Blutlegende. Sofi Mart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sofi Mart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847641858
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Der schrille Ton, der die Entriegelung der Autotür begleitete, riss Readwulf aus seinen Gedanken. Er schüttelte die durchnässten Haare, bevor er in den silbernen Jaguar einstieg. Dann zog er das Handy aus der Tasche und ließ seinen Daumen eilig über die Tastatur gleiten:

       Balkeney hat abgesagt. Ich melde mich später wieder.

       Die Nachricht verschickte er an den einzigen Mann, der mit dieser Mitteilung etwas anfangen konnte: Bruder Darius Fairfax. Der Geistliche war nicht nur sein Auftraggeber, sondern auch sein Ziehvater und damit der einzige Vater, den er kannte. Ihm verdankte er seinen Namen und sein Leben. Darius hatte ihn auf den Stufen des Klosters entdeckt und sich des Säuglings angenommen.

       Readwulf legte den Kopf in den Nacken und schloss für ein paar Minuten die Augen, als er zu seinem Erstaunen bereits eine Antwort bekam. Gewöhnlich vergingen einige Tage bis Fairfax sich auf seine Nachrichten hin meldete. Er nahm das Telefon, blickte verwundert auf das Display und las:

       Bleib ein paar Tage bei deiner Cousine, sie hat nach dir gefragt.

       Was sich für Außenstehende auf den ersten Blick wie eine gewöhnliche Familienangelegenheit angehört hätte, versetzte Readwulfs Körper einen starken Adrenalinstoß. Schließlich wusste er, dass es sich hier um alles andere als den Besuchswunsch einer Verwandten handelte.

      Ein neuer Auftrag in London, dachte er und betrachtete im Rückspiegel sein ihm fremd gewordenes Gesicht, bevor er den Wagen langsam in Bewegung setzte.

       Kurz nach Mitternacht betrat Readwulf die Lobby des London Hilton on Park Lane Hotel. Als der Concierge ihn bemerkte, erhob sich der Mann von seinem Stuhl, hielt einen Umschlag hoch und rief: »Mr. Fairfax, es wurde soeben etwas für sie hinterlassen.«

       Readwulf nahm seine Post entgegen, inspizierte kurz die leere Vorhalle und lehnte sich gespielt lässig an den Empfangstresen: »Vielen Dank, Albert. Gut, dass ich sie noch antreffe. Ein Termin hat sich verschoben, deshalb muss ich noch ein paar Tage in der Stadt bleiben. Ist mein Zimmer kommende Woche frei?«

       »Selbstverständlich Mr. Fairfax. Ihre Suite steht Ihnen so lange zur Verfügung, wie sie wünschen«, säuselte der schmächtige Mann freundlich nickend und reichte ihm die Zimmerkarte.

       Das Einchecken in Hotels war für ihn ebenso zur Routine geworden, wie seine Tarnung als erfolgreicher Geschäftsmann. Anfangs empfand er es als Abenteuer, in fremden Betten zu schlafen und etwas von der Welt zu sehen. Doch inzwischen langweilte es ihn. Der Tick, immer das gleiche Zimmer zu buchen, hatte sich wie beiläufig eingeschlichen. Es war für Readwulf von Vorteil, die Notausgänge von Zimmern zu kennen. Fairfax bevorzugte Zimmer, die man auch durchs Fenster verlassen konnte. Er war ein gern gesehener Gast, kultiviert und großzügig mit dem Trinkgeld. Eine Kombination die ihn beim Personal durchaus beliebt machte und eine gewisse, wenn auch erkaufte Loyalität mit sich brachte.

       Kaum in der Suite angekommen, warf Readwulf den Umschlag mittig auf das Doppelbett und ging ins Badezimmer. Dort entledigte er sich seiner durchnässten Kleidung und zog sich einen Bademantel an. Wieder am Bett angelangt, nahm er seine Post an sich. Das Kuvert enthielt lediglich ein Foto.

       »Eine Frau!«, stieß er erstaunt hervor und dabei kräuselte sich seine Stirn. Nicht, dass er Skrupel hatte, aber Frauen und Kinder befanden sich bislang nicht unter seinen Opfern.

       In der Regel erhielt er alle notwendigen Informationen über seine Zielpersonen. Da gab es korrupte Anwälte und Richter, Mediziner, die illegal an Menschen experimentieren, und Politiker, die über Leichen gingen. Die machthungrigen Staatsdiener verachtete er am meisten. Sie zu töten ließ sich zumindest im Ansatz moralisch rechtfertigen. Nahm er nicht Leben um Leben zu schützen? Galt nicht das alte Sprichwort: Auge um Auge, Zahn um Zahn? Hatten sie nicht alle den Tod verdient? Schließlich war es bisher weder der Polizei noch den Gerichten gelungen, ihnen die Taten offiziell nachzuweisen.

