Geschichten des Windes. Claudia Mathis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Mathis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753197715
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auch wieder rausfahren.“

      Lino nahm die Kerze vom Tisch und verriegelte die Tür. Dann löschte er die Flamme und legte sich auch schlafen, sehr glücklich über diesen geselligen Abend. Oben krochen die jungen Männer in ihre Betten und schliefen sofort ein. Der Schlaf in den alten Betten war besser als in der nur drei Fuß23 breiten Koje, tief und herrlich, nur etwas zu kurz.

      Als Sean am nächsten Morgen leise die Treppe hinunterschlich, weil er dachte, dass Lino noch schlief, fand er das Zimmer leer vor.

      Eine kurze Verwirrung stellte sich bei ihm ein, doch dann erinnerte er sich daran, dass Lino gestern erwähnt hatte, dass er vor dem Morgengrauen mit seinem kleinen Boot hinausfuhr, um zu fischen. Etwas enttäuscht ging Sean zum Tisch und bemerkte zu seiner großen Freude, dass ihr Gastgeber ihnen ein Frühstück hergerichtet hatte. Auf dem Tisch standen ein Teller mit Brot und eine Schüssel mit etwas, das er aus Lissabon kannte: Stockfisch. Sean erinnerte sich, dass das Nationalgericht Portugals – bacalhau - meistens aus gesalzenem und getrocknetem Kabeljau hergestellt wird.

      Arthur kam kurz danach die Treppe herunter und setzte sich zu Sean. Er fand es inzwischen recht gemütlich in dieser Hütte, ihm und Sean schmeckte das Essen.

      Frisch erholt und gestärkt traten Sean und Arthur kurz darauf ihren Dienst wieder an. Sie versuchten, bei der Einteilung ähnliche Arbeitszeiten zu bekommen und es funktionierte ziemlich oft. Sie freuten sich schon sehr darauf, gemeinsam die Insel zu erkunden und bekamen dazu bald die Möglichkeit, denn sie sollten Feuerholz zusammensuchen.

      Als sie aus dem Ort liefen, erfreuten sich ihre Augen an dem saftigen Grün, das überall die Landschaft umspielte. Es war ein willkommener Kontrast zu dem ewigen Blau oder Grau der letzten Wochen.

      „Ist dir schon mal aufgefallen, wie warm es hier ist? Wir haben doch eigentlich schon fast Winter! Und auch die Luft und der Wind sind nicht so eisig“, staunte Arthur.

      „Das kommt vom Floridastrom24. Dabei handelt es sich um einen warmen Meeresstrom. Den habe ich auf Wilhelms Seekarte gesehen und er hat es mir erklärt“, erläuterte Sean.

      Arthur nickte erstaunt und sie gingen weiter. Anfangs liefen sie durch kurze, immergrüne, gebüschartige Macchia, bis sie schließlich zu dem für sie brauchbaren immergrünen Lorbeerwäldern kamen. Diese erstreckten sich überall an den Hängen des größten Vulkans der Insel, dem Cabeço do Gordo. Es war sehr anstrengend, immer wieder Holz zu schlagen, zu entblättern, mit der Axt zu zerkleinern, zu bündeln und mit ihren Rückentragen zum Schiff zu bringen. Bald schon hatten sie Schwielen und Schrammen an den Händen und schwere Beine.

      Nach dem letzten Gang für diesen Tag setzten sich Sean und Arthur erschöpft an den Hafen und wurden durch einen atemberaubenden Sonnenuntergang entschädigt. Der gesamte Himmel schien zu leuchten, in der Mitte ein Glutrot, dann flammendes Orange, das in kräftiges Gelb überging. Daran schlossen sich zauberhafte Farbverläufe von Grün, Violett bis Blau an. Kleine dünne Wolkenstreifen hatten dieses Farbspiel übernommen und das Meer spiegelte das gesamte Kunstwerk bezaubernd schön zurück. Es war berauschend.

      Ganz von dieser Erscheinung in den Bann gezogen bemerkten die jungen Männer nicht, dass sich eine zwielichtige Gestalt in ihrer Nähe herumdrückte. Der Mann in dem langen schwarzen Mantel und der großen Kapuze über dem Kopf beobachtete hinter einer Häuserecke verstohlen die Zeeland und deren Besatzung. Ein gehässiges Grinsen breitete sich auf seinem Mund aus.

      Achtzehn

      - 1697 -

      In der Dämmerung kamen Sean und Arthur erschöpft bei ihrer Unterkunft an. Lino wartete schon am gedeckten Tisch auf sie. Er freute sich sichtbar über seine Gäste.

      „Hallo! Kommt herein. Habt ihr Hunger?“

      „Und wie!“, strahlte Arthur.

      „Es gibt wieder Fischsuppe, ich hoffe das stört euch nicht.“

      „Wenn sie so lecker ist wie die von gestern, kann ich mir gerade nichts Besseres vorstellen“, entgegnete Sean lächelnd.

      Die drei Männer aßen gemütlich die Suppe und obwohl sie müde waren, blieben Sean und Arthur noch sitzen, um sich mit ihrem Gastgeber zu unterhalten. Lino, der selten jemanden zum Reden hatte, berichtete gern über sein hartes und verlustreiches Leben.

