Mike Nebel
Tschapka
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Inhaltsverzeichnis
Der Don, ach, der schöne weite Don
Schocklage
Als Neuntklässler spielte sich für mich im Kunstunterricht folgende Szene ab: Ich wurde – wie all meine Mitschüler natürlich auch – mit einer Aufgabe konfrontiert, welche über das bloße Bemalen eines Malpapieres mit Tusche hinausging. Die Aufgabe lautete: Schüler, malt ein Bild, aus dem nicht nur eine gewisse künstlerische Schönheit, sondern ebenfalls ein von euch frei gewählter kritischer Ansatz erkennbar sein soll. „Von jedem Einzelnen! Auch von dir, Ronny!“ Eine Bemerkung, die er sich wohl nicht verkneifen konnte und die mich bis ins Mark traf. Es gab keine weiteren Vorgaben, weder was das „Womit“, noch was das „Was“ betraf. Ich hatte folglich vollkommen freie Hand und konnte anprangern, was mir gerade durch den Kopf ging. Ob Kritik am System – für einen Moment dachte ich an das mir bekannte größte System, das Sonnensystem –, an der Gesellschaft als solche, oder an misslichen Zuständen in unserem Dorf, von denen ich hörte – es lag ausschließlich an mir. Nur, vollkommen freie Hand bezüglich des „Was“ und „Wie“ zu haben, war für mich als Vierzehnjährigen in der von mir wenig gemochten Kunsterziehung eine komplett neue, und schlimmer noch, eine ausgesprochen unerwartete Herausforderung. Bis zu genau diesem Moment bekam ich für meine künstlerischen Werke lediglich klare Anweisungen vom Lehrer an die Hand, was mir mein Dasein als minderbemittelter Maler sehr vereinfachte. Male einen Baum, Ronny, und ich malte einen Baum. Male einen Strauch, Ronny, und ich malte einen Baum. Alles ging seinen geordneten Gang. Bis genau zu diesem Moment. Ich entschied mich, schon fast am Schluss der ersten Unterrichtsstunde, für Bleistift und Kohle. Dies tat ich, um alle möglichen bildlichen Details, ohne Ahnung zu haben welche, besser zur Geltung bringen zu können. Der eigentliche Grund war jedoch, dass in meinem bereits vollkommen verhunzten Tuschkasten keiner der kleinen Farbbecher mehr in der Lage war, mir seine Ursprungsfarbe anzubieten. Grün war längst nicht mehr Grün und allen anderen Farben ging es nicht besser. Da diese wüste Vermischung in meinen Farbtöpfchen auch meinem Kunstlehrer nicht entging, ließ er in der letzten Unterrichtsstunde bei mir am Tisch die Bemerkung fallen, sollte es in meinem Kopf so zugehen wie in meinem Tuschkasten, wäre ein Gespräch mit meinen Eltern angebracht. Zur Begradigung meiner mangelnden geistigen Struktur, wie er es ausdrückte. Meine einzige Vorstellung von dem was er sagte, waren ziellose Kurvengeschlängel, die vor meinem Auge umherschwirrten, und so schob ich den blechernen kleinen Kasten weit bis ans Tischende von mir. Ich wollte ihn nicht unnötigerweise dazu motivieren, mir einen Brief für Mutter und Vater mitzugeben. Während längst alle anderen Schüler malten, zeichneten oder auch nur so taten, war es genau dieser Umstand, der mir quälend den Hals würgte und mich in einen Zustand geistiger und körperlicher Lähmung versetzte. Die Zeit verrann und verrann und es wurde mehr und mehr schwierig, mein jugendliches und unbedarftes Gehirn zum Thema „Thema“ auszuquetschen. Ich versuchte, das große schwarze Loch in meinem Kopf zu stopfen, doch es blieb groß und schwarz und schließlich entschied ich mich für einen Toilettengang. Ich hoffte, der Blick in eine offene Kloschüssel würde mir zu wundersamen Geistesblitzen verhelfen können. Auf dem Weg zum Schülerklo sah ich, dass an einer Wand Bilder eines Leistungskurses Kunst einer 12ten