Endlich andere Gedanken denken. Petra Siglind Reiter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Petra Siglind Reiter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753191379
Скачать книгу
glaubte ich die Hand meines kleinen Bruders in der Meinen noch mal zu spüren. Die Zeit spielte verrückt.

      Als Andreas geboren wurde, war ich sechs Jahre und wollte unbedingt stark sein. Stolz und vernünftig an der Seite meines Vaters stehen. Es gibt ein Foto in einem unserem Familienalbum, da ist diese Vergangenheit treffend eingefangen. Du kennst es. Mein Vater sitzt da und hält meinen neugeborenen Bruder auf dem Arm. Ich kerzengerade daneben, die Hand auf dem Knie meines Vaters. Ganz ernst und für die Ewigkeit fest gehalten. Ich könnte den Kopf schütteln, viel zu lange und zu früh habe ich viel zu viel schwer genommen.

      Du weißt, ich habe meine Kindheit in der Nähe von Münster verbracht. Wir wohnten direkt am Steinbruch. Bei uns gab es nicht einfach Nachbarskinder, die gegenüber wohnten. Der Schulbus brachte mich und später auch meinen Bruder nach Havixbeck, das war es auch schon mit der weiten Welt. Ich verbrachte in meiner frühesten Kindheit viel Zeit in der Werkstatt meines Vaters, deines Großvaters, obwohl er mich dazu nie aufforderte. Er beschwerte sich allerdings auch nicht über meine Anwesenheit. Ich habe zu wenig über ihn erfahren. Wie wenig ich Dir anvertraut habe und wie ähnlich ich ihm geworden bin….

      Dein Großvater ließ mich bei der Arbeit über seine breiten Schultern zusehen. Und ich sah ehrfürchtig zu. Wenn er mir ab und zu kleine Handlangerdienste zukommen ließ, war ich eifrig dabei und immer um höchste Sorgfalt bemüht. Alles was er tat erschien mir gut und zutiefst richtig.

      Dein Onkel Andreas, mein kleiner Bruder, änderte meine Welt. Er war von Anfang an anders. Alles drehte sich um ihn. Erst weil er ein hilfloses Wesen war, dann weil ihn, sobald er laufen konnte, alles zum Anfassen reizte.

      Die unantastbaren Maschinen mit ihren gefährlichen Klingen taugten plötzlich zum wilden Krachmachen. Bis zur Erschöpfung ausgenutzt, landeten sie anschließend, ohne geringsten Schaden genommen zu haben, zurück im staubigen Regal, der alltäglichen Arbeit ausgeliefert. Ich beobachtete wie Vater alles duldete.

      Und meinem Bruder war nichts heilig. Das galt sogar für Vaters Steine. Im Schatten unseres Hauses türmte sich die Landschaft eines geordneten Steinfriedhofes. Ausrangierte Grabsteine warteten hier neben noch unbearbeiteten Felsbrocken - nach Beschaffenheit sortiert - auf ihre Entwertung. Für mich lastete in dieser Stille der Anspruch des Ernstes, auch des bedrohlichen Todes. Der Vergänglichkeit.

      Darüber setzte sich Andreas von einem zum nächsten Stein hüpfend unbefangen hinweg. Nun beobachteten wir gemeinsam meinen Vater dabei wie er kategorische Schläge mit Hammer und Meißel ansetzte. Ich fürchtete meines Vaters Handwerk mit dem er jeden Stein bloßzulegen verstand, um ihm seinen Willen aufzuzwingen.

      Aber Andreas wurde es einfach langweilig. Auf der Suche nach Abenteuern legte er im nahen Steinbruch einen Klumpen frei, mit dem er unser beider Phantasie entfachte und uns auf die Spur faszinierender Erdgeschichten brachte. Ich verbündete mich mit ihm. Immer wissend, ihm nie das Wasser reichen zu können. Bestimmt war ich neidisch, aber glaub mir, ich liebte ihn sehr.

      Gemeinsam kratzten und schürften wir, um in Vollmondnächten grandiosen Juwelen ihren mystischen Zauber zu entlocken. Wir fieberten dem Stein der Weisen entgegen oder hofften eben doch Gold zu entdecken. Vermuteten größte Kostbarkeiten in verborgenen Tiefen unserer Jagdgründe. Seine Unbekümmertheit riss mich mit.

      Und es war mehr als ein Kinderspiel. Wir entdeckten die Schönheit der Mineralien. Immer werden Steine etwas Besonderes für mich bleiben.

      Ich bewunderte Andreas um seine Phantasie und wusste, dass ich seinen Erfindergeist nie zu übertreffen vermochte. Eines Tages setze er die Idee in die Welt, tief ins Herz der Felsen vordringen zu wollen. Was für eine ungeheuerliche Idee! Während ich mich noch mit Gedanken um geeignetes Werkzeug aufhielt, hatte er die Lösung schon in seinen Hosentaschen.

      Wie organisiert ein Sechsjähriger Sprengstoff? Würde Vater das nicht sofort auffallen? Kein Problem für Andreas.

      Es sollte uns Schürfwunden und unserer Küche das Fenster kosten. Der Erdrutsch hatte glücklicherweise vor dem Dickicht der Grabsteine Halt gemacht Aber das Geröll schob eine gewaltige Staubwolke vor sich her und drückte sich durch alle Ritzen unseres Hauses.

