Schicksalhafter Kompromiss. Christine Feichtinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Feichtinger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754178041
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die immer behauptete, Rheuma zu haben und deshalb immer mit eingebundenem Kopf und Händen herumging. Großmutter, hast du Kopfweh, hatte sie Patrik oft besorgt gefragt. „Nein, aber der Kopf könnte anfangen zum Wehtun“, hatte sie oft erwidert.

      Nie hätte sie mit bloßer Hand ihre Kredenzgriffe oder Türklinken benützt, sondern hatte immer ein Geschirrtuch in der Hand, um sich ihre Hände nicht am kalten Griff zu verkühlen. Und abends nahm sie das Fernglas, besichtigte wichtigtuerisch die Himmelsgestirne, reimte sich allerlei Unheil bringende, künftige Vorkommnisse zusammen, um der Astrologie zu frönen.

      „Was für eine Schande. Wir sind bessere Leute. Unsere Verwandten und alle im Dorf werden lachen über dich“, verhöhnte Angelique Patriks Großmutter wieder und riss Patrik aus seinen Gedanken.

      „Ja, das war ihr sehr wichtig, dass alle in ihrem Heimatdorf am Land den Eindruck gewannen, sie hätte sich von ihrer Herkunft als einfaches Bauernmädchen verabschiedet, mit ihrer Heirat einen Glücksgriff gemacht und gehöre mit ihrem Beamtengatten der höheren Schicht an“, erwiderte Patrik.

      Ja, Großmutter würde sich schämen vor ihren Verwandten im Dorf wegen ihrer alten, verwelkten Schwiegertochter mit ihrer vulgären Art.

      Aber wie sehr sie und sein Großvater von ihren Verwandten verhöhnt und verlacht wurden im Dorf und er sich dafür schämte, wusste Großmutter nicht.

      Jedes Mal, wenn er als Kind mit seinen Großeltern im Heimatdorf seiner Großmutter mit dem Bus ankam, wo sie zu Hochzeiten und Geburtstagsfeiern bei ihren Verwandten eingeladen waren, spielte sich Großmutter als Beamtengattin auf und Patrik schämte sich sowohl ihretwegen als auch wegen seines Großvaters.

      Sobald sie im Dorf auftauchten, spotteten die Leute: „Die Städter mit ihrem Vogel sind wieder da.“ Und bald gab es ein Gelächter unter den Bauern. Mit ihrem Aufzug und ihrem Benehmen machten sie sich im Dorf lächerlich. Beide Großeltern waren immer in dieselbe altmodische Kleidung gekleidet. Sobald sie in ihrer altmodischen Kleidung und Schuhen, Hüten mit Federn, ins Dorf kamen, waren sie dem Gespött der Dorfbewohner ausgesetzt. Im Winter trugen sie ihre Jacken unterhalb ihrer Mäntel aus Angst, dass die Jacken derweil zuhause gestohlen werden könnten. Wenn Großmutter mit ihren Stöckelschuhen auf der Gasse in den Gatsch oder auf die Exkremente der Gänse, Hühner, Enten, Hunde stieg, wurde sie wütend und scheuchte alle Tiere weg.

      Sowohl Großmutter als auch Großvater trugen in ihren Rucksäcken ihre wertvollsten Gegenstände und Barvermögen mit, aus Angst, zuhause ausgeraubt zu werden, und ließen diese Rucksäcke nie aus den Augen, damit sie nicht gestohlen werden konnten. Zuhause hatten sie vor ihrem Weggang alle Schränke verbarrikadiert, um einen eventuellen Dieb aufhalten zu können, bis er entdeckt werden würde. In der einen Hand trug Großvater den Käfig mit dem Papagei, in der anderen Hand eine Topfpflanze, da sie niemanden bitten konnten, den Papagei oder die Topfpflanze zu betreuen, weil ihre Bekannten alle unter ihrer Würde waren. Großvater sah mit seinem Schnauzer, seinen Hosenträgern, in seiner Hose mit einem eingesetzten Zwickel am Gesäßteil, seinen Ärmelschonern, Nickelbrille und zwei Hüten übereinander so komisch aus, als wirke er zusammen mit Charly Chaplin in einem Stummfilm aus längst vergangenen Zeiten mit.

      „Sie ist verrückt und hochnäsig. Sie benimmt sich so, als wäre sie die Königin von England“, schimpfte Angelique wieder.

      Als hätte sie wie bei einer Gedankenübertragung Patriks Gedanken erraten. Tatsächlich kannte er diese Bezeichnung für seine Großmutter von den Verwandten am Land. Heimlich musste er lächeln.

      Sobald Patrik sich von seinen Großeltern entfernte und seine Großmutter außer Sicht- und Hörweite war, hörte er die Verwandten über sie lästern.

      „Unsere Königin von England ist auch wieder hier. Die trägt ihre Nase so hoch, dass es bald hineinregnen wird.“

      Wir leben nicht wie die Königin, sondern so arm wie eine Kirchenmaus, hätte Patrik gerne erwidert. Sie muss sparen und ist so knausrig. Und dennoch wollte sie jedem zeigen, dass sie eine Bessere wäre und was sie sich alles leisten könne. Beim Kauf dieses Kleides, das sie unbedingt zu dieser Feier haben wollte und es ihr zu teuer war, kniete sie sich vor der Verkäuferin mit bittenden Händen nieder: „Bitte, verkaufen Sie mir das Kleid billiger, ich muss es haben. Ich fahre auf das Land zu meinen Verwandten und muss Eindruck machen und gut aussehen. Ich habe dort reiche Verwandte und werde ihr Geschäft weiterempfehlen“, log sie. Patrik hatte sich so geschämt und wäre am liebsten unsichtbar geworden.

