Ich kam bei dieser stummen Arbeit mir selbst nahe. Stellte mir Fragen, die ich sonst als töricht abgetan hätte. An vielen Tagen der folgenden Wochen kam ich mit schmerzenden Blasen an den Händen nach Hause, und das Hemd klebte mir schweißnass am Körper.
Ist das nicht verrückt? Ein zweites Mal veränderte mein Bruder für mich die Welt. Das erste Mal mit seiner Geburt, dann mit seinem frühen Tod. Die lästige Frage nach einem Sinn ließ sich nicht abschütten, ich war voller Zweifel.
Ich habe nicht die richtigen Worte für ein offenes Gespräch mit deiner Mutter gefunden. Den Mund aufzumachen, das scheint ja schon immer ein Problem für mich gewesen zu sein. Versteckte Fragen wollte sie aber nicht hören. Mein Unbehagen blieb mir im Halse stecken. Es war schlimmer als ich irgendjemandem hätte verraten können. So blieben wir beide stumm. Aus Angst und Scham unterschlug ich, wie sehr mich ein diffuser Sog erfasst hatte.
Ich spürte, dass an der Art und Weise wie unser Leben verging, dringend ein Meißel hätte angesetzt werden sollen. Aber ich wusste nicht wo, noch wie.
Wenn ich morgens aufstand, konnte ich mich bald nicht mal mehr aufrichten. Unerträgliche Rückenschmerzen, zwangen mich dann zum Arzt.
Meine Schwäche war mir so verhasst. An den Arzttermin kann ich mich noch gut erinnern. Wie ein unterwürfiger Bittsteller kam ich mir vor. Ewig musste ich warten. Mehr Zeit als mir lieb war hatte ich, um meine Umgebung zu betrachten. Und so wie ich die Welt zu dieser Zeit sah, so sah auch das Wartezimmer aus. Ich argwöhnte bei den anderen Patienten geheuchelte Symptome. Unablässig wurde die angestrengte Stille durch lästiges Flüstern beim Herüberreichen zerfledderter Illustrierten, von Hustenanfällen und Naseputzen unterbrochen. Ich fühlte mich fehl am Platz. Es kam mir alles vor wie ein lästiges Trauerspiel. Alle saßen hier um Krankheit zu zeigen.
Ich glaube, ich war selbstgerecht und maßlos unzufrieden. So vermochte ich nichts anderes wahrzunehmen als eine unerträgliche Wartezimmeratmosphäre, geschmückt mit lächerlich ausgedorrten Pflanzen, deren nackten Hälse sich aus zu kleinen Übertöpfen reckten. Durch ungeschlossene Türen der Praxisräume hallten Gesprächsfetzen wider. Ungeachtet dessen führten die Assistentinnen ungeniert Telefongespräche mit Patienten. „Mit Meiers Urinprobe war alles in Ordnung.“ Die am anderen Ende ahnten sicher nicht die unverschämte Indiskretion. Nie - so schwor ich mir - würde ich denen mehr als eine knappe Terminvereinbarung verraten. Dass ich mich noch heute an Details erinnern kann. Da hingen so grässliche Kunstdrucke an der Wand. Aber um den Blicken der anderen auszuweichen, vergrub ich meine verärgerte Aufmerksamkeit darin. Vielleicht war mein Arzt ja Freizeitsegler. Vielleicht war es auch nicht mehr als ein Zufall, dass die Bilder verwahrloste Küstenlandschaften zeigten: Skandalöses Motiv des einen Bildes war eine menschenlose Segelregatta aus der Ferne einer Schlechtwetterfront. Die Segel waren wie Stachel, die auf den drohend grauen Himmel einstachen. Bei dem anderen konnte ich mir - obwohl ich mehr als genügend Zeit hatte - nicht klar über das Thema werden. Ich zweifelte, dass ein Künstler ein derartig beklemmendes Bild tatsächlich hatte malen wollen, geschweige denn einen Käufer hatte finden können. Sollte das wirklich die Darstellung eines verjährten Schiffbruchs sein? Nicht beiseite geräumte Ertrunkene lagen rund um ein gestrandetes Wrack. Bei einer Hand voll vereinzelten Strandsparziergängern erzeugte das keinerlei Gefühlsregung, die trotteten teilnahmslos vor sich hin. Der Himmel dieses Bildes formierte sich zu hässlichen Wolken. Die sahen aus wie Abgaswolken, die aus jenen Schiffsmasten wie aus Industrieschloten aufstiegen. Trotzdem fesselte mich dieses grauenvolle Bild. Vielleicht weil es meiner inneren Welt so ähnelte.
Betäubt von der Betrachtung der trostlosen Motive gelang es mir auch mit Mühe nicht mehr, dem unerhört monotonen Tonfall des Arztes verstehend zu folgen. Ich saß ihm endlich gegenüber und fühlte mich betäubt, unfähig Beschwerden zu formulieren.
Auch wegen meiner Unfähigkeit zur Konzentration hörte ich gerade so eben noch heraus, dass er mich zu einem Spezialisten weiterempfahl. Das war mir recht, hätte er hier schon eine Diagnose eröffnet, hätte ich ihm sowieso nicht glauben können.
