„Damit kann ich gut leben“, stellte Emma erfreut fest. Ob dieser Mann ehrlich war oder nicht, sein Kompliment tat gut. Ebenso wie das anschließende Schlendern durch die Straßen. Sie sprachen kein Wort. Trotzdem war es kein angespanntes Schweigen. Die Stille tat gut wie die frische Luft. Noch dazu waren kaum Menschen unterwegs, obwohl London niemals schlief.
„Möchten Sie eigentlich gar nicht wissen, wie ich heiße?“, fragte er plötzlich, als sie in die Regent Street einbogen und Richtung Piccadilly Circus spazierten.
„Nein“, entschied Emma. „Es ist nett mit Ihnen und scheinbar waren Sie zur rechten Zeit am richtigen Ort. Ein Mann, der aus dem Nichts kam und bald dorthin zurück verschwindet. Ich schätze, wir werden uns nicht wiedersehen.“
„Stimmt. In einigen Stunden breche ich auf.“
Erneut schwiegen sie. Betrachteten die üppige Weihnachtsbeleuchtung, die den Schnee zum Glänzen brachte. Wie eine Sahnehaube lag er auf den Bäumen, Bänken und Zäunen, während der Wind über die Dächer fuhr. Emma hatte das Gefühl, als wären Tage vergangen und nicht wenige Stunden, in denen sich ihre Welt völlig verändert hatte. Als hätte jemand ein T-Shirt umgestülpt und nun musste sie zusehen, wie sie es am besten tragen konnte.
„Haben Sie jemals einer Frau wehgetan?“, erkundigte sich Emma und nagte an ihrer Unterlippe. „Sind Sie verheiratet?“
„Das war ich und ja, es gibt viele, denen ich übel mitgespielt habe.“ Sie ahnte, dass er trotz seiner Aussage an eine bestimmte Frau dachte. „Annie war so eine. Sie ist toll und ich hatte sie gern. Aber das genügt eben nicht auf Dauer.“ Sofort kam ihr Brandon in den Sinn. Nein, gernhaben genügte tatsächlich nicht. „Meine Eltern führten eine ziemlich miese Ehe. Dad hatte ständig andere Frauen, was er gut zu vertuschen wusste. Niemand in unserem kleinen Ort weiß davon und Vater redete mir ständig ein, dass ich lieber mein Leben genießen soll, statt mich zu binden.“ Er seufzte. „Ich ließ es ziemlich krachen, bis ich Annie wiedertraf. Wir wurden ein Paar, doch ich merkte schnell, dass ich für Kompromisse nicht bereit war. Trotz unserer Beziehung zog ich mein Ding durch. Eigentlich ein Indiz dafür, dass es nicht die wahre Liebe ist. Dann begegnete ich Trish und betrog Annie mit ihr.“ Emma empfand sofort Mitleid mit dieser Annie. „Zu meiner Ehrenrettung muss ich allerdings sagen, dass ich wirklich in Trish verschossen war. Dennoch machte ich Annie an meinem Junggesellenabend an, weil ich … ach, lassen wir das. Jedenfalls habe ich Trish geheiratet und kurz danach ließen wir uns wieder scheiden. In den folgenden Monaten stürzte ich mich in zahllose Abenteuer und habe sogar bei der Arbeit getrunken. Bis ich vor kurzem eine Abmahnung erhielt. Jemand hat mich angeschwärzt. Anfangs war ich ziemlich sauer. Mittlerweile bin ich froh darüber, weil es wie ein Weckruf war.“
„Wieso ist Ihre Ehe in die Brüche gegangen? Haben Sie Trish ebenfalls betrogen?“
„Ich war nicht immer ein Schwein. Obwohl ich alles dafür getan habe, um dafür gehalten zu werden“, blockte er ihre Frage ab und blieb stehen. Emma tat es ebenso.
Es war seltsam, zu einem beinahe Wildfremden aufzublicken. Mit ihm in der Kälte zu stehen, die nicht spürbar war. In seine Augen zu schauen, die etwas Geheimnisvolles, aber auch etwas Trauriges hatten. Die Gesichtszüge im sanften Licht des Schaufensters zu erkunden, die das Leben gezeichnet hatte. Seinen Atem auf der Haut zu fühlen und ihm in diesem Augenblick näher zu sein als irgendeinem anderen Menschen auf dieser Welt.
Auf einmal berührte seine Hand ihr Kinn. Emma verlor sich in den unergründlichen Augen. Seine Lippen näherten sich und dann küsste er sie. Sanft und zärtlich. Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Doch ehe sie reagieren konnte, ließ er sie los und winkte ein Taxi heran, das sofort an den Straßenrand rollte. Zuvorkommend öffnete der Unbekannte die Tür.
„Leben Sie wohl“, raunte er. Mit klopfendem Herzen und leisem Bedauern in sich blickte Emma zu ihm hoch, bevor sie sich ins Taxi setzte. Das Leder knirschte, als sie sich zurücklehnte. „Danke für diesen unvergesslichen Abend, Sherlock.“ Er lächelte.
