Dora Proskauer nahm von den »Kameraden« – zwei düsteren Männern, vom Typ der nihilistischen Verschwörer aus dem zaristischen Rußland – Instruktionen, Reisegeld und falschen Paß entgegen. Walter Konradi begleitete sie zur Gare de l’Est. Er war ernst, wie es der Stunde entsprach; doch gab es in seinen Worten wie in seiner Miene eine Zuversicht, an der Dora sich stärkte. »Du wirst es schon schaffen!« sagte er immer wieder und drückte ihr im Taxi die Hand. Als er sie auf dem Bahnsteig küßte, kamen ihm plötzlich noch Zweifel. »Ich hätte es dir doch nicht zumuten sollen …« Die Proskauer stand mit schrägem Nacken, blickte sorgenvoll an der enormen Zacke ihrer Nase vorbei und sprach mit plätschernd sonorer Stimme. »Aber Walter – was andere gewagt haben, ist für mich nicht zuviel … Es ist furchtbar aufregend, Deutschland wiederzusehen … Die tapferen Illegalen … Unerhörtes Erlebnis … Ich zittere – spürst du es? – aber nicht aus Angst!« – »Tapferes Mädel!« Er konstatierte es innig, dabei forsch. Noch ein Kuß, dann mußte sie ins Abteil.
Die Proskauer kehrte nicht wieder. Ehe man in Paris erfuhr, daß sie verhaftet war, wurde, durch Berliner Freunde, bei der Schwalbe bekannt, daß der alte Herr Korella, Martins Vater, in einem Konzentrationslager saß. Gleich nach seiner Rückkehr hatten die Gestapobeamten ihn abgeholt. Frau Korella war in ein Krankenhaus überführt worden. »Man hat die beiden alten Leute denunziert«, berichteten die Berliner Freunde. »Sie sollen in Pariser Emigrantenkreisen kraß staatsfeindliche Reden mitangehört und sogar selbst geführt haben.« – Da begriffen alle: Auf dem Friedhof, als die Schwalbe an Martins Urne etwas unbeherrscht war, ist ein Spitzel unter uns gewesen. Sie ahnten, um wen es sich handeln mußte. Dieser Walter Konradi … den meisten war er gleich nicht sympathisch gewesen, nun betonten sie es. Theo Hummler stellte Nachforschungen an. Konradi war abgereist – »nach Belgien«, wie der Concierge seines Hotels versicherte. Bei der Schwalbe hatte man keine Zweifel mehr: »Von dort aus ist er weiter nach Berlin gefahren …«
Theo Hummler hatte seine Beziehungen im Reich. Er war es, dem die Nachricht zugetragen ward, daß die arme Proskauer – mit einer Naivität, einer Dummheit, die unglaublich schien – dem Spitzel und Agent provocateur auf den Leim gegangen war. An der deutschen Grenze war sie festgenommen worden; Name und Nummer des falschen Passes, auf den sie reiste, waren der Kontrolle bekannt. »Man wird ihr in Berlin den Hochverratsprozeß machen«, wußte Theo Hummler.
Bei der Schwalbe saßen sie wie versteinert. Ein paar Sekunden lang sagte niemand ein Wort; dann erschraken alle; denn die Schwalben-Mutter hatte furchtbar auf den Tisch geschlagen, und nun brüllte sie: »Dieser Hund! Dieser Hund!!« Ein anderes Wort schien ihr nicht einzufallen. Sie bekam keinen Atem mehr; ihr Gesicht wurde blau. Niemals hatte man sie je so gesehen. Ihre Faust fiel noch einmal, schwer wie ein Stück Eisen, auf die Tischplatte nieder. »Wann holt diese Hunde der Teufel?« fragte die alte Frau. Ihre Kapitänsaugen, mit denen sie drohend von unten schaute, waren blutunterlaufen.
