Der blonde Mann, der die Kisten ins Haus brachte, musste also ein Mitarbeiter oder gar der Besitzer der Bar sein, weshalb ich auf ihn zuging. Er kam mit der leeren Sackkarre wieder heraus und bestätigte anschließend nach einem prüfenden Blick dem Getränkelieferanten auf dem vorgehalten Klemmbrett die Lieferung.
»Hallo. Entschuldigen Sie die Störung, vielleicht können Sie mir weiterhelfen? Ich suche den Betreiber der Bar«, sprach ich.
»Hallo«, erwiderten die beiden im Chor meinen Gruß.
Der Blonde grinste amüsiert. »Ach ja? Was wollen Sie denn von dem?«
Der Lieferant lachte auf. »Tom, du kannst dem Fräulein bestimmt helfen, ich muss weiter. Wenn du noch was brauchst, ruf an. Ansonsten sehen wir uns nächste Woche wieder.« Er verabschiedete sich mit einem Winken.
»Alles klar. Bis dann«, rief Tom ihm nach und wandte sich dann mir zu.
Er wartete auf meine Antwort und ich musste schmunzeln. Nach der Reaktion des Lieferanten und Claudias Bemerkung, kam mir der Verdacht, dass der gutaussehende Tom der Barbesitzer sein könnte und Spielchen mit mir treiben wollte. Mit seiner hellen Mähne, die ihm bis auf die Schultern reichte und zu einem perfekten Wuschellook gestylt war, erinnerte er mich an den Sänger einer Gruppe, die Joan gerade erst für sich entdeckt hatte: Duran Duran. Täglich spielte sie deren Lieder und geriet jedes Mal in Euphorie, wenn sie ein Foto von dem blonden Bandleader irgendwo entdeckte. War das Zufall, dass Tom die gleiche Frisur hatte wie dieser Simon Le Bon oder legte er es darauf an, wie jener auszusehen? Nach seinem Kleidungstil zu urteilen, war es wohl eher Absicht. Die kleinen goldenen Ohrringe, seine Jeans, das weiße Hemd und die ebenso strahlend weißen Turnschuhen zeigten, dass er auf der momentanen Modewelle voll und ganz mitschwamm. Dass die Kleidung seine breiten Schultern und die schmalen Hüften betonte, war vermutlich genauso ein Kalkül.
»Nun, ich würde gerne mit dem Barbesitzer reden, da ich auf Jobsuche bin«. Ich zog den weiten Mantel enger um meinen Körper.
»Aha«, entgegnete Tom und das charmante Lächeln verschwand aus seinen Zügen. Er inspizierte mich nun kühl und ohne Scheu. »Was schwebt Ihnen denn vor? Bedienen oder Küche?«
Ich hob die Schultern. »Wenn möglich lieber im Service.«
In lässiger Pose stützte er sich auf dem verbliebenen Kistenstapel ab, der auf der Sackkarre stand, und legte den Kopf leicht in den Nacken. »Könnten Sie von neunzehn Uhr bis zirka ein Uhr arbeiten? Auch an Sonn- und Feiertagen? Wir haben keinen Ruhetag und arbeiten im Wechsel.«
»Ich denke, das dürfte kein Problem sein. Meine Tochter ist alt genug, dass ich sie allein lassen kann. Glauben Sie, ich hätte Chancen auf einen Job?«, erwiderte ich mit einem Schmunzeln.
Tom grinste breit und fuhr den Stapel Kisten an mir vorbei ins Haus. »Ich würde sagen, ... wenn Sie mit acht Mark pro Stunde plus Trinkgeld einverstanden sind, haben Sie den Job.«
Ich lachte erfreut auf. »Oh, wirklich?« Ich folgte dem blonden Hünen ein paar Schritte in den Flur.
»Ja«, rief er mir über seine Schulter zu. »Wieso nicht? Ich suche dringend jemanden, der bis Ladenschluss hinter dem Tresen stehen kann, und Sie suchen Arbeit. Wäre doch bescheuert, wenn wir nicht ins Geschäft kämen.«
Er brachte die Kisten in einen Lagerraum, an dessen Tür ich stehen blieb. »Sie sind demnach also der Besitzer des Bourbons?«
Er drehte sich zu mir um. »Ja, der bin ich, Tom Feldermann. Und Sie sind?«
»Vivien Vanderblant.«
Aufhorchend legte er den Kopf schief. »Vanderblant? Sie haben nicht zufällig Verwandte im Ort?«
Ich zuckte zusammen. Woher kannte der Barbesitzer meine Mutter? Gewiss hatte es sie noch nie ins Bourbon verschlagen.
