Briefe an meinen Sohn.
Mein lieber Sohn!
„Glaub mir, ich kann mir ungefähr vorstellen wie dir jetzt zumute ist!“
Diesen Satz musste ich mir vor vielen Jahren von deiner Oma anhören und damals dachte ich wütend, „was weiß die schon wie es mir geht. Die hat doch keine Ahnung.“ Und heute ringe ich um einen Satzanfang für einen Brief an dich und mir fällt nichts Besseres ein.
Deine Frau hat dich verlassen und dein Sohn sitzt nun mit einem fremden Mann am Frühstückstisch.
Ich weiß nicht einmal, ob du deine Gedanken genug beisammen halten kannst, um diesen Brief zu lesen. Hätte ich doch bloß gestern schon Worte gefunden. Wir hätten reden sollen, aber ich war sprachlos. Als du wieder fort warst, war ich erst mal total niedergeschlagen, fühlte mich unendlich müde, rat- und kraftlos. Und ich dachte, es steht mir zu. Ich dachte, ich bin 78 Jahre alt, uralt und verschlissen.
Aber heute Morgen saß ich hier an meinem Wohnzimmerfenster und dieser Ausblick, der seit zwei Jahren mein einziger Anblick ist, gibt mir plötzlich ungefragt eine andere Antwort. Ich hatte sie bloß vergessen!
Glaub mir, ich bin frisch und bei Verstand, als hätte ich die Entscheidung zum Leben ganz neu getroffen. Ich bin so aufgeregt, möchte so gerne mit dir sprechen und dir erzählen. Ich will nicht warten, bis du mich wieder besuchst. Was ich dir zu sagen habe, ist dringend!
All die Jahre reden wir bei Kaffee und Kuchen über das Wetter und andere freundliche Dinge. Anstatt ein echtes Gespräch zu finden über das, was uns wirklich bewegt. Verzeih mir! Jetzt möchte ich dich am liebsten nehmen und aufrütteln. Erst jetzt, wo du Hilfe brauchst!
Weißt du, stundenlang sitze ich in meinem Seniorenkomfortsessel und schaue hinaus. Auf der Straße herrscht unablässig Verkehr. Und im Viertelstundentakt hält die Stadtbahn an unserer Haltestelle. All das sehe ich durch das Laub der Kastanien, die vor meinen Butzenfenstern stehen. Einige Krähen hocken dort unbeirrt tagein, tagaus. Und heute Morgen dachte ich, jetzt ist Schluss. Ich habe keine Energie mehr, sie aufzuscheuchen. Die ganze Welt kam mir vergeblich und sinnlos vor.
Meine Pflegekraft will immer wieder aufs Neue überredet sein, für die ausreichende Menge Erbsen zu sorgen. - Ein schrulliger Greis, der wie ein kleiner Junge auf Vögel schießt ... Aber weißt du, Frau Mackenroths Entrüstung ist nur zu unser beider Kurzweil gespielt. In Wahrheit kann sie die Viecher auch nicht leiden. Ich weiß es, denn wann immer im angrenzenden Westfalenstadion Borussia Dortmund spielt, sich die Zeugen Jehova treffen oder sonst was in der Westfalenhalle los ist, platzt unser Parkplatz und sie muss unter den Bäumen parken. Dort dauert es nicht lang bis die Krähen ihren Fiat Punto einsauen.
Und heute Morgen fällt es mir plötzlich wieder ein! Es gibt noch einen zweiten, wichtigeren Grund, die Viecher aufzuscheuchen.
Würde ich mir nicht den Spaß machen, sie mit Erbsen zu beschießen,
gäben sie ihren Stammplatz nur zum tot runterfallen auf.
Welch eine Verschwendung von Lebenszeit angesichts ihrer Fähigkeit zum Fliegen!
Vielleicht sind uns die Krähen näher als wir denken. Du kannst mir glauben, in den letzten sieben Jahrzehnten bin ich auf vielerlei Art unter Beschuss geraten. Und eine der nicht heilen wollenden Wunden war es, von deiner Mutter verlassen und von dir getrennt worden zu sein. Es kann sein, dass Demütigungen nie ganz verwunden werden.
Glaub mir, ich kann mir vorstellen, was du durchmachst und wünschte, du könntest diese Pestzeit besser überstehen. Wenn ich bloß wüsste, wie ich dir helfen kann? Ich erzähle dir einfach von mir, vielleicht hilft das. Wo fange ich am besten an?
Wenn ich mir überlege wie wenig ich von mir gezeigt habe! Jetzt will ich den Mund aufmachen und hoffe, es ist nicht zu spät.
Bitte vergiss nie, Du bist nominiert, auf dieser Welt zu sein, kannst nicht einfach wie ein Politiker dein Amt hinschmeißen, sondern sollst dem, was dir begegnet auf eine dir ganz besondere Art entgegen treten.
