Der Fall - Amos Cappelmeyer. John Marten Tailor. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: John Marten Tailor
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754943250
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zu unserem Ziel, griff nach meiner Hand und rannte los, wie eine Hochleistungssprinterin, dabei geriet sie nicht einmal aus der Puste. An der Tür angekommen, duftete es nach frischen Backwaren. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Essen! Wie lange hatte ich keine feste Nahrung zu mir genommen?

      Mit einem Griff um den Türrahmen ergatterte sie zwei Hosen sowie eine Arbeitsjacke. Anstandshalber wollte ich die Jacke ihr über lassen, doch Annemarie blieb konsequent. Ich war lediglich schuhlos, sie hingegen nur von der viel zu großen Hose bedeckt. Ihre Brüste massierten mir die Augen, was ich als nette Ablenkung akzeptierte.

      Annemarie hatte das Geldinstitut um die Ecke dafür auserkoren, eine stattliche Summe Bargeld abzuheben. Über verschlungene Wege erreichten wir unser Ziel.

      »Die Bank International, meine Hausbank. Was für ein Zufall.«

      »Ja, aber du willst nicht so da rein gehen, oder?« Letztlich war sie dann doch bereit, für den Bankbesuch die Jacke anzunehmen. Es half ja nichts, wenn sie gleich von den Wachleuten als Flitzerin verhaftet wurde. Ich wartete oberkörperfrei in der Kälte, quetschte mich aus zweierlei Gründen so tief wie möglich in einen Hauseingang. Als Raucher wäre jetzt der Moment, in dem ich mir eine Kippe herbeisehnen würde.

      Nicht lange bis Annemarie mit einem breiten Grinsen und einer Tüte aus der Filiale trat. An der Hand führte sie mich in den geschützten Personaleingang der Bank, wo sie strahlend die Tüte aufriss.

      »Tara! Sieh mal, was ich hier habe. Ist für dich.« Ein Schlipsträger hatte dafür herhalten müssen. Was manche Menschen für Geld nicht alles zu tun bereit waren, war für mich nicht nachvollziehbar, aber ich zollte Annemarie Respekt dafür. Der Spaß hatte meine Wunderfee schlappe tausend Euro gekostet. Das konnte ich kaum kommentarlos im Raum stehen lassen.

      »Tausend Euro? Bist du irre?«

      »Nein, ich sehe das als Investition in die Zukunft. Ich glaube, das Geld ist gut angelegt. Außerdem darfst du es bei mir abarbeiten!« Der geforderte Tribut wäre für mich ein Leichtes, wenn nicht meine zukünftige Gemahlin Treue verdient hätte. Annemarie zwinkerte wissend. »Audrette wird es dir nachsehen.«

      Wie auch immer. Meine temporäre Begleiterin steckte voller Überraschungen.

      So hatte sich eine Dame aus der Kreditabteilung erbarmt und Annemarie ein komplettes Business-Outfit gestellt.

      »Du bist unglaublich. Wie hast du das hinbekommen?«

      »Frauengeheimnis.« Wo sie nun die unförmigen Bäckersachen abstreifte, meldete sich postwendend mein Fahnenmast zu Wort. Schlimmer als bei der Army heute. Flagge hissen und einholen.

      Nachdem wir uns beide in Schale geworfen und die geklaute Arbeitsmontur in der Tragetasche verstaut hatten, war ich bereit zum Aufbruch.

      »Wir können gleich gehen. Ich muss mich nur kurz verabschieden.«

      Ich kniff irritiert die Augen zusammen.

      »Wie jetzt? Du hast doch schon bezahlt.«

      »Schon gut. Dauert nur eine Minute.« Annemarie schaffte mich auf den Gehweg, um sich anständig auf ihre Art und Weise zu bedanken, indem sie die Spenderin am Hinterausgang küsste, als kenne man sich schon eine halbe Ewigkeit. Die Bänkerin schmolz dahin, wie ein Toffee in der Mittagssonne und winkte uns schüchtern. »Wiedersehen«, formte ihr Mund die Worte.

      »Ich fasse es nicht«, stöhnte ich. »Was ist das für eine Welt?«

      »Das meinst du nicht ernst, alter Mann, oder?« Ich setzte zu Protest an, fühlte mich dann aber der Konsequenz nicht gewachsen, und beschloss, meinen Einspruch zu vertagen. »Ein paar Häuser weiter befindet sich ein Autoverleiher. Da müssen wir hin.« Der verfügte über Fahrzeuge, die nicht gelistet waren, wusste meine Begleiterin, als wandelnde Quelle des Wissens und der Inspiration. »Auch Prominente wollen ein ungestörtes Shoppingvergnügen, egal ob auf der Kö oder dem Kuhdamm!«

      »Wenn du es sagst.« Von Außen war der Verleiher völlig unscheinbar, nur ein Schild und ein kleines Büro, das eher abschreckend auf mich wirkte, doch der Schein trügt oft, hatte die Erfahrung mich gelehrt. Nach eigener Aussage verfügte der gut aussehende, frisch rasierte Mann über die besten Luxuskarossen der Stadt.