Schließlich sagte das Meisje: »Ich verstehe das nicht … Ich kann so etwas nicht verstehen … Ein Spitzel – jemand, der von den Nazis doch wahrscheinlich ziemlich viel Geld bekommt – sollte größere Dinge zu tun haben, als ein paar arme Emigranten ins Unglück zu bringen. Militärische Geheimnisse, diplomatische Intrigen – so was müßte er herausbekommen. Was für ein Vergnügen kann es ihm machen, die arme Proskauer zugrunde zu richten?« – Ein anderer erklärte: »Solche Sachen macht er nebenbei, als Fleißaufgabe. Sicher wird er in Berlin besonders belobigt, wenn er nicht nur Pariser Staatsgeheimnisse mitbringt, sondern auch noch ein paar Emigranten ans Messer liefert. Außerdem weiß die Proskauer vielleicht Adressen von ein paar Sympathisierenden in Deutschland: die will man von ihr erpressen.« – Das Meisje blieb fassungslos. »Und die alten Korellas? Die waren doch an keinem Comité angestellt, wußten keine Geheimnisse, waren brave, reaktionäre Spießer …« Theo Hummler – mehr nachdenklich als empört: »Man gewöhnt sich nicht so leicht an den Gedanken, daß menschliche Wesen Dinge aus purer Gemeinheit tun – aus keinem anderen Grund. Gemeinheiten um eines Vorteils willen – das nimmt man ja schon fast als Selbstverständlichkeit hin. Die Gemeinheit um der Gemeinheit willen hat noch immer etwas Überraschendes …«
Sollte man sich mit der französischen Polizei in Verbindung setzen? Sicherlich; die Proskauer aber wurde dadurch keineswegs frei. – Wußte Friederike Markus, genannt Frau Viola, über die Machenschaften ihres Liebsten Bescheid? Man hielt dies für unwahrscheinlich; immerhin schien es ratsam, mit ihr Fühlung zu nehmen: um sie aufzuklären, wenn sie ahnungslos war; um sie unschädlich zu machen, sollte ihre Mitschuld an den Tag kommen.
Niemand zeigte Lust zu so delikater Visite; schließlich erklärte David Deutsch sich bereit. »Wenn es sein muß«, sagte er und verneigte sich schief, das Haar wie in ständigem Entsetzen gesträubt über dem wächsern zarten Gesicht. Eine Stunde später saß er bei Friederiken, die ein wunderliches Hauskostüm trug und ihn zunächst herzlich bat: »Nennen Sie mich Frau Viola! Ich bin es nicht anders gewöhnt, auch mein Gabriel nennt mich so.« – »Ihr Gabriel«, bemerkte David Deutsch – wobei er gequält die Schultern bewegte und ganz bucklig aussah vor Verlegenheit – »er ist abgereist.« Frau Viola schien es nicht zu begreifen – jedenfalls nicht zu realisieren, was es für sie bedeutete. »Ei, ei«, sagte sie nur und spielte sinnend mit den fahlen, steif gedrehten Löckchen über ihrer Stirn. David ergänzte: »Und so bald wird er wohl auch nicht wiederkommen. – Wußten Sie denn, daß er reisen wird?« – »Ich? – Wieso?« fragte Friederike. Und mit einem plötzlichen Flackern von Angst im Blick: »Er ist doch in Paris!«
Es dauerte lange, ehe die Ärmste alles verstand – und als sie verstanden hatte, wollte sie noch nicht glauben. »Ein Spitzel?!« Sie kicherte schrill. »Mein Gabriel, mein Süßer – ein Spion? – hihihi! Verzeihen Sie, daß ich mich amüsiere!« Sie barg den verzerrten Mund hinter der Hand, wie etwas Häßliches oder Obszönes. »Ein Spitzel! Das könnte Ihnen so passen, Herr Deutsch! Mein Gatte hat Sie wohl geschickt – er spinnt Intrigen, er bezahlt die Häscher, er finanziert ganze Bureaus, die mich und Gabriel auseinanderbringen sollen. Vor keinerlei Unkosten scheut er zurück, nun hat er also auch Sie bestochen. Pfui, Herr Deutsch, das hätte ich nicht von Ihnen erwartet!« Sie schüttelte tadelnd den Kopf, zeigte bittere Gekränktheit – bis ihr ein anderer Einfall kam, der sie eher heiter stimmte und ihr Mienenspiel neckisch machte. »Oder geht der ganze Scherz von Ihnen aus?« Sie blinzelte anzüglich, spitzte auch die Lippen, wie zum Pfeifen oder zum Küssen. »Herr Doktor – Sie Böser! Haben Sie es darauf abgesehen, Gabriels Nachfolger bei mir zu werden? Sind Sie in mich verliebt?«
Endlich glaubte sie es: ihr Gabriel war fort, und er würde nicht wiederkommen. Sollte er es aber wagen, noch einmal zu erscheinen, so mußte sie ihm ins Gesicht spucken; denn er hatte sie mißbraucht und betrogen, von Anfang an. Da warf sie die Arme gen Himmel und schrie.
Der Schreikrampf dauerte minutenlang. Sie stand mit hochgereckten Armen mitten im Zimmer, das fahle Madonnengesicht etwas schief gestellt, die Löckchen, steif und zierlich gedreht, hingen ihr in die Stirne, und aus dem Mund, der klagend offenstand, kam das Gellen. Für David Deutsch war es eine gräßliche Situation. Er sagte: »Aber gnädige Frau! Ich bitte Sie, liebste Frau Markus! So beruhigen Sie sich doch, Frau Viola!« Sie schrie noch ein wenig weiter, als läge ihr daran, zu beweisen, daß sie erst dann aufhören werde, Lärm zu machen, wenn es ihr gefiel – keinen Augenblick früher. David meinte schon, sie werde ewig weiter kreischen – und er werde immer dazu