Die Dämmerung brach bereits herein, als Roger seinen Honda über die Küstenstraße lenkte. Fast alle Eigenheime waren weihnachtlich geschmückt. Vor vielen standen die obligatorischen Bäumchen, die jedes Jahr von den freiwilligen Helfern ab November verteilt und aufgestellt wurden. Auch für die bunten Lichter entlang der Hauptstraßen sorgten sie. Bei manchen Häusern wurden sogar alte oder neue Fotos von St. Agnes und der Umgebung festlich in Szene gesetzt. Eines der größten Bilder befand sich auf der Stirnseite des Heimes, das man als Erstes sah, wenn man in St. Agnes ankam.
Ankommen. Ein Wort, das in Roger nachklang. Tat er es denn? Jetzt, da er aus London zurück war, stellte sich die Frage, ob ihn etwas in St. Agnes hielt. Sicher, er hatte einen guten Job und einen netten Freundeskreis. Aber sonst?
Im Grunde ließ es sich hier gut leben. Ein Paradies, in dem andere Menschen Urlaub machten. Von den vielen Touristinnen ganz zu schweigen, die ihm einige angenehme Stunden bereitet hatten. Die Auswahl war so groß wie die Zahl der einsamen Herzen, die es in ihr idyllisches Küstendörfchen verschlug. Doch sich mit Frauen und Alkohol zu betäuben hatte irgendwann seinen Sinn verloren. Bloß weil ihm Trish so übel mitspielte, hätte er beinahe sein Leben weggeworfen. Dabei war es diese Frau nicht im Geringsten wert!
Roger verscheuchte ihr Bild. Die Erinnerung an sie. Stattdessen blickte er zu Annies Schmuckladen, an dem er vorbeifuhr. In den Schaufenstern glitzerte Lametta und einige Kugeln hingen an Schnüren herab. Die versilberten Äpfel auf dem Baum glänzten im Schein der Lichterkette, die sich über die Fassade, um die Äste und den Stamm wand. Wie es Annie wohl ging? Vermutlich tausendmal besser als ihm. Angeblich war sie mit Jack und Leni in New York. Eine Aushilfe kümmerte sich in den Wintermonaten um das Geschäft.
Annie hatte das große Los gezogen und er gönnte es ihr, obwohl sie das sicher nicht glauben würde. Für sie blieb er wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit das Arschloch und zugegeben, er hatte es nicht anders verdient. Trotzdem setzten ihm die Gerüchte zu, die sich um ihn und Trish rankten. Die Leute in St. Agnes hatten ja keine Ahnung!
Zehn Minuten später parkte Roger vor seinem Haus. Es lag völlig im Dunkeln. Keine Beleuchtung, nichts. Selbst das Bäumchen fehlte, weil er sich vehement gegen diesen Brauch sträubte. Weihnachten war ihm seit jeher ein Gräuel. Seine Eltern lagen sich gerade an diesen Feiertagen ständig in den Haaren. Von wegen die Zeit der Liebe und des Friedens. Bei ihnen herrschte regelmäßig kalter Krieg.
Missmutig blickte Roger vor sich hin, bis sein Blick zur Sektflasche auf dem Beifahrersitz glitt. Seit er London verlassen hatte, spukte ihm die fremde Frau ständig im Kopf herum. Dabei war er ungern in die Weltmetropole gefahren, wozu ihn zwei unangenehme Termine zwangen, was er vor der Unbekannten niemals zugegeben hätte.
Zum einen hatte ihn Mister Hall wegen seiner Trinkerei in die Zentrale zitiert und las ihm ordentlich die Leviten. Entgegen Rogers Annahme gab ihm der Geschäftsführer trotzdem eine zweite Chance. Wesentlich unangenehmer gestaltete sich seine Unterredung mit Trish am nächsten Tag, die gründlich in die Hose ging. Deswegen war er durch die Stadt geirrt und hatte sich schließlich auf der Aussichtsplattform wiedergefunden. Und da hatte sie gestanden. Diese Frau, mit der er sofort Mitleid empfand, obwohl er nicht besser war als ihr Brandon.
„Emma.“ Roger ertappte sich dabei, dass er lächelte. Im Gegensatz zu ihr wusste er durch das Gespräch mit diesem Brandon, wie sie hieß. Zumindest kannte er ihren Vornamen. Er passte zu ihr, weil er etwas Unschuldiges hatte. Aber auch etwas, das seinen Beschützerinstinkt weckte und das Verlangen, sie nach der Pleite mit ihrem Mann nicht alleine zu lassen. Wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, genoss er ihre Gesellschaft zu sehr, um den Abend schnell enden zu lassen. Es war schön, an ihrer Seite durch London zu schlendern. Mit ihr zu reden. Ihre bescheidene und fast schüchterne Art berührte ihn auf seltsame Weise, die jedoch in Kratzbürstigkeit und Trotz umschlagen konnte. Launisch wie das Wetter in St. Agnes, das sich ebenfalls von einer Sekunde auf die andere ändern konnte. Doch ob Sturm oder Sonnenschein, in allem lag eine beeindruckende Schönheit und Kraft. Wie in dieser Frau, die er nur ein paar Herzschläge lang küsste. Ihre Lippen waren zart und nachgiebig gewesen und er hätte sich weit mehr vorstellen können, aber er ahnte, dass sie keine für eine Nacht war. Nicht einmal eine, um sie hemmungslos auf der Straße zu küssen. Deshalb riss er sich zusammen, obwohl es ihm schwergefallen war. Eigentlich lachhaft. Außer bei Trish hatte er sich weder vorher noch nachher sonderlich viele Gedanken um die Frauen gemacht. Sogar im Bett ging es immer nur um seine eigenen Bedürfnisse. Sex ohne Gefühle, danach hatte er größtenteils gelebt.
