HertzFlattern. Lina Lintu. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lina Lintu
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754112854
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würde er sich freiwillig näher Richtung Drache begeben wollen. Er hatte das Nackenfell aufgestellt und hechelte nervös.

      Zwei Haltestellen lang ignorierte der Mann mit dem Drachen ihre Blicke und ihr Räuspern gekonnt, dann wechselte die Frau ihre Strategie und machte ihrem Ärger Luft.

      „Sie wissen schon, dass in öffentlichen Verkehrsmitteln eine Maulkorbpflicht für Drachen gilt?“, fragte sie laut in das monotone Rattern der Stadtbahn hinein.

      Der Mann zuckte mit den Schultern. „Der tut doch keinem was.“

      „Das kann jeder sagen. Und dann passiert wieder was. Die Regeln gelten für alle!“

      Auch wenn Tessa den Tonfall der Frau anstrengend fand, musste sie ihr doch zustimmen. Der Blick des Drachen sah eindeutig hungrig aus. Und das, obwohl er kaum größer war als seine Mahlzeit in spe.

      Die Stadtbahn hatte inzwischen den unterirdischen Teil der Strecke hinter sich gelassen und das Licht des noch jungen Tages drang durch die zerkratzten Fensterscheiben.

      Vielleicht war es wirklich seine Haltestelle, vielleicht wollte er aber auch nur der Diskussion entgehen, denn beim nächsten Halt stieg der Mann kommentarlos aus. Der Drache folgte widerwillig.

      Erst als sich die Tür geschlossen hatte und sich die Bahn wieder in Bewegung setzte, lockerte die Frau den Griff um ihre Leine. Ihr Hund wirkte allerdings immer noch nicht entspannter.

      Die Bahn hielt bei der Universität, doch Tessa blieb auf ihrem Platz sitzen. Sie hatte noch Zeit, bevor sie zur Besprechung musste und wollte vorher noch nach Hause fahren. Deshalb stieg sie erst zwei Stationen später aus, bei der Endhaltestelle.

      Es war eine ruhige Wohngegend, wo trotz der Nähe zur Uni hauptsächlich Familien wohnten. Helle Häuser mit rötlichen Dächern, ein paar Supermärkte und ein Blick auf die Wipfel des Teutoburger Waldes.

      Wenige Minuten später schloss Tessa die Tür auf und ließ ihren Schlüssel in eine Schale auf der Kommode fallen.

      „Ich bin wieder da!“, rief sie.

      „Hi!“ Die Antwort klang gedämpft.

      Eine Tür öffnete sich, Schritte tapsten fast unhörbar über das Laminat, dann stand Bella im Türrahmen und strahlte Tessa an.

      Bella war eine personifizierte Sommerwiese. Und den Vergleich benutzte Tessa nicht nur wegen der grünlichen Hautfarbe der Waldelfe, sondern hauptsächlich wegen ihres Charakters: warmherzig, überschwänglich, liebenswert.

      Bella wartete, bis Tessa ihren Rucksack abgestellt hatte, bevor sie sie in eine Umarmung zog.

      „Du tust immer so, als wäre ich wochenlang weg gewesen.“ Tessa lachte.

      „Ich freu mich halt, dass du da bist. Ohne dich ist es so ruhig und langweilig in der Wohnung.“ Bella richtete ihre Brille. „Wie war’s? Geht’s deinen Eltern gut?“

      Tessa verdrehte die Augen.

      „Papa hat sich eine Rippe gebrochen, weil er von der Leiter gefallen ist. Ich hab ihm schon tausendmal gesagt, dass er die Gartenarbeiten lieber seinem Bruder überlassen soll, aber du weißt ja, wie er ist. Und Mama sagt, solange er noch jammern kann, wird das mit der Rippe schon nicht so schlimm sein. Und vielleicht hält es ihn wenigstens eine Weile vom Handwerken ab.“

      „Bestell trotzdem gute Besserung von mir, wenn du das nächste Mal mit ihnen telefonierst“, bat Bella.

      „Mach ich.“

      Wieder einmal fragte sich Tessa, warum sie sich so gut mit Bella verstand, obwohl sie so verschieden waren. Während Bella fürsorglich und empathisch war, überspielte Tessa Mitleid lieber mit Sarkasmus.

      Auch äußerlich unterschieden sie sich. Tessa war hochgewachsen und sportlich, Bella dagegen zierlich und fast einen Kopf kleiner als Tessa. Die einzige Gemeinsamkeit der beiden Frauen waren die dunkelbraunen Haare, doch Bella trug sie lang und glatt, Tessa hingegen als ungebändigte Wuschelfrisur, die man nur mit gutem Willen als Bob bezeichnen konnte.

