Ich öffnete die Audiodatei des Songs und konzentrierte mich auf die Akkorde. Piet hatte es sich angewöhnt, die Gesangslinie mit einem summenden Da-da-da festzulegen. Diese Vorgehensweise sollte es mir erleichtern, die Anzahl meiner Worte und Silben der Melodie anzupassen. Meistens hatte es jedoch zur Folge, dass sich meine Aufmerksamkeit mehr auf seine Stimme richtete als auf die Suche nach einem potenziellen Thema für den Song. Umso dankbarer war ich, dass die Zeilen dieses Textes scheinbar wie von selbst entstanden, denn noch bevor ich den Anfang ein weiteres Mal lesen konnte, fügten sich bereits die nächsten Worte hinzu – ohne lange darüber nachzudenken, ohne nach ihnen suchen zu müssen.
Du warst zu lange hier
Um nun zurückzubleiben
Viel zu lange in mir
Um dich jetzt kleinzuschreiben
Doch jeder Satz mit deinem Namen
Wirft mich weiter zurück
Und nimmt mit jedem Wort
Von meinem Plan ein Stück
Zufrieden betrachtete ich die Zeilen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal gleich zwei Strophen in so kurzer Zeit verfasst hatte. Vielleicht tat mir der Abstand von meiner üblichen Umgebung tatsächlich gut? Vielleicht waren meine Gedanken an Piet für die Stimmung, die ich zum Schreiben benötigte, sogar eher förderlich als störend?
Ich drückte auf den Repeat-Button. Leise summte ich die Melodie mit, um ihr gedanklich meine bereits verfassten Zeilen hinzuzufügen. Beim noch textlosen Refrain machte ich Halt. Einen stimmigen Songmittelpunkt zu finden war noch immer das Schwerste an meiner Arbeit. In der Regel benutzte ich für den Refrain kurze und einprägsame Halbsätze. Diesmal war ich in meinen Möglichkeiten sogar flexibler als sonst, da Piet bis auf die Tonlage keine Einschränkungen vorgab. Es musste eingängig sein, gleichzeitig aber auch zur Grundstimmung des Songs passen.
Das Wort Lebenszeichen kam mir plötzlich in den Sinn, um sich nach und nach mit anderen Worten zu verbinden. Instinktiv schrieb ich die Zeilen unter die Strophen.
Drei Wochen ohne ein Lebenszeichen von dir. Ich halte das nicht aus. Bitte melde dich, Mella.
Kapitel 3
Das Wasser umspielte meine von der Mittagssonne erhitzten Füße, als ich am Haff entlangspazierte. Bis auf ein älteres Paar, das in einer Einbuchtung im Schilf saß, und einem Mann, der mit seinem kleinen Sohn Steine auf dem Wasser balancieren ließ, war niemand in Sichtweite.
Unliebsame Disteln unterbrachen die Perfektion des Strandes nur am Rande. Hier und da Reste einer Serviette oder ein Stück Papier, in dem die Fischbrötchen am nahegelegenen Campingplatz ausgegeben wurden. Dennoch strahlte das Bild, das sich jedem Haffbesucher bot, in erster Linie Ruhe und Unberührtheit aus.
Mit dem Ziel, einen klaren Kopf zu bekommen, ließ ich die wenigen Menschen am Strand hinter mir und folgte mit energischen Schritten dem milden Wind, der wie unsichtbare Finger durch mein offenes Haar fuhr und den dünnen Stoff meines Hemdkleides aufblähte.
Doch in meinem Kopf wurde nichts klarer. Vielmehr hatte ich das Gefühl, dass mit jedem Schritt auch meine Unsicherheit zunahm. Was hatte es mit dem Namen Mella und diesen seltsamen Botschaften auf sich? Und warum schlichen sich diese fremden Worte immer wieder in meinen Text? Hatten mich die jahrelange Arbeit mit Reimen und die geradezu akribische Suche nach den geeigneten Wortverbindungen mittlerweile den Verstand gekostet?
Ich atmete tief ein. Wie ein Durstiger das Wasser sog ich die Luft regelrecht auf. Ich atmete aus, wieder ein, aus.
Eine Stimme unterbrach meine Schritte.
