Bale nahm Banja bei der Hand und ging seiner Mutter voraus, wobei er Lando im Weggehen einen missmutigen Blick zuwarf.
„Bale ist nicht glücklich mit deiner Wahl“, seufzte Lando, als er mit Ayda in Richtung ihres Hauses lief.
„Er sollte glücklich und dankbar sein, dass Rubion nicht der einzige Anwärter geblieben ist“, meinte Ayda. Lando nickte. Mit seinen Gedanken war er jedoch bei Jaron.
„Was ihm wohl passiert ist“, fragten beide wie aus einem Mund. Sie stutzten und sahen sich schweigend an.
„Es tut mir leid“, sagte Lando dann.
„Was meinst du?“
„Es tut mir leid, dass du zu dieser Entscheidung gezwungen wurdest.“
„Ich danke dir sehr, dass du dich gemeldet hast, doch ich bin nicht sicher, ob das eine gute Entscheidung von dir war. Falls Jaron zurück kommt …“ Lando bemerkte sehr wohl den feuchten Schimmer in ihren Augen, denn sie senkte den Kopf nicht schnell genug.
„Ich weiß“, versuchte er sie zu beruhigen, „aber ich hatte keine Ahnung, was ich sonst hätte tun sollen. Ich konnte dich und die Kinder doch nicht Rubion überlassen.“
„Dein Leben wird sich nun sehr verändern“, stellte Ayda leise fest und wechselte damit gekonnt das Thema. Sie befanden sich kurz vor ihrem Haus. Von den Kindern war nichts zu sehen. Vielleicht waren sie schon hineingegangen, denn die Häuser durften in Endora nie verschlossen werden.
„Du solltest deine Sachen holen“, sagte Ayda sanft, ohne den Freund anzusehen. Lando nickte nachdenklich. Er musste bei der Familie im Haus wohnen. Seine einfache Junggesellenhütte war zu klein für sie alle.
„Ja, ich beeile mich“, sagte er und schlug den Weg nach links in Richtung der Stadtmauer ein.
Als er nun alleine den vertrauten Weg entlang ging, wurde ihm schlagartig die ganze Tragweite seines Handelns bewusst. Ihm wurde so übel, dass er sich einen Moment auf einen großen Stein am Wegrand setzen musste. Was hatte er nur getan?
Lando schüttelte über sich selbst den Kopf und rieb sich mit den Händen durchs Gesicht. Seine Gedanken wanderten zu Jaron, seinem Freund und Bruder. Sie waren in ihrer Jugend unzertrennlich gewesen, jedenfalls bis zu Landos Unfall. Jaron befand sich direkt neben ihm, als es geschah. Es hätte genauso gut ihm passieren können. Das Schicksal hatte jedoch Lando dazu auserwählt, in das Erdloch zu stürzen. Er war es, dessen Bein von einem angespitzten Holzpfahl durchbohrt wurde. Jaron war davon gelaufen, zu entsetzt von dem Anblick. So hatte es jedenfalls auf Lando gewirkt. Natürlich hatte der Freund Hilfe geholt, doch Lando fühlte sich alleine gelassen. Er hatte geglaubt sterben zu müssen und niemand war bei ihm! Das viele Blut, das aus der Wunde lief und die Angst, dass ein wildes Tier kommen würde, angelockt von diesem Blut, hatten ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben. Damals hatte er bereits mit dem Leben abgeschlossen. Sein Freund hatte ihn im Stich gelassen, mit all seiner Angst! Das stimmte so nicht und das hatten sie auch später in vielen Gesprächen geklärt, aber Lando konnte immer noch das spüren, was er damals empfunden hatte, nicht nur den Schmerz, der erst später einsetzte, sondern vor allem die Todesangst. Zitternd und wimmernd hatte er in der Falle gelegen, unfähig sich zu verteidigen oder sich überhaupt zu bewegen. Er hatte geweint wie ein kleines Kind, hatte sich übergeben. Am deutlichsten konnte er sich daran erinnern, wie das Blut warm seine Kleidung durchdrang und dann in den Sandboden sickerte und diesen rot färbte.
Lando konnte Jaron nicht so vollständig vergeben, wie dieser es sich wünschte. Unzählige Male sprachen die Freunde über den Unfall und Lando war bewusst, dass er verblutet wäre, hätte sein Freund keine Hilfe geholt. Doch sein Gefühl und sein Verstand passten bei dieser Sache einfach nicht zusammen.