So kam es, dass ein Spezialist mir seinerseits einen Termin zur Computertomographie verordnete. Entnervt und unfähig zum Widerspruch und wohl doch noch auf irgendeinen Weg der Besserung hoffend, ließ ich all das über mich ergehen.
„Immer, wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her…“ ein beliebter Kinderreim deiner Großmutter. Vielleicht gar nicht so dumm. In den Sekunden, da mir die Kühle des metallenen medizinischen Geräts bedrohlich nahe zu Leibe rückte, passierte etwas Unerwartetes. Ich fand mich plötzlich eingepfercht in einer bedrohlich, kalten Röhre wieder. Überflüssig die Anweisung, mich möglichst nicht zu bewegen. Ich lag erstarrt. Wie in einem Sarg aufgebahrt, schoss es mir durch den Kopf. Und beinahe hätte ich mich für die nächsten Minuten in diesem Selbstmitleid geaalt.
Es ereignete sich jedoch etwas völlig anderes. Ich kam wieder zur Besinnung. In der bedrohlichen Enge des Raumes schreckte ich zusammen, denn mir fiel plötzlich wieder unsere Höhle ein. Unglaublich, dass ich die Höhle vergessen hatte!
Ich weiß nicht, ob du das nachvollziehen kannst, aber ich jubilierte in einem aussichtlosen Spiel doch noch eine Trumpfkarte gezogen und unerwartet plötzlich noch eine reale Zuflucht erinnern zu können. Dass ich daran nicht eher gedacht hatte!
Geschlagene zwei Wochen hatten dein Onkel und ich unsere Neugier nach unserer Explosion im Zaum gehalten, aber dann endlich nutzten wir die Gelegenheit, das Ergebnis unserer Sprengung zu begutachten. Und wir hatten sagenhaftes Glück!
Die Explosion hatte einen Spalt aufgebrochen und eine Sehne freigegeben. Nur auf allen Vieren kriechend, ließ sie sich entdecken. Vielleicht ein Weg zu einem jahrtausendelang verschlossenem Luftvakuum oder dem Platzhalter einer vorsintflutlichen Eiszunge.
So eng wie die Höhle war, bot sie nur jeweils einem von uns genügend Raum, und so erlebten wir sie voneinander getrennt. Sie hatte eine Form, die einem Schneckenhaus ähnelte. Für Andreas kleinen Körper war der Einlass ein Kinderspiel.
Ich tüftelte um eine Technik, mich möglichst tief ins Felseninnere zu drängen. Dabei musste ich mich auf den Rücken legen, meine Arme eng am Körper vorbei ganz weit hineinstrecken, meine Hände Halt finden lassen, um mich dann Kraft meiner Finger in den gekrümmten Anstieg hochziehen. Dort angelangt presste ich, soweit es ging, die Beine an mich heran. Den Körper gleich einer Raupe zusammenziehend, stemmte mich der Widerstand meiner Fußballen wieder weit ausdehnend in die Krümmung hoch.
Bald hatte ich Übung, geschickt in diesen Kanal einzudringen.
Wir hatten damals den Zugang zu einem ungeheuren Geheimnis gefunden! Zum einen die Geborgenheit im Schoße eines Urgesteins, zum anderen kitzelten wir die Todesgefahr heraus, denn wir schoben uns zwischen das Gesetz der Natur, lieferten unsere Körper an etwas aus, das uns zu zermalmen die Macht hatte. Hier war der Phantasie keine Grenze gesetzt. Wir vertrauten dem Fels unsere geheimsten Wünsche an, schworen heilige Schwüre oder reisten in seiner Raumkapsel zum Mond und zurück.
Im schwärzesten Stockfinster walteten magische Energien der Ewigkeit.
Die Lösung aller Fragen war im Paradies meiner Kinderheimat zu denken. Wie hatte ich das vergessen können! Ich musste dorthin zurück!
In der Nacht blieb ich schlaflos, gleich am nächsten Tag wollte ich dorthin. Viele Gedanken pochten durch meine Schläfen. Ich schlich zum Schlafzimmerfenster unseres damaligen Hauses und weiß noch genau, es war eine klare Vollmondnacht. Mit weißem Mondlicht schlich ein Labyrinth aus Licht und Schatten entlang unserer Fassade. Ich lehnte mich in dieser Nacht hinaus, um das Baugerüst an unserer Hauswand zu betrachten.
Dieses verfluchte Haus. Der Neubau hatte uns nichts als Ärger gebracht. Jetzt zog sich auch noch ein dicker Riss schamlos durch seine Fassade. Vom Dachgiebel hinunter bis in den Keller. Ich dachte über den Ärger mit unserem schmierigen Bauherrn nach, der bei der Frage nach der Ursache mit den Schultern zuckte. Ich dachte über die Scheiß Vollkommenheit unseres Gartens nach. Und fragte mich, wer von uns all die messingfarbenen Türknäufe, sorgfältigen Gardinenarrangements und passenden Teppichläufer angeschafft hatte. Fragte mich, wo die Zeit