Sechzehn
- 1697 -
Der übernächste Morgen brach an und die glühend-rote Sonne tauchte das Meer in ein sphärisches Orange. Gleichmäßig schlugen die Wellen bei gutem Wind an den Schiffsrumpf. Sean schaute sich das Schauspiel von der Reling aus an. Das Wort friedlich schoss ihm durch den Kopf und er nickte zufrieden.
Au! Seine Rippe wollte ihm die Ruhe nicht gönnen. Jede Bewegung des Oberkörpers tat weh. Vielleicht sollte ich doch einmal Aderito aufsuchen. Sean hatte sich nicht getraut, weil er nun wusste, dass er bei Piet falsch gehandelt hatte. Nach Aderitos kleiner Versammlung gestern wusste jeder auf dem Schiff, wie man sich in so einem Fall wie Piets richtig verhalten würde. Daraufhin ertappte Sean seine Mitmatrosen immer wieder dabei, wie sie über ihn redeten und dabei den Kopf schüttelten. Doch das würde vergehen, redete Sean sich ein.
Die Mannschaft hatte jetzt 37 Tage seit dem Auslaufen in Lissabon kein Land mehr gesehen und für Sean entwickelte sich dies als große Herausforderung. Er musste an den geheimnisvollen Autor denken, der berichtete, ganze 68 Tage ohne Land gewesen zu sein. Bisher war für Sean das Festland selten mehr als einen Tag außer Sichtweite gewesen. Denn auch im Mittelmeer folgte man meist den Küstenlinien. Bei so einem kleinen Meer konnten sich auch die Wellen nicht so hoch auftürmen wie im Ozean. Es war eine ganz andere Sache, auf dem Atlantik zu segeln, was Sean ja schmerzlich bei dem letzten Sturm gemerkt hatte. Wieder einmal bewunderte er Wilhelms Navigationskunst. Ihr nächstes Ziel war die Inselgruppe der Azoren. Würden sie diese Inseln überhaupt finden? Wenn nicht, wäre das ihr sicherer Tod, weil sie unbedingt ihre Vorräte wieder auffüllen mussten, wenn sie in die Neue Welt kommen wollten. Sean fühlte sich verloren, rings um ihn Wasser, und es überstieg seine Vorstellungskraft, wie viel Wasser es sein mochte. Die Zeeland war zu einer Ameise geschrumpft und es würde nicht auffallen, wenn das riesige Meer sie einfach verschluckte. Sean lief es kalt den Rücken hinunter und er versuchte, an etwas Erfreulicheres zu denken.
Sean und Arthur würden die nächste Wache gemeinsam Dienst haben und waren zum Kochen eingeteilt. Piet ging es zwar immer besser, aber er durfte sein Bein nicht belasten. Also war der Speiseplan alles andere als appetitlich, weil keiner aus der Mannschaft je einen Kochlöffel geschwungen hatte. Während sie mühsam eine Zwiebelsuppe vorbereiteten, konnten sich die Freunde ungestört unterhalten. Arthur stand treu zu Sean und schaute ihn nicht so vorwurfsvoll an wie die anderen. Weil es auf dem Schiff so viel zu tun gab und sie häufig unterschiedliche Wachen hatten, sahen sich die beiden oft eine ganze Weile nicht. Der gewohnte Austausch fehlte ihnen.
Sean hatte schon bemerkt, dass das Segeln für Arthur nicht so eine Erfüllung war wie für ihn. Aber sein Freund fügte sich der harten Arbeit und schien sich durch seine soziale Art mit den meisten Matrosen gut zu verstehen. Er war ein Mensch, den man einfach mögen musste.
Sean stand sich oft selbst im Weg, weil er über so vieles nachdenken musste und viel kritischer an die meisten Dinge heranging. Häufig war er unsicher im Umgang mit anderen Menschen. Vielleicht lag es an seiner Veranlagung - er ertappte sich immer häufiger dabei, ähnlich menschenscheu wie sein Vater zu reagieren - aber auch seine anfangs so isolierte Kindheit trug sicher dazu bei.
Besonders große Schwierigkeiten hatte Sean mit Raul, dem 1. Steuermann. Der relativ kleine, äußerlich unscheinbare Mann spielte sich durch sein aufdringliches Verhalten in den Mittelpunkt und glich so seine fehlende Größe wieder aus. Seine laute, schnarrende Stimme konnte man schon von Weitem hören und sobald er in der Nähe war, erstarben alle Gespräche. Es war einfach unmöglich, sich vernünftig zu unterhalten, wenn er in der Nähe war. Raul hatte immer etwas zu erzählen. Oft vergaß er, englisch zu sprechen und redete einfach unaufhörlich in seiner Muttersprache Katalanisch. Raul kam aus Andorra, einem Land, von dem Sean noch nie zuvor gehört hatte. Als Sean Wilhelm am Anfang der Reise zu dessen 1. Steuermann befragte, erzählte er ihm, dass Andorra in einem Hochtal der Pyrenäen zwischen Spanien und Frankreich liege. Es wäre sehr einsam und gebirgig dort. Sean konnte sich vorstellen, dass sich bei Raul diese Einsamkeit aufgestaut hatte und nun hervorbrach. Aber trotzdem: Raul war ein anstrengender Zeitgenosse und Sean fragte sich, wie er zum Posten des 1. Steuermanns gekommen war.
