Der Bruder der gnädigen Frau, der zwecks Geschäften oder Familienbesuchs für mehrere Wochen in Amsterdam weilte, war groß und stämmig. Auf einer auffallend steilen und harten, ungesund geröteten Stirn und auf den Wangen waren die scharfen Konturen von Schmißnarben sichtbar: Benjamin bemerkte es gleich, obwohl im Korridor Dämmerung herrschte. Herr Wollfritz hatte einen flachen Hinterkopf, einen steilen und breiten Nacken, dessen blutigrotes Fleisch wulstig über den Rand des Kragens quoll. Sein Schädel war glattrasiert, nur auf der Höhe des Kopfes war ein winzig kleines, sorgfältig pomadisiertes und gescheiteltes Arrangement semmelblonder Haare stehen geblieben – eine recht erstaunliche Frisur, wie sie, außer bei innerafrikanischen Negerstämmen, wohl nur noch bei deutschen Männern eines gewissen Typs üblich ist.
Benjamin grüßte mit jener ironisch-zeremoniellen Neigung des Oberkörpers, die er früher bei Begegnungen mit dem Geheimrat Besenkolb gehabt hatte. Herr Wollfritz musterte den Mieter seiner Schwester stählernen Blicks vom Kopf bis zu den Füßen, zog dann mit einem unverschämten Ausdruck die dünnen, blonden Augenbrauen hoch, spitzte die Lippen wie zum Pfeifen und dankte mit einem Kopfnicken, dessen Knappheit aggressiv wie eine Ohrfeige war.
Als die beiden Herren am nächsten Vormittag sich wieder im Flur trafen, wurde kein Gruß mehr getauscht.
Benjamin Abel und Herr Felix Wollfritz konnten einander nicht ausstehen und machten kein Hehl aus ihrer instinktiven, heftigen Aversion. Es gibt den coup de foudre eines Hasses auf den ersten Blick wie den der Liebe.
Leider war die Wand, die Abels Zimmer von dem des Herrn Wollfritz trennte, nur eine sehr dünne. Benjamin mußte hören, wenn sein Nachbar sich räusperte; wenn er morgens gurgelte, sich die Zähne putzte; ja, sogar wenn er laut gähnte. Als Wollfritz sich einmal eine Dame zur Lustbarkeit mitgenommen hatte, sah Benjamin sich genötigt, sein Zimmer und das Haus zu verlassen; es ging über seine Kräfte, das Liebesleben des forschen Hamburgers in den akustischen Details zu verfolgen.
Von dem Tage an, da Herr Wollfritz sich in so intimer Nachbarschaft einquartiert hatte, stand es bei Benjamin fest: Ich ziehe aus. Es mußte aber noch zu einem besonderen Eklat, einer Provokation ohnegleichen kommen, damit der sanfte, schwerfällige Abel seinen Auszug derart beschleunigte und die zornige Demonstration aus ihm machte, wie er es dann wirklich tat.
Die Provokation, durch die der höchst Geduldige aus der Contenance gebracht wurde und die ihn so fürchterlich ärgerte und erregte, daß er mit beiden Füßen aufstampfte, die Fäuste ballte und schrie – sie bestand darin, daß Herr Wollfritz, der nicht nur einen Radioapparat, sondern auch ein Grammophon besaß, bei offener Zimmertür und unter Benutzung einer Nadel, die besonders starken Ton erzeugte, das Horst-Wessel-Lied spielen ließ. Dabei richtete er es so ein, daß der Professor, als er nachmittags vom Spaziergang zurückkehrte, mit der verhaßten Melodie empfangen wurde. Ihm schmetterte es entgegen:
»Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen,
SA marschiert mit ruhig festem Schritt …«
»Schluß!!« schrie der Professor, dessen Gesicht erst sehr rot, dann weiß wurde und sich mit Schweiß bedeckte. »Schluß!! Genug!!«
Er war drauf und dran, ins Zimmer des Herrn Wollfritz zu stürzen und mit eigener Hand den Lauf der Platte zu stoppen, vielleicht gar den Apparat aus dem Fenster zu schleudern. Wollfritz trat ihm hoch aufgereckt in der Tür entgegen. Die schneidende Kommandostimme schrie Abel an: »Sie sind wohl irrsinnig, Herr! Wenn Sie mein Zimmer betreten, lasse ich Sie durch die Polizei rausschmeißen!«
Diese Stimme war geeignet, dem Professor vollends die Besinnung zu rauben. Er keuchte: »Das ist eine Provokation! Stellen Sie sofort den Apparat ab! Ich brauche mir das nicht gefallen zu lassen!«
Darauf Herr Wollfritz, mit kaltem Hohn: »So was hat mir gerade gefehlt! Der Jude will mir verbieten, die Nationalhymne meines Vaterlandes in meinem Zimmer zu spielen. Bodenlose Frechheit! Man ist bei uns immer noch zu sanft mit den Juden! Sowie sie im Ausland sind, werden sie unverschämt!«
Abel hatte schon die Fäuste gehoben. Aber am Grinsen des anderen erkannte er, daß dieser sich nichts anderes wünschte als ein Handgemenge. Blind, zitternd taumelte Benjamin in sein Zimmer. »Meine Rechnung!« rief er noch, ehe er die Tür hinter sich zuschmiß. »Ich ziehe aus! Sofort!«
»Ist auch Ihr Glück!« erklärte Wollfritz, wobei er seinerseits sich zurückzog. »Ich wäre auch nicht mit Ihnen unter einem Dach geblieben. Meine Schwester hätte zu wählen gehabt zwischen Ihnen und mir.«
Fünf Minuten später wurde dem Professor die Rechnung gebracht, als hätte man den Vorgang vorausgewußt und alles für seinen Aufbruch vorbereitet. Stinchens Mutter, in drohend korrekter Haltung, überreichte ihm das Papier auf einem Silbertablett. »Hier, Mijnheer«, sagte sie mit rauher, böser Stimme. Sie sah krankhafter und erschreckender aus denn je. Ihr großes Männergesicht war aschfahl und schien verwüstet von schlimmen Leidenschaften; in den Augen brannten Lichter eines irren Triumphes. Übrigens zeigte sie sich höflich und beflissen, trotz allem. Sie trug mit starkem Arm Benjamins schweren Koffer, den er eilig gepackt hatte, die steile Treppe hinunter.