      Was für ein sagenhafter Tag war das! Der ansonsten polierte Mahagonischrank mit all seinen kleinen Fächern und Schublädchen bewahrte am längsten seine feine Staubschicht.

      Wir schwiegen über unseren heimlichen Triumph, ein solch halsbrecherisches Abenteuer in Gang gesetzt zu haben.

      Dein Großvater machte weniger Worte als befürchtet. Bestimmt, weil er froh war, dass alles noch einmal gut gegangen war. Außerdem fühlte er sich über die Sicherheitsvorkehrungen seines Handwerkzeugs anfechtbar geworden und hegte uns gegenüber fortan noch größeres Misstrauen.

      Dein Großvater. Du wirst dich kaum mehr an ihn erinnern können. Er war ein kraftvoller Mann. An seinen Armen traten von oben bis unten dicke blaue Adern hervor. Seine Hände waren prall und riesig, innen voller Schwielen. Von frühester Jugend an hatte er körperlich schwer gearbeitet. Ein Felsbrocken war ihm noch während seiner Lehrjahre auf den Fuß gestürzt und hatte die Fußknöchel seines rechten Beines zersplittert. Das war eine der wenigen Geschichten, die er über sich erzählte und tatsächlich schüchterte sie uns ein.

      Trotzdem, wir wagten uns doch immer wieder ins Felsenmeer. Vater hatte trotz dieses Unfalls augenscheinlich an Beweglichkeit kaum eingebüßt. Schmerzen begannen ihn erst Jahre später zu plagen. Als er noch jung war, zwang ihm jedoch dieses Handicap eine ganz eigene Gangart auf. Man konnte nicht übersehen, was für ein ausgewogen standhafter Mann er war. Sein Körpergewicht verlagerte er stets mit Bedacht Schritt für Schritt von einem Fuß auf den anderen Fuß. Und er war groß und breit, seine Körperkraft vermochte er auf einen ganz bestimmten Punkt auszurichten. Sein Blick war Zeugnis dieser Fähigkeit. Wenn er so vor uns stand und uns und die Beschaffenheit unserer Steinschätze umfassend erläuterte, schwiegen wir betroffen. Denn er beraubte unseren Steinen ungewollt ihre Magie. Kann mich nicht erinnern, meinen Vater je schwach oder krank gesehen zu haben. Immer war er so stark, dass ich mich meiner kindlichen Ängste schämte.

      Warum ich Dir das erzähle? Was das mit Deinem Kummer zu tun hat? Vertraue mir bitte. Es gehört dazu, denn ich bin ein Teil deiner Geschichte und bereue, dass du meine innerste Sicht der Dinge erst heute erfährst.

      Nur wenige Stunden nach der Beerdigung deines Onkels standen Großvater und ich im stillen Einverständnis vom Küchentisch auf, auf dem meine Mutter leise weinend den Kopf gestützt hielt.

      Als Kinder hatten wir manches Mal an jenem Tisch gesessen und zugeschaut, wie Mutter mit flinken Handbewegungen ihr wildes Haar in einer Spange bändigte, im Vorbeilaufen nach Tasche und Jacke griff, uns einen Handkuss zuwarf und hinauseilte. Und wir warteten immer gespannt auf ihre Rückkehr. Denn sie hatte sich schließlich nichts Geringeres zum Beruf gemacht, als kleinen Menschen auf die Welt zu helfen. Und immer gab es etwas Großartiges, Besonderes zu erzählen.

      Waren deine Großeltern nicht ein herrliches Paar? Sie brachte Menschen auf die Welt und er sorgte dafür, dass sie ordentlich unter die Erde kamen. Erst im Alter habe ich solche Zusammenhänge zu sehen gelernt. Früher habe ich beide nicht verstanden.

      Damals blieb meine Mutter im tiefsten Kummer am Tisch zurück. Ihr eigener Sohn war ihr entglitten. Schlimmeres als ein Kind zu verlieren, gibt es wohl nicht. (Du hast dein Kind nicht verloren! Du kannst Deinem Kind eine der Königslektionen des Lebens zeigen: wie man Kummer und Sorgen begegnet und gerade dort Mut, Kraft und Lebensfreude schöpft!)

      Noch in den Hosen des Beerdigungsanzuges krempelten Großvater und ich die Ärmel unserer weißen Hemden hoch und gingen an die Arbeit. Vater hatte unserem Steinbruch einen riesigen Quader abgerungen, roh und scharfkantig. Ein Rätsel wie er bewerkstelligt hatte, diesen gewaltigen Felsbrocken in die Werkstatt zu schaffen. In den ersten Tagen kam ich direkt nach Laborschluss, um mit Hammer und Meißel meine Trauer abzuarbeiten.

      Weder mein Vater noch ich hatten zu Beginn die endgültige Form des Grabsteins bestimmt. Du musst dir dessen Ausmaß so vorstellen, dass unsere Arbeit anfangs darin bestand, ihn auf ein geduldetes Format herunter zu schlagen.

      Und dann war es aber so, als ob uns seine Beschaffenheit seine Form