      Annemarie wählte den auffälligsten Wagen aus dem Katalog, eine burgunderrote Raubkatze, mit heller Leder-Vollausstattung. Die einzige Chance, den Verfolgern für ein paar Stunden zu entkommen, behauptete sie. So sollte es sein. War schließlich ihr Geld. Und ich hätte ordentlich zu schuften. »Du fährst!«, kam das Kommando.

      »Warum?« Zweifelnd starrte ich den klobigen Fahrzeugschlüssel in meiner Hand an, der keinerlei Ähnlichkeit zu meiner Definition von Schlüssel aufwies und mir die Tür zu diesem Wunderwerk der Ingenieurskunst öffnen sollte.

      Ich quetschte mich hinters Steuer und stöhnte vor Schmerzen auf, als mich der weiche Sitz verschluckte. Wow, da konnte sich mein altes Sofa eine Scheibe von abschneiden. So weit, so gut. Bin drin. Die zweite Frage, die mich beschäftigte: Wie lange war ich schon nicht mehr Auto gefahren, geschweige so ein Gefährt? Zu keiner Zeit war die Antwort. Ich besaß eine Fahrerlaubnis, richtig, selber hatte ich es allerdings nie über den Motorroller hinaus geschafft. Das Cockpit des Wagens mutete futuristisch an. Die Bedeutung der scheinbar wahllos angebrachten Knöpfe und Schalter erschloss sich mir nicht auf Anhieb. Ich bestaunte die glänzenden Oberflächen und hätte sicher noch einen halben Tag mit Staunen zugebracht, wenn da nicht diese Stimme gewesen wäre ...

      »Was ist denn los? Musst du erst die Bedienungsanleitung lesen, oder kann es jetzt losgehen?«

      Den inneren Schweinehund besiegen und aufs Ganze gehen, mein Motto. Was sollte schon groß passieren?

      Mehr schlecht als recht startete ich Richtung Heimat, um mich zu sortieren. Wohin könnten wir auch sonst? Kein Gedanke war klar zu fassen, ich schaute immer wieder nach Annemarie, die auf dem Beifahrersitz längst friedlich schlummerte. Ihre Schenkel schaukelten im Rhythmus der Schlaglöcher, ihr Schoß zeichnete sich appetitlich durch die zu enge Hose ab. Ich streichelte die Schenkel, die an ihrem Schoß endeten. Okay, ich war geil, wollte mich abreagieren, Frust und Fluch entfliehen. Immer wieder holten mich Erinnerungsfetzen von Hellen ein, malträtierten mich wie elektrische Schläge. Sie war an jenem Abend perfekt für mich gewesen und die Trauer würde ich mit mir tragen, solange ich atme. Hellen trug Güte in sich, sie sah in mir den Mann ihres Lebens, einen Familienmenschen. Hoffentlich hatte sie sich nicht geirrt.

      Die Straßen wurden schmaler und kurviger. Beide Hände gehörten jetzt ans Steuer, obwohl ich fahrerisch an Sicherheit dazugewonnen hatte. Dann passierten wir das Ortsschild.

      »Gleich sind wir da«, sprach ich mehr zu mir selbst. Nur noch zehn Minuten bis zu meinem Gehöft in Floh-Selignthal, einem Dorf mit 6512 Einwohnern. Mein Zuhause. Meine Oma pflegte zu sagen: »Wo du weg willst, wenn du älter wirst und zurück willst, wenn du alt bist, das ist Heimat.« Ein altes Sprichwort. Ich hatte meine Heimat nie verlassen - außer für ein paar kurze Urlaubsreisen. Länger als zehn Tage hielt ich es gewöhnlich nirgends aus.

      »Sind wir da?«

      »Ja, Dornröschen.«

      Im Schritttempo bog ich in meine kleine Straße ein, ein geschotterter, leicht abschüssiger Weg, kaum breiter als ein 7,5 Tonner, beiderseits gesäumt von alten Baumbestand. Oben an der Straße verriet nur eine unauffällige Hausnummer den Standort.

      Ich rollte auf den Hof, neben die Scheune. Alles schien mir friedlich wie immer. Hier war meine Seele zu Hause.

      Leidenschaftlich berichtete ich Annemarie von meinen Anwesen, nahm sie unbewusst bei der Hand und zeigte ihr das Areal.

      »Nett hier. Und so ruhig«, kommentierte sie und drückte immer intensiver meine Hand. »Ist bestimmt nicht leicht, das alles in Schuss zu halten.« Wie recht sie hatte. 15ha Land mit einem Haupthaus aus dem Jahr 1912, einer großen Scheune und mehreren Schuppen bzw. ehemaligen Ställen, nicht zu vergessen, mein eigener kleiner See. Okay, es war ein Teich, aber für mich ein Paradies. Jetzt allerdings hielt ich Ausschau nach fremden Spuren.

      »Stimmt was nicht, Amos?« Ich