Gott – ein Ablenkungsmanöver der Bourgeoisie. Wie dumm und peinlich das klingt! Wie falsch das ist! – Aber ist es nur falsch?
Ich begreife immer besser den Sinn von Marcels Warnungen und von den spöttischen Blicken der »Schwalben«-Leute.
Die heilige und lebendige Wahrheit, die Gotteswahrheit, kann mißbraucht werden. Sie ist mißbraucht worden. Eine Klasse, der nur an ihrem Geld und an der politischen Macht liegt – sicherlich nicht an Gott – bediente sich des Heiligsten Namens, um die Armen abzulenken von ihrem Zorn – dessen Ausbruch der Untergang dieser Privilegierten wäre. Vielleicht will aber Gott diesen Untergang.
Ich habe mich selber ablenken lassen.
Verzeih mir, lieber Gott, ich habe zuviel an Dich gedacht.
Ich habe mich mit Dir mehr beschäftigt, als es in Deinem Interesse liegt: nämlich im Interesse Deiner Schöpfung, in der das Böse wuchert.
Ich habe Deinen Namen zuviel im Munde geführt. Es steht aber geschrieben, daß wir ihn nicht mißbrauchen sollen. Verzeih mir. Während ich mich am schönen Klang Deines Namens berauschte, habe ich ein dummes, weichliches und verfehltes Leben geführt.
Es wird heute viel Unfug mit Deines Namens Majestät getrieben. Mir wird ganz heiß vor Zorn, wenn ich daran denke. Vielleicht ist es wirklich schon so weit gekommen, daß man Dich vor Deinen eigenen Priestern schützen muß – oder doch vor einigen von ihnen. – Kümmert es Dich viel, ob Dich die Menschen anerkennen? Du bist der Herrscher, der gerne auf Bezeugungen der Unterwürfigkeit verzichtet, wenn nur gehandelt wird im Sinn Deines Willens. Wenn nur gehandelt wird …
Ich will handeln.
So ehre ich auch am besten Martins Andenken. Er ist zu früh müde gewesen – auch dieses hast Du gewollt und so eingerichtet. Du hast ihn aus unserer Mitte entführt, wie der Zeus den Ganymed – mit furchtbaren und strahlenden Händen hast Du ihn zu Dir emporgerissen.
Lieber Gott‹, dachte der Liegende, dem nun endlich die Augen zufielen – denn seine Gedanken waren am Ziel – ›lieber, rätselhafter, schrecklicher Gott: ich will mich ungeheuer zusammennehmen, auf daß ich nicht ermatte und möglichst stark werde.
Habe ich Deinen Willen erraten? – Ach nein, wohl immer noch nicht. Wer kannte je Deinen Willen …? Ich erinnere mich eines frommen Wortes: »Wenn man durch Vernunft es fassen könnte, wie der Gott gnädig und gerecht sein könne, der soviel Zorn und Bosheit zeigt, wozu brauchte man dann den Glauben?«
Wahrlich, ich glaube an Dich.
Bitte, laß mich jetzt schlafen!‹
Walter Konradi war ein aktiver Antifaschist. Er stand in lebhafter Beziehung zu den Illegalen im Reiche und zu verschiedenen Zirkeln der politischen Emigration. Durch seine Freundschaft mit der armen Friederike Markus, genannt Frau Viola, war er nun mit dem Kreis der Schwalbe in Kontakt gekommen; besonders schloß er sich an Dora Proskauer an. Als er sich mit ihr verabredete, sprach er so leise, daß Frau Viola es nicht hören konnte. Er lud die Proskauer in ein Kino ein; spazierte auch mit ihr durch den Bois de Boulogne. Sie war erst etwas erschrocken, weil er ihr so intensiv den Hof machte. Schließlich glaubte sie ihm, daß er sie reizend fand. »Sie sind schön, Dora, schön von innen heraus …« flüsterte er ihr in den schrägen Nacken. Dergleichen hatte sie noch selten zu hören bekommen; umso angenehmer klang es ihr nun. Er war ein perfekter Don Juan – seine Stimme, sowohl kräftig als auch einschmeichelnd; seine Hände, wohl geübt in allen Zärtlichkeiten. Sie ließ sich küssen; er bog leidenschaftlich, aber gewandt, ihren Kopf nach hinten. »Du bist wundervoll – von innen heraus …« hauchte er ihr zu; seine Lippen glitten über ihre große, gebogene Nase. Er fragte sie: »Darf ich zu dir kommen – heut nacht?« Sie nickte selig. Er kam. Es fiel ihr auf, daß er nach Cognac roch – er hatte sich Mut angetrunken; sie vergaß es. Er liebte sie, es gab keinen Zweifel. Sie war nie geliebt worden. Sie hatte nie geglaubt, daß sie begehrenswert sei. Es war köstlich, in seinen Armen zu liegen. Er erzählte ihr aus dem Konzentrationslager. »Mein Süßer – was mußt du gelitten haben!« Und er gestand ihr: »Wie oft habe ich mich damals nach einer Frau, wie du es bist, gesehnt.« Sie war glücklich; er schien es auch zu sein. Ehe sie sich am Morgen trennten, erfuhr sie: er mußte nach Deutschland, »in geheimer Mission«. – »Aber das ist gefährlich!« Dora war entsetzt. Er versicherte: »Ich komme schon heil zurück.«