»Meine Mutter wohnt hier. Woher kennen Sie sie?«
»Ach«, murmelte Tom. »Ich kenne sie nicht. Wir haben bloß viele Gäste aus dem Dorf und da fällt hin und wieder ein Name. Vanderblant ist kein alltäglicher, weshalb ich mich gut an ihn erinnern kann.« Er trat in den Flur und ich wich zurück, damit er das Lager verschließen konnte. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Bar. Vielleicht sagen Sie dann gleich zu.«
Ich folgte Tom in den Gastraum, der an einen irischen Pub erinnerte. Die warmen, dunklen Holzfarbtöne der Inneneinrichtung verbreiteten eine angenehme Atmosphäre. Balustraden grenzten verschiedene Ebenen des Gastraums voneinander ab. Die ausladende Theke verlief in einem Bogen um den Zugang zur Küche. Unzählige Alkoholsorten und Gläser füllten die Regale bis zur Decke. Die auf antik getrimmte Zapfstation blitzte vor Sauberkeit. Auch auf den Tischen spiegelte sich das Licht wider. Der Dielenboden war zwar alt, doch sauber. Nichts wirkte verstaubt oder schmuddelig. Das Bourbon gefiel mir und Tom schien mir ebenso in Ordnung zu sein. Wir einigten uns in Sachen Arbeitszeiten, Lohn und Urlaub, weswegen ich das Jobangebot schließlich annahm. Er gab mir einen Arbeitsvertrag, den ich in Ruhe Zuhause nochmals durchgehen konnte. Der sah vor, dass ich an fünf Tagen in der Woche, von neunzehn Uhr bis Ladenschluss, bedienen oder hinter der Theke aushelfen sollte. Der Job war genau das, was ich gesucht hatte. Denn auf diese Weise konnte ich tagsüber für Joan und meine Mutter sorgen und abends unseren Lebensunterhalt verdienen. Zufrieden fuhr ich nach Hause.
Da meine Mutter von ihren Erledigungen noch nicht zurück war, kam ich jedoch nicht ins Haus. Ich besaß keinen Haustürschlüssel und hatte vollkommen vergessen, sie danach zu fragen. Von sich aus hatte sie mir keinen ausgehändigt und ich bezweifelte, dass sie das jemals freiwillig tun würde. So wartete ich vor dem Haus, bis mir der geheime Platz in den Sinn kam, an dem meine Mutter früher einen Ersatzschlüssel verstaut hatte. Sofort ging ich auf die Suche und fand ihn, wie vermutet, unterhalb des Balkons an der Rückseite des Gebäudes. Ich betrat das Haus über den Hintereingang und machte mich an die Zubereitung des Mittagessens. Bald hatte ich in den Küchenschränken die Zutaten für Spagetti Napoli aufgespürt – Joans Lieblingsmahlzeit – und hoffte, meine Mutter würde meine Initiative gutheißen.
Die Nudeln hatten gerade das perfekte Stadium an Bissfestigkeit erreicht und die Soße war fertiggekocht, als Lennhart mit Einkaufstüten bepackt zur Küche hereinspazierte.
»Oh, sie ist schon da, Sophie«, rief er überrascht in den Flur hinter sich. Ohne zu zögern, stellte er die Tüten auf den Stühlen ab. »Sie wissen schon, dass das ein Herd ist? Vorsicht, er könnte heiß werden, wenn Sie ihn aus Versehen angestellt haben.«
Mit einem dreisten Schmunzeln würzte er seine sarkastische Bemerkung und in seinen dunklen Augen glimmte Interesse. Eins davon, oder auch die Kombination daraus, löste ein wildes Kribbeln in meinem Bauch aus. Was war das? Erschrocken hielt ich die Luft an. So etwas hatte ich das letzte Mal gefühlt als Teenager. Konnte das sein? Nein, das wollte und sollte ich nicht fühlen. Er hatte seine Gemeinheit lediglich als Neckerei getarnt.
Bevor