      In der Zwischenzeit war Tessa in die Küche gegangen und warf einen Blick in den Kühlschrank. Bellas Hälfte war noch gut gefüllt, doch auf ihrer Seite sah es sehr sparsam aus. Marmelade, Senf, Eier und eine halbe Gurke. Tessa seufzte.

      „Ich glaube, ich muss nachher noch einkaufen gehen. Brauchst du auch was?“

      „Nein, danke, ich habe alles da.“ Bella stockte. „Wobei … Kannst du mir vielleicht Schokolade mitbringen?“ Sie schaute Tessa mit großen Augen an.

      „Klar.“

      Als Tessa später ihre Tasche für die Uni packte, steckte sie auch noch einen Stoffbeutel fürs Einkaufen ein. Bella hatte ihr erfolgreich abgewöhnt, jedes Mal eine neue Plastiktüte zu benutzen.

      Dann machte sie sich auf den Weg. Tessa besaß zwar ein Fahrrad, aber für den kurzen Weg lohnte sich das nicht. Selbst zu Fuß war sie innerhalb von zehn Minuten dort, da würde es länger dauern, das Fahrrad aus dem Fahrradkeller zu holen und die Treppe nach oben zu schleppen.

      Nein, das war ein Aufwand, den sie sich nur für längere Strecken antun würde. Wie zum Beispiel für die Radtour mit Bella, die sie sich schon ewig vorgenommen hatten. Aber im Sommer war es zu heiß dafür gewesen. Im Herbst machte nasses Laub auf den Straßen das Fahren gefährlich und der Winter kam sowieso nicht in Frage. Jetzt, Anfang Mai, waren die Temperaturen zwar ideal, aber dafür hatte eine Spinne ein kunstvolles Netz zwischen dem Lenker und dem Fahrradrahmen gesponnen. Und die wollte Tessa natürlich nicht stören.

      Wenn sie genauer darüber nachdachte, hatte ihr Fahrrad schon öfter einen Umzugswagen von innen gesehen als die Bielefelder Radwege.

      Mit diesem Gedanken erreichte sie den Westeingang der Universität. Hier waren nie so viele Studierende wie beim Haupteingang; dort wo die Parkhäuser und die Stadtbahn-Haltestelle waren.

      Dafür kam sie auf ihrem Weg an dem Uni-eigenen Schwimmbad vorbei, das um diese Uhrzeit aber noch fast leer war. Ein leichter Chlorgeruch lag in der Luft. Dann mündete der Gang in die Haupthalle und die Lautstärke schwoll an.

      Die Universität Bielefeld erinnerte ein wenig an einen Bahnhof oder an ein Einkaufszentrum. Die Haupthalle war lang gestreckt und im ersten Stock von einer Galerie umspannt. Durch trübe Deckenfenster fiel Tageslicht herein. Und an den Seiten reihten sich verschiedene Geschäfte aneinander: eine Buchhandlung, ein Geschäft für Schreibwaren, eine Post-Stelle, ein Raum mit Geldautomaten, eine Bäckerei und sogar ein Restaurant.

      Dazwischen lagen die Türen zu den Hörsälen und zu den Treppenhäusern, um die einzelnen Fakultäten zu erreichen, die sich wie ein Rudel von Hochhäusern an die Haupthalle kuschelten.

      Tessas Ziel, das Campusradio namens Hertz 87.9, lag auf der linken Seite. Sie folgte einer Treppe nach unten, durch schmale Gänge, die nach Linoleum-Böden und Reinigungsmitteln rochen. Doch je näher sie der Redaktion kam, desto stärker wurde auch der Geruch von Kaffee.

      Die wöchentliche Redaktionssitzung fand allerdings ein paar Räume weiter in einem umfunktionierten Seminarraum statt. Das Eindrucksvollste daran war definitiv die Rückwand des Raums, die auf gesamter Höhe und Breite mit Regalen bedeckt war, gefüllt mit tausenden von CDs.

      Nicht einmal die Musikgeschäfte, die Tessa kannte, hatten eine solche Auswahl.

      Sie setzte sich auf eines der Sofas und legte ihre Tasche neben sich, um den Platz für Djalisa freizuhalten.

      Nach und nach fanden sich die anderen Teilnehmenden des Kurses „Radio- und Online-Journalismus“ ein sowie das reguläre Team des Campusradios. Um Punkt dreizehn Uhr huschte auch Djalisa durch die Tür. Sie entdeckte Tessa, lächelte erleichtert und bahnte sich den Weg zu dem Sofa.

      Djalisa studierte im gleichen Semester Germanistik wie Tessa, allerdings strebte sie keine journalistische Laufbahn an, sondern wollte Dolmetscherin werden. Dass sie bilingual aufgewachsen war, war ein erheblicher Vorteil.

      Anfangs hatte Tessa sie wegen ihrer ruhigen Art und ihrer guten Noten für eine langweilige