Die Tür schlug zu. Das Taxi fuhr an. Emma drehte sich um und schaute durch die Heckscheibe. Unbeweglich stand der Mann inmitten des Schneetreibens und sie glaubte, seinen Blick auf sich zu spüren. Kurz erwog sie, den Chauffeur anhalten zu lassen und den Unbekannten nach seinem Namen zu fragen. In der nächsten Sekunde schalt sie sich eine Närrin. Er hatte sie getröstet. Ihr geholfen und sie aus der Laune eines Augenblickes heraus geküsst. Auf den Trümmern ihres Lebens. Die galt es zu beseitigen, statt irgendeinem Zauber hinterherzulaufen, den dieser Abend jedoch zweifelsohne gehabt hatte.
2. Kapitel
„Wie romantisch!“, rief Linda aus, die klirrend ihre Kaffeetasse auf den Unterteller zurückstellte. „Und du hast wirklich keine Ahnung, wer der Typ ist?“
Emma zuckte mit den Achseln. „Nein. Aber dieser Mann ist im Augenblick meine geringste Sorge“, schwindelte sie, obwohl sie ständig an die vergangenen Stunden denken musste. Mitsamt der Frage, ob das tatsächlich passiert war. „Immerhin steht mir eine Scheidung bevor und wenn ich Brandon richtig verstanden habe, gibt es einen Rosenkrieg.“
„Na ja, wie ein Häufchen Elend wirkst du nicht auf mich.“ Linda schob den kleinen runden Spiegel zu sich und griff nach dem Lipgloss neben der Blumenvase mit den Plastikrosen, die ihr Grant vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Die roten Blüten waren vom Sonnenlicht ausgeblichen und staubig wie der Rest ihrer Wohnung. Lindas Perfektion hörte nicht nur am Reißverschluss ihrer Tasche auf, sondern auch an der Türschwelle. Sie war keine geborene Hausfrau und schenkte diesem Teil ihres Lebens nur wenig Aufmerksamkeit. Ganz nach dem Credo: Es wäre schade um die vergeudete Zeit. „Du wirst es schon schaffen.“
„Mir graut bereits jetzt davor“, bekannte Emma. „Allein der Gedanke, dass ich zu einem Anwalt muss. Dabei habe ich mir mein Leben anders vorgestellt.“
„Schätzchen, du hast es dir schöngeredet. Wie so einiges in den vergangenen Jahren.“ Gekonnt zog Linda ihre Lippen nach, die rosafarben schimmerten. Wie die Augenlider und ihre Wangen. Ein hübsches Make-up. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Emma kramte in ihrer Erinnerung, wann sie sich selbst zuletzt geschminkt hatte. Es musste beim Abschlussball gewesen sein. Mit dem Ergebnis, dass sie aussah wie nach einem Verkehrsunfall, weshalb sie sich kurzerhand abgeschminkt hatte. „Du hast dich an Brandon festgekrallt, weil du dich seit deiner Kindheit nach Liebe sehntest. Wenn du ehrlich in dich gehst, wirst du feststellen, dass er nicht das Gelbe vom Ei war. Brandon war weder romantisch noch hat er dich auf Händen getragen.“
„So was erlebt man ohnehin nur als Schauspielerin in schnulzigen Filmen.“ Im Nachhinein betrachtet kam die Begegnung mit dem Unbekannten dem ziemlich nahe …
„Wie gesagt: Im Schönreden bist du einsame Spitze.“ Linda legte den Lipgloss neben den Spiegel und griff erneut zur Tasse mit dem Zwiebelmuster und dem Goldrand. Das edle Porzellan gehörte zu einem Service, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. So wie Linda stets alles bekam, die als Einzelkind aufwachsen durfte. Behütet und umsorgt von ihren Eltern, die am Stadtrand wohnten. „Früher warst du sicher eine Schnecke“, behauptete Linda wenig schmeichelhaft, nippte an der Tasse und stellte sie mit spitzen Fingern wieder zurück. Sie hatte sich gerade die Nägel blau lackiert. „Auch in diesem Leben verziehst du dich meistens in dein Häuschen, aber sobald du dich ungerecht behandelt fühlst, traust du dich kurz heraus. Nur um dich anschließend erneut zu verkriechen und die Scherben mitzunehmen, die du verursacht hast. Im Glauben, dass du wieder einlenken musst. Wie bei deinen Eltern. Harmonie ist aber nicht alles, Emma. Vor allem nicht um jeden Preis. Ein Wunder, dass du nicht schon längst daran kaputtgegangen bist, womit wir wieder bei Brandon wären. Erinnere dich zurück. Damals, als wir jung waren“, stocherte Linda weiter in Emmas Leben herum, „hast du dir oft ausgemalt, wie dein Mann sein müsste. Zärtlich, liebevoll und dass er dir das Gefühl geben sollte, das Wichtigste für ihn zu sein. Was hast du stattdessen gekriegt? Einen Mann, der nach wenigen Monaten auf der Couch herumlungerte und dich nicht einmal mehr vom Dienst abgeholt hat. Kein