Klasse wie eine kleine Ausstellung hingen und begafft werden durften. Ich gaffte und betrachtete das Werk der ausgesprochen begabten Künstlerin Ulrike. Unter dem Bild stand neben ihrem Namen der Titel des Werkes: die Skyline von New York. Mehr nicht. New York ist die Hauptstadt von Amerika. Oder auch nicht, ich war mir nicht sicher, es war aber auch nicht entscheidend, denn entscheidend war nur: das Bild war genau das, was mir gerade recht kam. Ich atzte ins Klo, konnte nicht, weil ich auch gar nicht musste, lief zurück zum Malunterricht und stürzte mich in herzpumpender Hast auf mein nun beginnendes, erstes wirkliches Kunstwerk. Ich zeichnete und zeichnete, ließ Bleistiftspitzen wieder und wieder brechen und verkrüppeln, lutschte an dem Klumpen Kohle – wobei die Idee des Lutschens war, eine tiefere Schwärzung bestimmter Stellen hinzubekommen –, stellte fest, dass Kohle auch nur nach Kohle schmeckt und rieb das Kohlestück, mal fest, mal weniger rabiat in das Stück Papier hinein. Am Ende des künstlerischen Werkes angekommen, präsentierte ich dieses Lehrkraft und Klasse an seinem Lehrerpult. Ich wurde von ihm auserwählt, allen und ihm mein Kunstwerk und ganz besonders meine Gesellschaftskritik im Bild, zu erklären. Auf dem Weg nach vorne, überlegte ich mir, was ich mir während des Zeichnens überlegt haben könnte.
Ich gab ihm mein Werk in die Hand, worauf er sich fassungslos an den Kopf schlug und damit begann, sich auf seinem Stuhl wie ein verrücktes Männlein hin und her zu drehen. Dann legte er seinen Kopf in seine aufgestützten Hände und schüttelte mehrmals sein zerzaustes Haupt. Ich stand stumm am Pult neben dem sitzenden älteren Mann und dachte, er würde etwas denken wie: „Oh Gott, dieser Junge zeichnet kindlich wie ein Fünftklässler, von einem kritischen Ansatz mal ganz zu schweigen.“ Doch es kam ganz anders. Nun, was er sah, war eine Ansammlung von Menschen und Autos vor Hochhäusern. Oder anders ausgedrückt – eine viel befahrene Straße in einer Großstadt, auf dem Bürgersteig waren Dutzende umherlaufende Fußgänger hineingemalt. Alle Passanten gingen zügig und jedes Auto fuhr und aus den Auspuffen ließ ich malerisch in sehr realistischer Weise Abgase herausströmen, indem ich dicke Kohlewolken hinter jeder Stoßstange malte, auch waagerechte Striche und Wellen, die für eine Art Wind stehen sollten. Ungefähr so, wie ich es von dem pausbäckigen Gesicht am Himmel kannte, wenn es die Wolken wegbläst. Am rechten Bildrand gab es noch so etwas wie einen Straßenkiosk, aus dem eine Figur Schnaps und Kippen verkaufte, dies an einen Mann, der im Auto sitzend am Bürgersteig parkte und einen langen Arm machte – der Arm wurde allerdings ellenlang, damit der Mann auch nach der Flasche und nach der Packung greifen konnte. Da der Wagen von diesem Mann stand und nicht fuhr, verzichtete ich in diesem Fall gekonnt auf meine gestrichenen horizontalen Wellen am Heck. War das meine Gesellschaftskritik? Ging es dir darum, Ronny? Ging es dir überhaupt um etwas? Ich sah einen letzten, prüfenden Blick der Lehrkraft auf meine Zeichnung, dann sprach sie. Zu mir und in die Klasse hinein.
„Ronny zunächst bewerte ich deine zeichnerischen Fertigkeiten. Du hast Bleistift und Kohle gewählt, sicherlich aus dem Grund, weil du so jedes einzelne Detail auf deinem Bild feiner darstellen wolltest. Ich bin froh, dass du nicht Tusche wähltest, so ist das Bild nicht, wie sonst bei dir, noch triefend nass.“ Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich alles richtig gemacht, ich kam überraschend gut weg.
„Häuser,