Er stand auf und schüttelte die Vergangenheit mit dem Straßenstaub von seiner Kleidung. Er durfte jetzt nicht an so etwas denken. Sein Freund war vermutlich tot, und er musste sich um dessen Familie kümmern. Das war jetzt sein Ziel. Man redete nicht schlecht über die Toten, und man dachte auch nichts Schlechtes über sie. Außerdem hatte Jaron ihn nicht verlassen. Er hatte Hilfe geholt! Warum ging diese Wahrheit nur nicht in seinen Kopf?
5. Schweren Herzens
Seit dem Tod seiner Eltern vor einigen Jahren wohnte Lando allein. Das Zusammenleben mit Ayda und den Kindern würde eine große Umstellung für ihn bedeuten. Die Häuser wurden den Menschen vom Rat zugeteilt und waren kein Eigentum der Bewohner, es sei denn, man war so reich wie Rubion, dann konnte man sich ein Haus kaufen. Diese Möglichkeit lag weder in Landos noch in Jarons Reichweite. Trotzdem waren sie, wie die meisten Menschen in Endora, zufrieden mit dem, was sie hatten. Jeder Mensch wurde in eine Schicht hinein geboren und nur die wenigsten schafften es, in eine höhere Kaste aufzusteigen.
Lando betrat sein Heim, das in der unteren Hälfte aus Steinen und in der oberen aus Holz bestand. Es hatte nur einen Raum, war aber für ihn völlig ausreichend. Eine Meute kleiner Hunde tapste ihm entgegen. An sie hatte er gar nicht gedacht! Was sollte er nur mit ihnen machen?
Lando bückte sich und hob eins der kleinen, flauschigen Tiere hoch. Der Welpe leckte ihm übers Gesicht und fiepte vor Freude. Lando musste lächeln. Mit Tieren konnte er viel besser umgehen, als mit Menschen. Sie ließen sich nicht von Oberflächlichkeiten blenden, sondern folgten ihrem Instinkt.
Er setzte das Tierchen vorsichtig wieder zu seinen Geschwistern auf den Boden. Mitnehmen konnte er sie nicht, aber der Rat würde ihm wohl nicht sofort seine Behausung wegnehmen und diese neu vergeben, oder? Füttern würde er die Welpen erst einmal weiter hier, doch er musste sich bald etwas einfallen lassen.
Tiere waren im Ort verboten. Sie hatten in früheren Zeiten Seuchen verbreitet und viele Menschen waren daran gestorben. Es ging so weit, dass alle Tiere innerhalb der Stadtmauern getötet wurden. Die Tierzuchtbetriebe, die sich außerhalb der Mauer befanden, wurden geschlossen als die Seuche sich nicht eindämmen ließ. Notgedrungen waren viele Menschen auf pflanzliche Kost umgestiegen, vor allem die Armen. Wild war nach einer Weile wieder heiß begehrt und wurde teuer bezahlt, deshalb gab es auch sehr viele Jäger unter den Dorfbewohnern.
Lando hatte ebenfalls Jäger werden wollen, genau wie Jaron, aber das war nach seinem Unfall unmöglich geworden. Er begnügte sich damit, Fallen aufzustellen, was gefährlich war, denn es lohnte sich nicht, diese dicht an der Stadtmauer auszulegen. Lando musste dazu weit in den Wald hinein. Das gleiche galt zwar auch für die Jäger, aber diese waren schneller oder konnten sich auf einen Baum retten, wenn es nötig war. In den Wäldern lebten gefährliche Tiere, die den Männern immer wieder das Wild streitig machten. Deshalb war es auch nichts Besonderes, wenn ein Mann nicht mehr von der Jagd nach Hause kam. Nur selten traute sich jemand hinaus, um nach dem Vermissten zu suchen. Es war meistens zwecklos, da von demjenigen oft nichts mehr zu finden war. Die wilden Tiere fraßen alles, sogar die Kleidung, oder sie schleppten diese in ihre Höhlen, um Nester daraus zu bauen.
In der Regel wartete der Rat ein halbes Jahr, bevor ein verschwundener Jäger für tot erklärt wurde. Das warf wieder die Frage auf, warum man bei Jaron nicht so lange gewartet hatte. Was war mit ihm geschehen?
Er war ein guter Jäger, stets aufmerksam und bestens ausgerüstet. Von seinem Fang konnte die Familie leben. Seit es in einer Jagdgruppe zu einem heftigen Streit um das erlegte Wild gekommen war, ging Jaron alleine auf die Pirsch, was sich nun als Unglück herausstellte. Wären andere Männer bei ihm gewesen, hätten diese berichten können, was geschehen war. So waren es nur Vermutungen, die sie aufstellen konnten.
Lando machte sich Sorgen, während er seine wenigen Habseligkeiten in eine Ledertasche packte. Am liebsten wäre er losgegangen, um den Freund zu suchen, aber das war unmöglich. Er hatte sich gerade erst verpflichtet, für