      „Ich bin vor 58 Jahren in dem kleinen Ort Capelo, im Nordwesten der Insel geboren. Das Leben als sechstes von zehn Fischerkindern war hart, aber ich empfand es durchaus als glücklich. Meine Eltern führten trotz aller Beschwernisse eine gute Ehe. Mit 24 Jahren hatte ich dann selbst das Glück, meine liebe zukünftige Frau Sol kennenzulernen. Sol war das einzige Kind ihrer Eltern und mit ihrer Mitgift und meinen Ersparnissen von der Fischerei konnten wir uns ein winziges Häuschen kaufen. Es war spartanisch, aber wir waren verliebt und stolz auf unser eigenes Zuhause. Nicht lange nach unserer Hochzeit wurde Urano geboren, zwei Jahre später Diogo.“

      „Ich dachte, du hast zwei Töchter?“, warf Sean ein.

      „Ja du hast Recht, zu ihnen komme ich später. Eines Morgens im Jahr 1672, ich war gerade beim Fischen, ziemlich weit draußen, als ich eine Erschütterung spürte. Sie war sehr stark. Auf den Azoren kommt es immer wieder zu Erdbeben und so beeilte ich mich, nach Hause zu meiner Familie zu gelangen. Da kam ein neuer heftiger Stoß aus der Erde. Er dauerte ungefähr eine Minute. Das war lang. Ich ruderte schneller. Kurz darauf hörte ich einen ohrenbetäubenden Knall und sah, wie der gesamte Gipfel des Cabeço do Fogo weggesprengt wurde. Das ist der nächste Berg an meinem Heimatdorf.“

      Sean und Arthur schauten sich entsetzt an, Lino erzählte weiter.

      „Der Schock lähmte meine Bewegungen und ich hörte auf zu rudern. Eine Druckwelle kam auf mich zu, die vorher viele Pflanzen versengt hatte. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah. Oh nein! Ich musste zu meiner Familie! Über dem Berg entstand eine säulenartige Wolke aus grauem, dichtem Qualm, die sich immer höher aufbauschte. Der Himmel verdunkelte sich. Dann fing es an zu regnen, aber kein Wasser, sondern Asche und Steine kamen herunter. Ich sah und hörte Dorfbewohner, die panisch umher rannten. Wild vor Angst und Sorge ruderte ich zum Hafen und wollte mein Boot vertäuen. Ich war gerade im Begriff auszusteigen, da kam der Ascheregen auch zu mir. Er war heiß und brannte Löcher in meine Kleidung.

      Aus einem Reflex heraus sprang ich ins Meer, um mich davor zu schützen. In diesem Moment dachte ich nicht an meine Familie, sondern an mein eigenes, nacktes Überleben. Ich sah, wie eine zähflüssige glühende Substanz sich den Hang herabwälzte, die alles, was ihr in den Weg kam, unter sich begrub. Mein Hirn konnte das Ausmaß des Schreckens gar nicht begreifen.

      Unser Häuschen lag ziemlich nah am Berg, doch ich weigerte mich, daran zu glauben, dass meiner Familie etwas zugestoßen wäre. Sobald der Ascheregen etwas nachgelassen hatte, stieg ich aus dem Wasser. Ich sah, dass die todbringende Substanz gestoppt hatte. Der staubige Rauch und die trockene Hitze waren unerträglich und ich hatte Angst zu ersticken, doch ich musste meine Familie finden. So riss ich den nassen Ärmel meines Hemdes ab und band ihn mir vor den Mund, so kam ich langsam vorwärts.

      Ihr könnt euch die Verwüstung ringsherum nicht vorstellen, dieses Bild sucht mich auch heute noch in meinen Träumen heim. Viele Häuser waren eingestürzt, andere fast vollständig verschüttet, die Menschen darin von den Trümmern erschlagen. Überall brannten Feuer, die meisten Menschen, Tiere und Pflanzen waren unter einer durchgängigen, dicken Ascheschicht begraben, die teilweise glühte. Nur einige verängstigte Lebewesen taumelten durch das Trümmerfeld. Die Erde war so heiß, dass ich nicht richtig laufen konnte. Meine ledernen Schuhsohlen begannen, sich zu zersetzen. Mit einer Mischung aus Humpeln und Hüpfen kämpfte ich mich mühsam vorwärts. Ich hatte das Gefühl, am lebendigen Leib zu verbrennen. Meine vorher klitschnasse Kleidung war längst wieder trocken, ich hatte Angst, dass auch sie Feuer fängt. Nach vielleicht hundert Metern hielt ich es nicht mehr aus, ich kehrte um zum Meer, in das ich mich dankbar und halbtot stürzte. Zu schwach zum Schwimmen ging ich unter wie ein nasser Sack. Ich hatte keine Hoffnung, keinen Lebenswillen mehr. Alles was ich liebte, was mir etwas bedeutete, war zerstört. Ich sank immer weiter und beruhigte mich in der kühlen Umarmung des Wassers.

      Ich