„Hey, nicht so schnell!“
Ich wusste, dass es Celine war, bevor ich mich zu ihr umdrehte.
Die Hände in die Knie stemmend, blieb sie neben mir stehen, um zu verschnaufen. „Mann, du hast aber ein Tempo drauf!“
„Kann schon sein“, antwortete ich. „Vielleicht hatte ich so eine Ahnung, dass mich jemand verfolgt.“ Ich unterdrückte ein Lächeln, das der Wahrheit nur die Schärfe genommen hätte. Hatte diese Frau denn nichts anderes zu tun, als mich rund um die Uhr zu belästigen?
„Und? War dein Termin erfolgreich?“
„Wie man's nimmt“, antwortete ich knapp, während ich meinen Weg fortsetzte. „Und du? Bist du nur zufällig hier?“
„Na ja, ich jogge, wie du siehst.“
Ich versuchte, ihre pinkfarbene Caprihose und das silberne Paillettentop als Joggingoutfit zu identifizieren. Das platinblonde Haar hatte sie zu einem aufwendigen Dutt zusammengesteckt, wie ich ihn – wenn überhaupt – allenfalls zu einer Party getragen hätte.
„Ich find's toll, dass wir uns so schnell wiedersehen“, sagte sie mit leichter Schnappatmung, die sich ihren Trippelschritten anpasste.
„Ich hätte nicht damit gerechnet“, antwortete ich diplomatisch.
„Das Leben steckt eben voller Überraschungen.“
Ich nickte schweigend und sinnierte, wie ich sie möglichst schnell wieder loswerden konnte.
„Hör mal, Celine“, begann ich schließlich. „Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein, aber ich befürchte, dass ich im Moment kein besonders unterhaltsamer Gesprächspartner bin. Der einzige Grund, warum ich hier am Haff entlanglaufe, ist der, dass ich mit einem Text, an dem ich gerade arbeite, nicht weiterkomme. Und um ebendiesen toten Punkt zu überwinden, bin ich an die frische Luft gegangen. Sozusagen, um die Worte gedanklich zu sortieren.“
„Oh, dann erwische ich dich praktisch gerade bei der Arbeit“, antwortete sie mit wissendem Lächeln.
„Ja genau. Bei der Arbeit.“
Die Bedeutung meines Blicks ließ sie unberührt. Manche Menschen waren scheinbar immun gegen die berühmten Worte durch die Blume.
„Oh, wir müssen uns auch gar nicht unterhalten“, sagte sie mit wegwerfender Handbewegung. „Ich freue mich einfach, wenn ich ein bisschen Gesellschaft beim Laufen habe.“
Während ich darüber nachdachte, ihr direkt ins Gesicht zu sagen, dass ich auch schweigend auf ihre Gesellschaft verzichten konnte, setzte sie ihren Redeschwall fort. „Außerdem habe ich heute schon so viele unterhaltsame Gespräche geführt, dass mir ein bisschen Ruhe ganz guttun wird.“
Ich ärgerte mich über meine Feigheit, die mich davon abhielt, ihr einfach den Rücken zuzukehren.
„Vorhin erst habe ich fast eine Stunde lang mit einer guten Bekannten telefoniert“, sagte sie. „Kennengelernt habe ich sie durch einen Urlaub, den sie hier vor einer Weile mit ihrem Mann verbracht hat.“ Sie lächelte. „Übrigens in demselben Ferienhaus, in dem du gerade wohnst.“
„Schön“, antwortete ich knapp.
„Sie war übrigens ganz begeistert von dem Haus. Noch heute schwärmt sie davon. Die dunkelrote Holzfassade und die weißen Fensterrahmen erinnern sie an Schweden.“
„Tatsächlich“, murmelte ich abwesend.
„Sie sagt, dass sie, wann immer sie auf die Bank hinter dem Haus saß, den Himmel so gut beobachten konnte wie sonst nirgends. Die Wolken sehen hier anders aus, meint sie. Wie Luftblumen.“ Sie lachte. „Seitdem spricht sie immer vom Luftblumenhaus.“
Ihre Sätze wurden zur monotonen Ansammlung ausdrucksloser Worte. Wie ein nicht enden wollender Piepton zog sich ihr Wortschwall in die