Dein Lukas ist fünf Jahre alt und du vierzig. Wie das Leben von Wiederholungen zehrt! Wo ist bloß die Zeit geblieben? Als ich so alt war wie du, fühlte ich mich im Stillen schon eine Weile unbehaglich.
Ich weiß noch wie sich meine große Lebenswende schon beim Bleigießen am Silvesterabend ankündigte. Wir feierten den Jahreswechsel bei meinen Eltern und deine Großmutter hatte Phantasie und eine Menge Intuition, dass sie aus allen gegossenen Klumpen Erstaunliches heraus zu reden vermochte. Immer wieder verblüffte sie uns. Meinen Klumpen deutete sie als Schere – ausgerechnet! Ob man an so was glaubt oder nicht - als meine gewohnte (aber doch auch schon „verwohnte“!) Welt bald darauf wie ungeliebte Fotos zerschnitten wurde, fiel mir der Silvesterabend brühend heiß wieder ein.
Kann man jemandem, der verzweifelt ist besseres tun als nickend beipflichten? Ich denke: Ja! Mir hat etwas geholfen:
Das Andersdenken.
Ich will dich ermutigen, dich darauf einzulassen, die Dinge anders zu sehen. Das ist eine erste handgreifliche Möglichkeit etwas zu verändern und reine Übungssache.
Nehmen wir doch mal die Schere, von der ich gerade gesprochen habe. Aber nicht bloß als Begriff, sondern stellen wir sie uns richtig als Bild vor und nicht nur die, sondern mehrere Scheren, am besten gleich alle Krisen/ Scheren meiner letzten Jahre: da liegen sie alle wohlgeordnet auf dem Küchentisch meiner Erinnerungen. Wenn ich mir das Elend so angucke, könnten mir glatt die Tränen kommen: aber besser wir formieren die Scheren zu einer stolzen Garde von 8ten. Das machen wir so wie deine Mutter dir als Kind gezeigt hat aus der Ziffer „2“ stolze Schwäne zu malen, so denken wir uns die Scheren also zu 8ten.
Und dann? Erblindet an Verzweiflung und Sturheit übersieht man als Erwachsener leicht, was jedes Schulkind lange weiß: Man ändert die 8 - auf den Kopf gestellt - nicht ein bisschen. Du wirst deine Situation stundenlang zermürbend bedenken, ändern wirst du damit nichts.
Aber Achtung: Es gibt eine Mechanik, die der 8 beibringt, sich beiseite zu legen. Auf einem Blatt Papier sieht das so aus:
∞
Was heraus kommt ist eine Endlosschleife.
Auf dem Papier haben wir sozusagen die mathematische Aussage unserer 8 schon mal völlig verändert.
Scheitern wir im Leben nicht immer wieder an Situationen, die sich zu wiederholen scheinen? Als würden wir dauernd auf einer Strecke fahren, die uns an altbekannten Schwachstellen vorbeiführt. Das sind Endlosschleifen, die einen mürbe werden lassen können. Könnte aber auch sein, dass die der einzig plausible Grund sind, warum wir alt werden, anstatt wie Eintagsfliegen von der Decke zu fallen: Um es beim nächsten Mal anders, besser zu machen! Man muss die Bahn dieser Endlosschleife durchbrechen, anders ist ihr nicht beizukommen.
Auf dem Papier ganz einfach. Im Kopf ist das verflucht schwierig. Doch es geht: Man kann lernen, anders zu denken.
Mein Junge, du bist doch Kunstschmied und gehörst du zu denen, die schwungvolle Geländer zu schmieden verstehen?! Bitte konzentriere dich auf deine Stärken. Andere ändern, kannst du nicht! Aber ich wünschte zu sehen, wie du die Ärmel hochkrempelst und das tust, was dir eigen ist.
Mein Jahr der großen Krise fing für unsere ganze Familie entsetzlich an. Erinnere mich, wie ich dich fest in meinem Armen gehalten habe auf dem Weg zum frischen Grab deines Onkels. Farbenfrohe Blumenkränze auf einem lehmigen Erdhügel, darauf ein Holzkreuz gerammt. Unzählige Male las ich die Aneinanderreihung der schwarz geschwungenen Buchstaben, die tatsächlich ausgerechnet seinen Namen formten. ANDREAS HENKEL. Unfassbar.
Dass mich die Begegnung mit dem Tod so treffen könnte, hatte ich nicht für möglich gehalten. Ich war fassungslos und hilflos. Das hörte gar nicht mehr auf.
Ich machte mir Vorwürfe, den eigenen Bruder in den letzten Jahren aus den Augen verloren zu haben. Immer wieder fielen mir Episoden aus der Vergangenheit ein. Mitten in der Nacht, aber auch am Tage war ich ausgeliefert.
Die Gegenwart und der Schreck der Trauer konnten mich beim Abstellen einer Kaffeetasse zerfleischen. Ein anderes