      Diesmal war der Inhalt des Umschlages spärlich: Nur ein Foto, keine Akte?

       Intuitiv drehte Readwulf das Bild um. Auf der Rückseite fand er lediglich eine Londoner Adresse. Der darüber liegende rot durchgestrichene Kreis war das vereinbarte Zeichen. In der Ausführung gewährte Darius ihm freie Hand. Anfangs hatten die Zielpersonen entweder einen tragischen Autounfall oder erlagen den Folgen eines unglücklichen Sturzes. Mit der Zeit wurde Readwulf kreativer. Ein paar Mal kam ihm das hohe Alter seiner Opfer oder deren allergische Reaktionen zugute.

       Nachdem er das Papier erneut umdrehte, betrachtete er die vermeintliche Verbrecherin intensiver. Jemand hatte sie schräg von unten geknipst, als Bewerbungsfoto würde man es sicher nicht verwenden können. Zudem stand sie hinter einer leicht spiegelnden Fensterscheibe. Readwulf schätze sie auf Anfang zwanzig. Die blond gelockten Haare fielen über schmale Schultern. Das Gesicht war unscharf, doch sah sie für ihn eher wie ein Engel als der Teufel aus. Er schüttelte den Kopf und legte das Bild auf den antiken Sekretär. Er hatte genug von diesem Tag. Auch wenn solche Aufträge seit Jahren zu seinem Leben gehörten, ans Töten gewöhnte er sich nie. Die anschließende heiße Dusche tat ihm gut und einen Minibar-Whisky später sank er müde in die schneeweißen Hotellaken.

       ***

      Mein Wecker klingelte um sechs Uhr, doch sofort aufstehen - keine Chance! Seit Monaten fühlte ich mich morgens wie erschlagen, als würde ich Nacht für Nacht einen Marathon laufen.

      Zweimal drückte ich die Schlummertaste, bevor ich mich gegen halb sieben widerwillig aus meinem Bett quälte. Der Weg ins Bad führte am Zimmer meiner neuen Mitbewohnerin Cloé vorbei. Sie wohnte nur bei mir, weil ich für die Miete der Wohnung in einem Londoner Vorort nicht länger allein aufkommen konnte. Cloé Winter war die Einzige, die sich auf meine Anzeige vom schwarzen Brett im Imperial College London gemeldet hatte. Ihr übermäßiger Duftwassergebrauch folterte meine feinen Geruchsnerven bereits drei Wochen lang. Mir blieb jedoch keine andere Wahl, als es zu ertragen - vorerst zumindest.

      Mein Badezimmer entschädigte für alles, Natursteinkacheln und dazu ein klassischer Mosaikfußboden. Der gemauerte Waschtisch wurde von einem runden Designer Waschbecken gekrönt. Ich nahm die elektrische Zahnbürste aus der Ladestation und stellte ihre Automatik auf fünf Minuten. Gedankenversunken blickte ich in den Spiegel.

      »Oh bitte!«, zischte ich beim Anblick meiner mal wieder völlig zerzausten Haare. Der Schaum der Zahnpasta landete dabei unausweichlich auf dem Spiegel. Dieses `Kunststück´ beherrschte ich nahezu täglich und es brachte meine beschaumten Lippen zum Lächeln.

      Die Fußbodenheizung war angenehm, aber unnötig. Ich hatte nie kalte Füße wegen meiner permanent erhöhten Körpertemperatur. Die konstanten 42 Grad hätten jedem anderen Menschen sicher schwer zugesetzt oder ihn unter bestimmten Umständen womöglich getötet. Ich jedoch war bereits seit meiner Geburt so unerklärlich heiß. Die Schneidezähne fest aufeinander gepresst, putze ich fleißig weiter. Das Wasser ließ ich währenddessen laufen. Verschwendung war eine dumme Angewohnheit, das wusste ich, aber irgendwie beruhigte mich dieses Geräusch.

      Das Piepsen der Zahnbürste, die sofort danach den Dienst einstellte, beendete mein allmorgendliches Zahnpasta-Scharmützel. Gut so, denn ich musste pünktlich sein. Unbedingt! Schließlich hatte ich nicht umsonst über ein halbes Jahr auf diese Chance hingearbeitet.

      Miss Miller, die gute Seele unserer Fakultätsbibliothek, war mir in den letzten Monaten sehr lieb geworden. Sie hielt mir stets den kleinen Tisch in der einzigen Nische des Lesesaals frei. Manchmal kam mir schon der Gedanke, dass die Bibliothek mein zweites Zuhause sei.

      Viele Tage und Nächte hatte ich dort verbracht, die zahlreichen Stunden im Labor nicht eingerechnet. Und nun, an diesem Vormittag, musste ich mich beweisen. Mein Leben würde endlich eine konkrete Richtung erhalten und ich würde meine Zukunft wenigstens ein Stück mitbestimmen können.

      Prof. Barclay Stonehaven, ich glaubte,