Mit jedem Satz wurde sie lockerer und beantwortete souverän Zwischenfragen. Das dachte sie zumindest, bis Hajo sie mit jovialem Lachen unterbrach: „Das war jetzt vielleicht etwas übertrieben dargestellt. Was Frau Herzog sicherlich gemeint hat…“ Was sie angeblich gemeint hatte, nahm Johanna nicht mehr war, denn Napoleons Worte gingen in einem plötzlichen heißen Rauschen in ihren Ohren unter.
Sie wusste nicht, wie sie ihren Vortrag zu Ende gebracht hatte, aber irgendwann hörte sie sich sagen: „Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Auch in den nächsten Wochen stehen wir Ihnen für Fragen…“
„Vielen Dank, vielen Dank!“, unterbrach Hajo sie erneut. „Wir sind uns sicher, dass zukünftig keine Probleme mehr auftreten werden. Empfehlen Sie uns gerne weiter!“
Wie konnte man sich in einem Moment so gut und schon im nächsten so gedemütigt fühlen? In Johanna flackerte ein irrwitziger Gedanke auf: Sie nahm ihre Notizen und zerriss sie vor Hajos Augen in winzige Stückchen, während sie dem Kunden erklärte, dass zukünftig garantiert wieder dieselben Probleme wie vorher auftreten würden, da Stegmann & Partner kaum mehr als einen Wimpernschlag lang in deren Lösung investiert hatte. „Ich kündige!“, sagte sie dann mit fester Stimme und schritt würdevoll aus dem Raum. Natürlich würde sie so etwas niemals tun, aber der bloße Gedanke half wenigstens ein kleines bisschen gegen die Hilflosigkeit.
* * *
Vielleicht wäre es aber auch viel stilvoller (und warum sollte sie sich denn auf Hajos Niveau herablassen?), nicht vor dem Kunden zu kündigen, sondern das Schreiben einfach kommentarlos auf den Schreibtisch im Glaskasten zu legen. Wenn Hajo es las, würde er entsetzt sein und alle könnten es durch die Scheiben sehen und ihn anstarren wie ein exotisches Tier…
Johanna saß auf der ausladenden Sofalandschaft in Moritz Wohnung und versuchte, noch ein wenig zu arbeiten. Nach dem heutigen Präsentationsdebakel hatte sie sich im Büro einfach nicht mehr konzentrieren können. Aber leider schweiften auch jetzt ihre Gedanken immer wieder ab und konstruierten diese absurden Szenarien, die komischerweise besser wirkten als eine starke Kopfschmerztablette.
„Was hast du?“, fragte Moritz, der mit einem Erdnussbutter-Toast aus der Küche kam (was fanden nur alle an diesem Zeug?).
„Nichts, ich war nur in Gedanken“, murmelte Johanna.
„Das solltest du lassen. Sieht nicht sehr sexy aus“, neckte Moritz sie. Johanna war sich jedoch nicht sicher, ob das wirklich als Scherz gemeint war. „Außerdem mag ich es gar nicht, wenn du nicht wirklich bei mir bist“, fügte er traurig hinzu und kuschelte sich an sie.
Johanna küsste ihn gerührt und entschied, ihm doch die Wahrheit zu sagen. Er liebte sie, da war das doch nur fair. „Weißt du, ich hatte nur gerade überlegt, ob es richtig ist, für Hajo zu arbeiten…“
„Klar, ist das richtig“, antwortete Moritz schulterzuckend. Jetzt wieder ganz munter streckte er sich entspannt auf dem Sofa aus, wobei etliche Ausdrucke und Notizzettel zu Boden segelten. „So ist doch der Plan. Du arbeitest da drei Jahre und dann geht die Karriere ab.“ Er knabberte an ihrem Ohrläppchen, dann fügte er hinzu: „Und ich will doch eine erfolgreiche, sexy Freundin. Also denk‘ nicht weiter über sowas nach!“
Natürlich hatte ihr Freund Recht, trotzdem war Johanna enttäuscht. Während sie sich wieder in ihrer Arbeit vergrub, verschwand er erneut in der Küche und hielt ihr kurze Zeit später ein Schokoladenherz unter die Nase. „Hier, Hanni-Bunny, du kannst wohl ein bisschen Aufmunterung gebrauchen.“
„Danke“, erwiderte Johanna und drehte die Süßigkeit in den Händen. Feinste Vollmilchschokolade. Sie hasste Vollmilch. Schon immer. Trotzdem war es ein Herz. Sie sollte sich wirklich mehr freuen. „Das ist lieb von dir!“
Sie versuchte, sich die erfolgreiche, sexy Variante von ihr vorzustellen, die Moritz sich wünschte. Es klappte nicht. Moritz schob ihr ein Stück Schokolade in den Mund und Johanna kaute es tapfer. Dieser Tag war sowieso ruiniert, da änderte auch die widerliche Süße der Schokolade nichts mehr. Oder die Tatsache, dass ihr Freund auch nach drei Jahren Beziehung noch nicht wusste, dass sie ausschließlich Zartbitterschokolade mochte. Während Johanna unter seinen Küssen tiefer in die Polster rutschte, lief in ihrem Kopf ungefragt ein weiterer Film ab:
Ihr imaginäres, selbstbewusstes Selbst packte seine Sachen und ging.