Seufzend nahm er die Sektflasche, bevor er den Schlüssel aus dem Zündschloss zog und ausstieg. Nachdem er das Auto versperrt hatte, betrat er sein Cottage. Er hatte es kurz vor der Hochzeit mit Trish gekauft. Es lag auf einer Anhöhe etwas außerhalb von St. Agnes und war von dichtem Laubwald umgeben. Fast so, als wäre man von der Außenwelt abgeschnitten. Ein kleines Paradies, in dem Kinder toben könnten …
Als Roger die Tür zum Wohnzimmer öffnete, schlug ihm anheimelnde Wärme entgegen. Die gute alte Doris hatte ihn gestern angerufen und gefragt, wann er zurückkäme. Sie besaß einen Zweitschlüssel und behielt sein Haus stets im Auge, wenn er nicht da war. Noch dazu sorgte sie jedes Mal für einen lodernden Kamin. Wie auch jetzt. Die Flammen fraßen sich knisternd durch das Holz, als hätte sie die Scheite gerade erst entfacht. In der Ahnung, dass er später kommen würde. Manchmal war ihm die Achtzigjährige fast unheimlich. Immerhin hatte er sich für den Nachmittag angekündigt, ließ sich jedoch Zeit und nahm einige Umwege, weshalb es bereits acht war, wie ihm ein Blick auf die alte Pendeluhr neben dem schwarzen Ledersofa zeigte.
Roger stellte die Flasche auf den Glastisch und zog sich den Mantel aus. Als er ihn auf die Couch gelegt hatte, klopfte es an der Tür. Eigentlich hatte er keine Lust auf Besuch, weshalb er missmutig die dunkelgrüne Pforte öffnete. „Doris“, begrüßte er seine unmittelbare Nachbarin und lächelte, weil sie einen Topf in den Händen hielt, aus dem es dampfte. „Erstens hast du einen Schlüssel und zweitens musst du nicht ständig für mich kochen. Du hast genug Arbeit.“ Trotz ihres hohen Alters führte sie nach wie vor die kleine Privatpension und war die Einzige, über deren Besuch er sich nun doch freute.
„Da ich dein Lotterleben kenne, habe ich wenig Lust, dich nackt mit irgendeinem Sternchen zu sehen und zum anderen sind die letzten Gäste heute abgefahren. Um wen soll ich mich sonst kümmern? Du kennst mich. Ich hasse Untätigkeit.“ Schon stakste sie auf ihren schwarzen Stöckelschuhen an ihm vorbei. Da Schnee in St. Agnes eine Rarität war, musste sie auch im Winter nicht auf ihre geliebten hohen Schuhe verzichten.
Roger warf die Tür zu und folgte ihr in die Küche, die sich neben dem Wohnzimmer befand. Ein Rundbogen verband die beiden Räume und erst jetzt fiel ihm der Mistelzweig auf, der davon herunterbaumelte.
„Hast du das fabriziert?“ Roger deutete zum Rundbogen.
„Gefällt es dir?“ Umsichtig stellte sie den Topf auf den Gasherd.
„Einen größeren Nagel konntest du wohl nicht finden“, schimpfte er halbherzig, obwohl der Kirschholz-Rahmen kostspielig gewesen war, aus dem ein mindestens zehn Zentimeter langer Nagel ragte, der zu allem Überfluss schief eingeschlagen war. Von den Löchern im direkten Umfeld ganz zu schweigen. Wie es aussah, hatte sie einige Versuche gestartet, um den Mistelzweig aufzuhängen.
„Die Leiter hat gewackelt“, meinte sie lapidar und öffnete die Schublade neben dem Herd, aus der sie die Kelle entnahm. Doris kannte sein Heim in- und auswendig. „Wie war es in London? Konntet ihr euch einigen?“
Roger setzte sich an den Tisch im verglasten Erker. Dabei fiel sein Blick auf Doris’ weiß getünchtes Cottage. Bunte Lichterketten schmückten die Vorderseite des Daches. Hinter den Fenstern leuchteten Sterne, Schneemänner und Engel. Der kleine Baum vor dem Haus blinkte wie eine Discokugel. Ebenso wie der Schlitten und die Rentiere. Selbstredend, dass Doris ebenfalls ein vergrößertes Foto ins rechte Licht rückte. Es zeigte ihre Großeltern, die früher einen Süßwarenladen in St. Agnes betrieben, bevor Doris’ Eltern das Cottage zur Privatpension umfunktionierten. „Nicht so wirklich“, antwortete Roger und fühlte erst jetzt, wie erschöpft er war.
„Ich habe es von