, brüllte er umso lauter, den Arm voll schäumender Krüge. Der Physikus hörte die Kinder jauchzen und lächelte. Jetzt war er reich, aber er hatte nicht vergessen, was Hunger ist.

      Wie Donner schlugen die Trommeln in das fröhliche Treiben. Es war soweit. Der Leichenzug kam. Hoch ragten die schwarzen Fahnen auf, schwer und samtig an goldglänzenden Stangen in den strahlend blauen Himmel gereckt. Den Engländer durchfuhr ein Zittern. Bis jetzt hatte er nicht gewusst, ob er es würde ertragen können. Nun war er mittendrin. „Ruhig“, sagte Joris und drückte seine Hand. Starr sah Cornelis auf die mit vergoldetem Schnitzwerk übersäte Sänfte, die langsam hinter den Trommlern an der Menge vorbeischwankte. Herigold selber war es, der verehrte Großmeister, der den Begräbniszug anführte. Segnend hielt er seine Hand aus dem Fenster. Andächtig knieten die Menschen nieder und bekreuzigten sich. Auch Cornelis mit seiner kleinen Last auf den Schultern beugte gehorsam die Knie. Er war ein kräftiger Mann und hatte keine Mühe damit.

      Hinter der Sänfte schritt der Oberpriester, prachtvoll gewandet. Schwer schleifte seine goldbestickte Schleppe durch das feuchte Stroh. Ein Knabe im weißen Gewand hielt ein silbernes Gefäß, in das der mächtige Kleriker im Takt der schweren Trommeln den Aspergill eintauchte, um die Menge mit Weihwasser zu besprengen. Still standen die Menschen und spürten den Segen auf ihrer Haut.

      Nun kamen die Priester und Unterpriester, Bischöfe, Vikare, Äbte, Pröbste, Kanoniker, Mönchen, Nonnen, Messdiener, in ihren weißen, violetten, purpurnen, schwarzen, braunen Gewändern, schwere Kreuze auf der Brust, aus rohem Holz oder aus Gold und funkelnden Steinen, die Häupter bedeckt mit Kappen, Kapuzen, Hauben, Hüten, Mitras, Biretten, die Pilger- und Krummstäbe hoch aufgerichtet, zahllose Weihrauchfässer schwenkend, feierlich, im trägen Rhythmus ihrer monotonen Gesänge, die ein vorausgehender Mönch mit bedächtigen Handzeichen leitete. Wie Nebel hüllte der scharfwürzige Weihrauch die Menschen ein. Viele bekreuzigten sich abermals.

      Dann folgten die Rösser. Dreiundzwanzig schwarz glänzende Rappen mit den Vertretern aller Ritterschaften des Landes. Stumm und stolz paradierten sie ihre Wappen, ihre Farben, ihre Harnische, Zimire, Mäntel, Schilder, Schwerter, Wimpel, Fahnen; Pelz, Atlas, Seide, Silber, Gold glänzten unter der Mittagssonne und machten Cornelis’ Augen brennen, dass er blinzelte und sich auf die Lippen biss, ein prunkvoller Aufzug und eine Ehre, die nur den Großen unter den Rittern zuteil wurde; den Größten.

      „Ruhig“, sagte Joris.

      Ein Raunen ging durch die Menge, weil sie jetzt Gabriel herantrugen. Goldbeschlagen der schwere ebenhölzerne Sarg, von Gabriels samtenem Wappenkleid überflossen und beschirmt von seinem prächtigen Paradeschild, getragen von acht Männern in voller Rüstung, Silberglanz unter schweren Mänteln, ernste Augen unterm geöffneten Visier, gedämpftes Klirren von Sporen im Stroh. „Farewell, my friend“, murmelte Cornel of Clovesborough.