An der Türe des Brummers blieb Abel stehen, um noch einmal dem wohlbekannten, trostlosen Geräusch zu lauschen. Der Kranke schien gerade eine seiner munteren Stunden zu haben. In seinem Brummen und Summen ließ eine beschwingte kleine Melodie sich erkennen. ›Gleich wird er wieder heraustreten, um mich zum Tänzchen zu bitten‹, dachte Benjamin und ging eilig weiter.
Während die virile Matrone den Koffer ins Taxi verstaute, schlüpfte Stinchen aus der Haustür hervor. Sie preßte sich ein großes, buntes Taschentuch vors Gesicht; dahinter flossen die Tränen. Abels Herz zog sich zusammen vor Rührung und einer sehr zärtlichen Traurigkeit. Obwohl die Mutter, die sich umgewendet hatte, ihn mit wütenden Blicken töten zu wollen schien, ging er munter auf Stinchen zu und streckte ihr die Hand hin. »Adieu, liebes Kind«, sagte er sanft. Ihm antwortete innig ihr in Tränen schwimmender Blick. »Auf Wiedersehen«, brachte sie hervor. Dann sprang sie davon – entweder aus Angst vor der Alten oder weil sie sich der Tränen schämte.
Während der Wagen sich in Bewegung setzte, empfand Abel: ›Ich war sehr alleine in diesem Haus, und zum Schluß habe ich auch noch einen großen Ärger gehabt. Aber ganz einsam war ich doch nicht, und ganz schlimm ist es hier nicht gewesen. Es hat jemand um mich geweint. Vielen Dank, liebes Stinchen. Ich vergesse dich nicht.‹
4
Der Sommer des Jahres 1933 war sehr heiß. Paris glühte. Auch die Nächte brachten keine Kühlung. Die Steinmassen der ungeheuren Stadt strahlten die Wärme aus, die sie tagsüber von der gewaltigen Sonne empfangen hatten. Der Asphalt schmolz. Die Schuhsohlen der Gehenden blieben hängen in seiner zähbreiigen Masse. In den engen Gassen des Quartier Latin und um den Boulevard St.-Germain war die Temperatur wie in einem Backofen. Wenn man das Haus verließ, empfing einen draußen die Hitze wie eine erstickende Umarmung.
»Es ist, als ob man einen Schlag vor die Stirn bekäme«, sagte Marion, die mit ein paar jungen Leuten den Boulevard St.-Germain hinunterschlenderte. – »Alle besseren Pariser scheinen nach dem 14. Juli aufs Land gefahren«, stellte Theo Hummler fest, der sich vor den Burschen, die gerade erst aus Deutschland eingetroffen waren, als Kenner französischer Verhältnisse zeigen wollte. »Der ›Boul’ Mich’‹ ist verödet. Nicht einmal die Studenten sind mehr da …« – »Nur die Proleten – und die Emigranten sind zurückgeblieben«, ergänzte Marion munter.
Die Burschen aus Deutschland waren sozialistische junge Arbeiter, die über Straßburg hierher geflohen waren. Sie waren Schüler von Theo Hummler in Berlin gewesen. Marion und Hummler hatten sie frühmorgens an der Gare de l’Est abgeholt und ließen sich nun seit Stunden von ihnen erzählen. Einer war im Konzentrationslager gewesen; dort hatte er den Konni Bruck getroffen, den Freund von Marions Schwester. »Dem Jungen geht es miserabel«, berichtete er bedauernd. »Er