Ein paar Tage später war er wieder da; ein dicker Haufen illegaler Antinaziliteratur – in Deutschland gedruckte Flugblätter und Broschüren – bewies, daß er nicht untätig gewesen war und die richtigen Leute gesehen hatte. Er gab sich wieder ziemlich viel mit der Proskauer ab, schlief auch noch einmal mit ihr und ließ sich von ihr Details über ihre Arbeit für das Jüdische Hilfscomité erzählen. Sie berichtete gerne, weil er beeindruckt schien. Eigentlich war sie diskret; ihm aber vertraute sie, er hatte sie ganz gewonnen. »Es ist eine wunderbare Arbeit«, versicherte sie. »Ich bekomme Einblick in soviel menschliches Schicksal. Auch in Deutschland haben wir Freunde. Sie liefern uns Material über die Greuel der Judenverfolgungen, das wir in die französische Presse bringen.« Grade für diesen Punkt schien er sich besonders zu interessieren. Er küßte sie innig, gleichsam als Belohnung für ihre lobenswerte Gesprächigkeit. – Sie bekam ein weiches, dankbares Lächeln, als er ihr sagte: »Du bist eine herrliche Frau! Was du alles leistest! – Und doch – ich habe mir’s überlegt: es ist schade, daß du deine Kräfte ganz für diese humanitäre Organisation verwendest. Es gibt anderes zu tun …« Sie fragte gierig: »Was meinst du? Was hast du im Sinn?« – »Ach, laß nur!« Er winkte ab. Endlich aber rückte er heraus: Diesmal sollte Dora nach Deutschland fahren. »Ich kann es nicht mehr riskieren«, bedauerte er. »Schon diesmal bin ich verdammt aufgefallen; beinah wäre es mir an den Kragen gegangen.« Sie erschauerte bei der Idee. – »Dich kennt doch niemand«, meinte Walter Konradi. »Aber andererseits – gefährlich bleibt es natürlich immer. Ich weiß doch nicht, ob man dir soviel zumuten darf. Mindestens müßte ich erst mal mit meinen Genossen Rücksprache nehmen. Du hast nicht viel politische Erfahrung – wenngleich euer Comité nicht ohne politischen Charakter ist – und es handelt sich um enorm wichtige Dinge.« Sie zeigte sich etwas gekränkt. »Natürlich – wenn du mir nicht vertraust …« – »Ich kenne dich ja …« Er legte ihr den Arm um die Schulter. »Aber die Kameraden …« – »Was für Leute sind das?« wollte sie wissen – woraufhin er etwas verächtlich grinste: »Gute Leute – das kannst du mir glauben, mein Kind!« – Sie drang weiter in ihn; aber er blieb wortkarg; nahm ihr nur das Versprechen ab, mit keinem Menschen über seinen Vorschlag zu reden.
Am nächsten Abend fing er wieder davon an. Es sei ihm gelungen, die »Kameraden« von Doras Zuverlässigkeit und Tapferkeit zu überzeugen. Es handle sich um eine kurze Reise nach Köln: »eigentlich nur um ein einziges Gespräch mit einer bestimmten Person«, gab er ihr zu verstehen. »Es ist der Mann, der die illegale Arbeit im Rheinland leitet. Die Instruktionen für ihn müßtest du dir merken; Schriftliches bekommst du nicht mit.«
Dora war, alles in allem, von der Idee entzückt. Es lockte sie, sich vor Walter tapfer zu bewähren und ihr Leben aufs Spiel zu setzen für eine Sache, die ihm so wichtig schien. Übrigens empfand sie selber mit Begeisterung Ernst und Pathos eines solchen Unternehmens. Wie fast alle Menschen ihrer Generation war sie im Innersten besessen vom Bedürfnis nach dem Heroischen; von dem Drang, sich zu opfern. Die Arbeit im Jüdischen Comité genügte ihr längst nicht mehr. Sie wollte mehr leisten, mehr wagen – das Äußerste. Und nun kam dieses Angebot, aus geliebtem Munde. Es kamen Instruktionen, der falsche Paß, das verschwörerische Gebot, absolutes Schweigen zu bewahren. Sie war eine politische Dilettantin; außerdem war sie verliebt. Verliebt nicht nur in den schönen Mann – Walter Konradi, den aktiven Antifaschisten – sondern auch in das Abenteuer. Ihr Leben, bis zu diesem Tage, war langweilig gewesen. Die Begegnung mit Walter hatte es schöner gemacht; jetzt aber erhielt es Sinn und Würde durch die Verantwortung, die Gefahr.
»Die Verbindung mit der Opposition im Lande;