In Nordamerika ist die Arbeitslosenquote auf 46% angestiegen. Digitalisierung und Automatisierung sind daran schuld. Erstaunlich, wie gut die Menschen darin sind, Schuldzuweisungen und die Verantwortung von sich wegzuschieben. Haben nicht wir selbst die Digitalisierung der Welt vorangetrieben und die Roboter und vollkommen automatisierten Fabrikeinheiten geschaffen. Ein Roboter ist eine einmalige Investition, ein Mensch mit seinen Launen nur Ballast. Wo soll das alles noch hinführen?
Zugegeben, es fällt mir nicht sonderlich schwer, mir eine Welt vorzustellen, in der alles miteinander vernetzt ist. Zähle ich doch zu der Generation, die in einer digitalen Welt aufwächst. Und dann bin ich auch ziemlich speziell, denn wer außer mir kann sich denn sonst noch direkt mit einem Computersystem und Maschinen verbinden? Ich denke nur wenige oder gar keiner.
Ich sitze hier im Audimax und verfolge weiter die Nachrichten über die Medienanlage.
Immer geht es um die weltweite Vernetzung. Ich habe den Verdacht mittlerweile komplett abgeschüttelt, dass Herr Davidi oder jemand anderes mich irgendwo zeitgleich beobachten könnte, weil er mit dem Institut und diesem Raum vernetzt ist.
Ich sinniere über die moderne Welt. Jayden trägt, seit ich denken kann, ein Armband, das ihm mitteilt, wie viele Schritte er an jedem Tag über seinem persönlichen Soll getätigt hat. Von meinem Smartscreen werde ich aufgefordert, meinen Standort freizugeben, sobald ich das Gelände von TREECSS verlasse. Es gibt eine App, die kann mir dann mitteilen, welche meiner Freunde sich in der Nähe befinden. Ist doch witzig: Wenn ich mich langweile, schaue ich doch mal nach, wer gerade in der Nähe ist. Dann peile ich ihn an und laufe ihm zufällig über den Weg. Wenn er nicht auch gerade entdeckt hat, dass ich in der Nähe bin und panisch das Weite sucht.
Jeder Dritte trägt mittlerweile eine View. Kontaktlinsen die direkt mit dem Smartscreen verbunden sind und dir alle möglichen blödsinnigen Informationen auf die Sehlinse projizieren.
Ich habe Angst, dass zu Ende zu denken. Bis jetzt habe ich den Ortungsdienst ausgeschaltet, trage keine View. Aber vielleicht nutze ich beides doch eines Tages. Und vielleicht bitte ich in zwei oder drei Jahrzehnten meine Kinder ebenfalls, mir die Genehmigung zu erteilen. Ich halte kurz inne. Falls ich überhaupt die nächsten Tage überleben sollte. Ich verdränge diesen seltsamen Gedanken, führe meine Überlegungen weiter.
Wer den Ortungsdienst abschaltet, will nicht, dass ich weiß, wo er sich aufhält. Er hat also etwas vor mir zu verbergen. Meine Fantasie geht mit mir durch. Wie würden sich die Menschen verhalten, wenn sie wüssten, dass alles, was sie tun, aufgezeichnet und für jeden nachvollzogen, eventuell gar in Echtzeit verfolgt werden kann? Würden sie etwas Illegales tun? Andere betrügen? Fahrerflucht begehen? Beim Schreiben einer Klausur schummeln? Die totale Transparenz würde dafür sorgen, dass sich niemand mehr traut, etwas Unmoralisches zu unternehmen. Ich werde paranoid. Ich frage mich, wie weit wir davon entfernt sind oder wie dicht davor? Erschreckende Vorstellung, in so einer Welt zu leben. Seelenlos und gleichgeschaltet.
Das sind ganz schön tiefgreifende Gedanken für ein fast achtzehnjähriges Mädchen, wie ich es bin. Aber es sind die Erfahrungen, die uns ausmachen und nicht das Alter. Und Erfahrungen habe ich jede Menge gesammelt.
Die Nachrichtensprecherin schwenkt jetzt ihren Focus auf die Staaten des Vereinigten Europa. Hier sehen die Entwicklungen nicht besser aus. Arbeitslose und Hoffnungslose auf der einen Seite und die Multikonzerne, auf der anderen.
Nächster Halt:
Russland Sankt Petersburg!
Die bewegten Bilder zeigen nun die weltweite Antiterrororganisation, die ATON im Einsatz. Leuchtfeuer, Einsatz modernster Waffentechnologie, Krach, Explosionen und Rauch in schnell wechselnden Bildern, gemacht wie ein Actionfilm und keine Dokumentation, keine Berichterstattung, was dort wirklich vor sich geht. Ich frage mich, wer daran glaubt, was sie uns weismachen wollen? Ich will auf die Übersicht zurück, keine Sekunde länger Schreckensnachrichten oder Propaganda anschauen. Vielleicht gibt es wirklich auf der Welt nichts Gutes, über das es sich zu berichten lohnt. Ich bin im Begriff auszuschalten, als ich fast etwas übersehen hätte.