Kapitel 5
U2 ab Burgstraße
Die Türen der U-Bahn schlossen sich mit dem typischen Piepen, das die Fahrgäste davor warnen sollte, noch einzusteigen, aber regelmäßig das Gegenteil erreichte. Auch jetzt fingen zwei Teenager an zu rennen und quetschten sich noch in letzter Sekunde in den Wagon, wodurch sie eine Frau mit Kinderwagen zwangen den Geschäftsmann neben sich näher kennen zu lernen. Johanna achtete weder auf das Gedränge um sie herum noch auf den durchdringenden Warnton. So häufig, wie sie den öffentlichen Nahverkehr frequentierte, hatte sie gelernt, ihre Umgebung dabei auszublenden (nur beim Geruch von Döner aus der Sitzreihe hinter ihr gelang ihr das noch nicht ganz).
Überhaupt hatte sie von Zeit zu Zeit das Gefühl, in den muffigen Wagons zu leben: Von der WG ins Büro, von dort zu Moritz, zurück in die WG, nochmal zu Moritz, am Morgen wieder ins Büro, am Wochenende zu ihren Eltern und zwischendurch den Einkauf nicht vergessen… Es war doch wirklich ein Segen, wie gut das Hamburger Schienennetz ausgebaut war! Manchmal fragte Johanna sich, ob andere Fahrgäste sie wohl wiedererkannten und bei sich dachten: Ach, die sieht aber noch gut aus, dafür, dass sie in der U2 wohnt! Aber nein, wenn sie jemand beobachten sollte, würde er schnell merken, dass sie immer nur zwischen der Haltestelle Burgstraße und dem Hauptbahnhof pendelte. Um dort in eine andere Linie zu wechseln…
Mit einem Mal fühlte Johanna sich jetzt wirklich beobachtet und blickte auf. Neben ihr stand eine adrette, ältere Dame, in deren bohrendem Blick eine unmissverständliche Aufforderung lag. „Darf ich Ihnen meinen Platz anbieten?“, fragte Johanna folgsam und noch während sie ihre Tasche und Jacke zusammenraffte, war die Dame auf den freigewordenen Sitz gehüpft. „Gern geschehen“, murmelte Johanna und zwängte sich in eine Ecke. Sie holte ihr Notizbuch wieder hervor, obwohl sie gar nicht wusste, was sie notieren wollte. Seit sie sich verboten hatte, ihre bösen Gedanken auf Papier zu bringen, fehlten ihr immer häufiger die Worte. Aber die Gedanken waren trotzdem da, deswegen musste sie sich irgendwie ablenken. Am besten mit etwas Zielführendem, alles andere war schließlich sowieso Zeitverschwendung.
To Do
Online-Banking
Friseurtermin
Mantel in die Reinigung!
Den würde sie bald brauchen, denn morgens war es bereits empfindlich kalt. Johanna sah gedankenverloren durch die Scheibe in eine hellerleuchtete Haltestelle, ohne wahrzunehmen, welche es war. Dann beschleunigte die U-Bahn wieder und tauchte in ihren dunklen Tunnel. Dunkel und endlos, dachte Johanna, auch wenn das natürlich Unsinn war.
Zahnarzt:
26.11. 15:00 Uhr
! Hajo ansprechen !
„Und? Wie war dein Tag?“, erkundigte Linea sich, während sie sich mit ihrer Teetasse in der Größe einer Blumenvase unter der Decke verkroch.
„Gut, denke ich“, erwiderte Johanna und setzte sich zu ihr aufs Sofa. „Gib‘ mir was von der Decke ab!“
„Was heißt ‚denke ich‘?“, hakte Linea so unbarmherzig nach, wie nur gute Freundinnen es können.
„Wir haben ein Projekt abgeschlossen.“
„Ok, das ist doch wirklich gut, oder?“
„Nicht für den Kunden“, erklärte Johanna, „denn wir haben einen Scherbenhaufen hinterlassen. Aber gut für Hajo, denn er konnte eine gesalzene Rechnung schreiben.“ Sie angelte ein paar Nüsse aus der Schale auf dem Couchtisch und knabberte daran wie ein Eichhörnchen. „Und was gut für Napoleon ist, muss wohl auch gut für uns sein“, fügte sie hinzu.
Weihnachten