      Hinter dem Sarg sah er nun Gabriels Knappen gehen, Matthies, sehr allein und sehr aufrecht, mi-parti in des Ritters Farben gekleidet, ohn’ alle Waffen und jeder Rüstung bar, das Haupt entblößt, die Augen leer. In seinen geöffneten Handflächen präsentierte er Gabriels Schwert, das Ledergehänge sorgsam um die Edelholzscheide gewunden, deren Silberintarsien das Sonnenlicht fingen. Ein kostbares Erbstück. Wer würde es bekommen? Gabriel hatte nicht Frau noch Kind, nicht Bruder noch Schwester, sein Vater war tot, seine Mutter gestorben bei seiner Geburt, er stammte nicht einmal von hier. Tief sog Cornelis die Luft ein, die nach Sonne roch und Weihrauch, nach Bier und Schweiß und nach Pferden. Ein Fremdling wie er. „Lass uns gehen.“ Er hievte Eijckhout von seinen Schultern und reckte sich.

      Schon erhob sich auch die Menge, weil jetzt als letztes die Dienerschaft herantrottete und danach der dichte Strom des Volks folgte, der immer neue Menschenmassen in sich aufsog. „Bringt Ihr mich zur Kathedrale?“, bat der Bettler. Cornelis nickte. Die Geschäfte mussten weitergehen. Und Trauer machte freigiebig. Der Physikus nahm den Freund auf den Rücken und begann, sich gegen die herbeiströmenden Menschen einen Weg zu bahnen. Viele erkannten den groß gewachsenen Arzt und grüßten ehrerbietig. Für Joris setzte es manch derben Scherz. Der Bettler gab tüchtig zurück, dass Cornelis durch die Tränen schmunzelte.

      Endlich waren sie allein. Nur struppige Hunde begleiteten sie noch auf ihrem Weg. Schnell und sicher lief Cornelis durch die verlassenen, übel riechenden, engen Nebengassen, die nie ein Sonnenstrahl berührte. Jeden Weg und jeden Steig kannte er hier, immer noch. Gewiss, wenn er in die Stadt kam, war es vor allem die große Apotheke an der Hauptstraße, die er aufsuchte, um Kräuter, Salben und Essenzen zu erstehen und sich mit Meister Apothecarius Philippus Stroobandt und seiner Frau Rieke über Rezepturen und Heilmethoden auszutauschen. Doch immer wieder tauchte er auch in das unruhige Gewebsel der kleinen Gässchen ein, um sich nach dem Bader durchzufragen. Dem Bader, dem er damals seinen Wagen überlassen hatte, als er dem Ruf des Königs gefolgt war. Jeremiah Tobit Zand.

      Jeremiah Tobit Zand war der Sohn eines Henkers und niemand wusste, woher er gekommen war. Cornelis war vollkommen sicher gewesen, dass er der Richtige war. Der Junge war mit all den intimen Kenntnissen der Anatomie begabt, die der Beruf mit sich brachte. Er war sanftmütig und wissbegierig und tapfer. Er hatte den Stolz der Geächteten. Doch die Liebe zu Strick und Beil, Streckbank und Würgeisen, die seinen Vater beseelte, Jeremiah hatte sie nie empfinden können und schließlich hatte er es aufgegeben: Auch wenn er immer eines Henkers Sohn blieb – er würde kein Henker sein.

      Jeremiah hatte gewusst, was das bedeutete. Ein Leben lang waren Leute vor ihm auf die andere Straßenseite gewichen. Zum Henker wurde man geboren. Es gab keine andere Arbeit für ihn. Wahrscheinlich würde er untergehen. Aber er würde erhobenen Hauptes untergehen. Und so war er von zu Hause fortgerannt. Weit, weit fort.

      Als er auf seiner Flucht Cornelis in die Arme gelaufen war, hatte der englische Bader den halb verhungerten Jungen ohne Zögern zu seinem apprentice gemacht und seine kargen Mahlzeiten mit ihm geteilt. Der Junge hatte rasch gelernt und mit Freuden. Und in den gut zehn Jahren, die er nun schon alleine arbeitete, war Zand zur Vollkommenheit gereift. Fast