Prahlerisch und mit dem aufgesetzten Lächeln der Sieger führen Truppen der ATON eine kleine Gruppe gefangener russischer Terroristen ab. Es sieht so aus, als wären sie auf der Jagd gewesen und nicht im Krieg, als wären es ihre Trophäen und keine Menschen. Aber genau das ist der Punkt. Ich halte das Bild an. Standbild, spule die Zeit einige Sequenzen zurück. Stopp. Wieder Standbild, näher heranzoomen. Was ist das? Was hat da einer der Terroristen, dem sie die Arme über seinem Kopf in Handschellen gelegt haben? Sein Shirt ist hochgerutscht.
Ich justiere Schärfe und Kontrast manuell nach, erhöhe den Anteil der dunklen Bereiche und lasse den Hologrammausschnitt durch den riesigen Audimax auf mich zu schweben, bis ich die Projektion, den nackten Bauch des Terroristen fast berühren kann, durch ihn hindurchgreifen kann. Der Terrorist trägt ein Mal, einen Schmetterling. Ich wische mir mit der Hand über meinen Kopf. Kann das sein? Ich stehe auf, irgendwie gerade wackelig, aber ich schaffe es, bin mit dem Hologramm auf Augenhöhe und es besteht kein Zweifel. Er trägt das Mal der Begnadeten. Der Schmetterling ist nicht sonderlich hübsch, gleicht eher einem kleinen Dämon. Irgendwo in meinem Kopf lasse ich die Option zu, dass es auch nur ein Tattoo sein könnte.
Ich lasse Bild und Ton wieder frei, der Ausschnitt huscht zurück ins Gesamtbild, die Berichterstattung wird fortgesetzt. Ich sehe und höre es ein zweites Mal, bin jetzt aber hundert Mal aufmerksamer, gespannter. Auch wenn die Macher der Nachrichten uns alle nur wissentlich oder unwissentlich manipulieren, will ich doch mehr wissen, was sie uns glauben lassen wollen. Das Terroristennest wurde noch nicht entdeckt, heißt es und die Festgenommenen werden nach dem Verhör der einzig gerechten Strafe für ihre Verbrechen an dem Wohl der Gemeinschaft überführt. Der Todesstrafe.
Ich habe genug! Will die Anlage ausschalten, doch wieder werde ich daran gehindert.
Nächster Bericht:
Deutschland, Freiburg:
Ein mysteriöser Akt des Grauens, hat die Antiterrororganisation, die ATON veranlasst in verschiedenen Clubs der alternativen Szene Razzien durchzuführen.
Ich setze mich auf den Boden, schaue mit offenem Mund zu.
Die ATON und die lokale Polizei ermitteln Hand in Hand, um die Täter zu finden.
Es war ein klassischer Hinterhalt, sagt die Nachrichtensprecherin. Drei unschuldige, deutsche Männer sind in einem Freiburger Parkhaus bei einem brutalen Angriff schwer verletzt worden. Die Opfer schweben noch in Lebensgefahr und werden aktuell in einem künstlichen Koma gehalten, um ihre schlimmen Kopfverletzungen besser behandeln zu können. Die drei Opfer haben keinerlei Anlass gehabt, mit einer Attacke zu rechnen. Von den Tätern fehlt momentan jede Spur, einziger Hinweis ist ein Überwachungsvideo, das aktuell ausgewertet wird.
Sie blenden den Tatort ein, die Kamera wackelt, wie in einem schlecht gemachten Film. Ich erkenne alles wieder.
Ich habe die drei verletzt, ja, aber ich habe sie nicht komareif geschlagen oder ihnen gar tödliche Verletzungen zugefügt. Was zur Hölle ist dort vorgefallen, nachdem ich weg war?
Naomi - Jayden
Verwirrt und noch in Gedanken kehre ich zurück.
Ich bewege mich lautlos durch das Institut. Ich muss nachdenken, aber auf jeden Fall auch irgendwann schlafen.
Manchmal denke ich, das Institutsareal hat noch viel mehr zu verbergen. Geheime Räume hinter verschlossenen, vielleicht sogar unsichtbaren Geheimtüren. Geheimaufträge und Artefakte, die dem engsten Kreis, den ältesten Mitgliedern vorbehalten sind. Ich bleibe für einen Augenblick stehen und werfe einen Blick zurück, auf die Hörsäle, habe ein Geräusch gehört. Ich muss vorsichtig sein, will nicht von der Nachtschicht des Sicherheitsteams erwischt werden.
Ich