      „Gleich wird sie wieder anfangen, sich mit ihrem Beamtengatten zu prahlen. Wenn sie auch sonst nichts spricht mit uns primitiven Bauern“, hörte Patrik die Verwandten lästern.

      „Nur weil sie einen Beamten mit ihrer vorgetäuschten Schwangerschaft überrumpelt hat und ihr dieser auf den Leim ging, bildet sie sich ein, etwas Besseres zu sein. Wir Bauern sind ihr zu dumm. Dabei ist sie die Ärmste unter uns. Lebenslang geht sie mit demselben Hut, Mantel und Handschuhen und prahlt sich, obwohl sie arm wie eine Kirchenmaus ist und nur auf Miete in zwei Räumen haust. Sie hat nur das, was sie am Körper trägt. Ihre Briefe zu Ostern und Weihnachten schreibt sie aus lauter Sparsamkeit auf Zeitungsrändern und braunen Zuckersackerln. Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz.“

      „Nie würde sie uns helfen. Arbeiten und sich dreckig machen hat die nie mögen, deshalb ist sie auch fortgegangen von hier“, höhnten andere Zuhörer.

      „Was die für Ansprüche stellt. Hoffentlich ist unser Zimmer sauber und stinkt nicht vom Stallgeruch und vom Misthaufen, weil ich dann nicht schlafen kann. Wir möchten keine Läuse und Flöhe heimbringen. Mein Mann ist Beamter, er ist was Besseres gewohnt“, scherzten sie.

      „Wir sollten den grünen Heinrich anrufen“, (in die Psychiatrie bringen lassen) lachte ein anderer.

      „Ihr Erbteil, welches wir von unseren Feldern und dreckigen, stinkenden Ställen erarbeitet haben, hat sie schon von uns genommen. Das war ihr nicht zu schmutzig“, ätzte eine andere Verwandte.

      Ein besonderes Erlebnis hörte Patrik jedes Mal, wenn er ins Dorf kam. Als Großmutter einmal nach langer Zeit ins Dorf kam und einen Rechen sah, fragte sie: „Was ist das für ein Ding?“ Sie stieg auf den Rechen, der schnellte hoch und schlug ihr auf den Kopf. Sie fürchtete, eine Beule am Kopf zu haben, weinte und schrie: „Oh du dummer Rechenstiel.“

      Jedes Mal, wenn Großmutter im Dorf auftauchte, lachten die Leute im Dorf und erzählten diese Geschichte ihren Kindern und Enkelkindern.

      „Diese neunmalgescheite Stadtdame ist grad so falsch und ein abgebrühtes Luder wie ihre Mutter es war. Ihre Mutter ist auch immer unter dem Vorwand, sie müsse ihre kaputte Nähmaschine in Ungarn reparieren lassen, nach Ungarn gegangen, wo sie einen Liebhaber hatte. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Die Tochter ist genauso mit allen Wassern gewaschen wie ihre Mutter. Keine andere Frau hat es geschafft, ohne Geld nach Amerika hin und zurückzufahren. Ihre Mutter schon. Als ein Besucher aus Amerika ins Dorf kam, hat sie sich an ihn rangeworfen, damit er sie nach Amerika mitnimmt. Er hat sich in sie verliebt, hat sie mitgenommen nach Amerika und hat ihr die Fahrt im Glauben an ein gemeinsames Leben bezahlt. Dort hat sie auch nicht arbeiten mögen und konnte ihm die Fahrtkosten nicht zurückzahlen. Das Heimweh hat sie geplagt. Dann hat sie sich in Amerika einen anderen Heimkehrer angelacht und ist mit ihm kostenlos heimgefahren, denn der hat auch ihre Fahrt bezahlt. Geheiratet hat sie keinen und keinem hat sie jemals die Fahrtkosten ersetzt“, höhnte eine andere Verwandte.

      Von all dem Gespött auf ihre Person bekam Großmutter nichts mit. Als hätte sie ihre Rolle als Beamtengattin genau einstudiert, ging vor jeder Feier das Gezeter um einen geeigneten Sitzplatz los. Wo sollen wir sitzen? Zum einen war ihr nicht jeder Sitznachbar genehm, zum anderen war zu viel Zugluft am Platz, beim Fenster stank es vom Kuhstall her, sodass sie fast keinen geeigneten Sitzplatz finden konnte. Niemals wäre sie an der Seite ihrer Schwester Anna gesessen, mit der sie wegen des Erbteils zerstritten war.

      Jahrelang waren sie sich deswegen ausgewichen und als sie sich nach Jahren einmal bei einem Krankenbesuch eines Verwandten im Spital wieder trafen, erkannten sie sich nicht. Wenn dann ein geeigneter Sitzplatz gefunden war, saß seine Großmutter als Einzige beim Essen mit Hut