„He! Du Träumer!“ Arthur stieß seinen Ellenbogen in Seans Seite.
„Au!“ Sean krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass meine Rippe gebrochen ist?“, presste er hervor.
„Oh, tut mir leid!“ Arthur legte das Messer hin und wollte Sean die Hand auf die Schulter legen. Dieser zog sich zurück und krümmte sich erneut.
„Diese verdammte Rippe!“
„Wie geht`s dir eigentlich? Piet wird schon wieder!“, wollte Arthur ihn aufmuntern.
„Geht so“, murmelte Sean. Er wollte an dieses Thema nicht denken. Er hatte sich schon genug den Kopf darüber zerbrochen. „Und dir?“
Arthur kämpfte immer noch mit sich. Eigentlich wollte er seinem Freund erzählen, dass er einen Brief an seine Eltern geschrieben hatte, aber er fürchtete sich vor Seans Reaktion.
„Prima! Ich wollte schon immer mal eine Suppe kochen“, versuchte er seine gedrückte Stimmung zu überspielen. Den beiden liefen schon die Tränen vom Zwiebel schneiden. Die Lebensmittel wurden langsam knapp und es gestaltete sich immer schwieriger, etwas Vernünftiges auf den Tisch zu bekommen. Sie konnten eigentlich nur hoffen, dass ihnen bis zu ihrem nächsten Ziel genug Fisch ins Netz ging und das Trinkwasser reichen würde. Die Tagesrationen schrumpften schon.
Sean hatte auch schon länger etwas auf dem Herzen.
„Wie findest du eigentlich diese Reise? Weg von Europa?“
„Hm, bis jetzt noch nicht so toll, aber ich hoffe, wir werden viele aufregende Dinge erleben“, sagte er diplomatisch. Auf ihren vorherigen Reisen hatte Arthur immer das Gefühl, nicht allzu weit von zu Hause entfernt zu sein und redete sich dann immer wieder ein, jederzeit wieder nach Dunnottar Castle zurückkehren zu können. Aber jetzt…. Ihr Ziel war nicht nur weit weg, sondern auch durch diesen riesigen Ozean von seiner Heimat getrennt. Arthur lag oft nachts in seiner Koje und hatte Angst um sein Leben. Und ebenso oft dachte er, es wäre ein riesiger Fehler, hier auf diesem winzigen Schiff über den erbarmungslosen Ozean zu segeln. Aber das konnte er Sean nicht sagen. Sean war jetzt seine Familie. Und auch ein paar von den Matrosen konnte er inzwischen als Freunde bezeichnen.
„Ja, das hoffe ich auch!“
Sean hatte die melancholische Stimmung seines Freundes nicht bemerkt. Ihm fehlte oft das nötige Feingefühl für die Gefühle seiner Mitmenschen.
„So, ich glaube, alle Zwiebeln sind jetzt geschnitten. Gott sei Dank!“, schniefte Arthur. Er wischte sich den Rotz mit dem Ärmel weg. „Was machen wir jetzt?“
„Hm, ich gehe nochmal zu Piet und frage ihn. Wartest du hier und bewachst sie?“, fragte Sean mit einem Schmunzeln.
„In Ordnung!“
Sean ging zur Kombüsentür und atmete erleichtert auf, als er sie öffnete. Der penetrante Zwiebelgeruch verflüchtigte sich etwas. Mit freier Nase und neuer Zuversicht im Herzen lief er zu der Kammer, in der Piets Koje war. Er öffnete leise die Tür mit dem Verdacht, dass Piet vielleicht schliefe. Doch als er zu Piets Koje ging, empfingen ihn wache strahlende Augen. Piet freute sich immer über Besuch, er durfte sogar schon ein paar Schritte laufen, war aber noch schwach vom Blutverlust.
Am Anfang war es für Sean sehr unangenehm gewesen, den Koch zu besuchen. Er hatte ein unendlich großes schlechtes Gewissen, wenn er ihn sah. Doch bald konnten sie sich aussprechen und Sean erkannte, dass Piet ihm nicht böse war.
„Hallo