Die Polizei ist in bezug auf diese Demonstrationen in eine gewisse Bedrängnis geraten, weil ihre Darstellung vielfach, sobald die Demonstrationen Gegenstand gerichtlicher Verhandlungen und in eine unparteiische Beleuchtung gerückt wurden, widerlegt werden konnte. Deshalb hat sie neuestens einen erfreulichen Fortschritt auf dem Gebiete, auf dem die preußische Polizei allerdings fast allein fortzuschreiten pflegt, auf dem Gebiet nicht des Schutzes, sondern der Verfolgung der Bevölkerung. (Zuruf rechts.)
... Diese Ausschreitungen und Übergriffe der Polizei sind schon vor den städtischen Kollegien in Halle, Frankfurt, Neumünster und wohl auch in Königsberg erörtert worden. Sie sind – so sehr wir sie bedauern – sicherlich eins der besten Agitationsmittel für die Sozialdemokratie und haben vor allem dazu beigetragen, das Interesse an dem Wahlrechtskampf geradezu ins Ungemessene zu steigern. Natürlich hat die Sozialdemokratie in diesem Kampf noch weitere und schärfere Mittel, vor deren Anwendung sie nicht zurückschrecken wird („Hört, hört!“), sobald sie es selbst für zweckmäßig hält. („Hört, hört!“) Ich spreche nicht von Browningpistolen, von Maschinengewehren und Säbeln und all dieser brutalen Gewalt, sondern von unserer Agitation, die die Bevölkerung in eine Stimmung hineintragen wird – auch solche Kreise, ohne die Sie nicht existieren können –, daß die Regierung nicht mehr imstande sein wird, ihre volksfeindliche Haltung in bezug auf das Wahlrecht zu bewahren. Es ist nicht der geringste Zweifel, daß wenn die Verhältnisse sich weiter so entwickeln, wenn nicht zur rechten Zeit dafür gesorgt wird, daß auf die Wunden des Volkes etwas Balsam gelegt wird, daß dem Bedürfnis des Volkes eine nennenswerte, eine ausreichende, eine volle Befriedigung zuteil wird, dann auch das Mittel des Massenstreiks zur Anwendung kommen wird. (Lebhaftes „Hört, hört!“) Das Mittel wird zur Anwendung kommen ... Meine Herren, ins Bockshorn jagen läßt sich das Proletariat noch längst nicht, und wenn Sie und die Polizei auch mit Ihrer ultima ratio, den Waffen, dem Militär und dergleichen weiterhin vorgehen, so werden Sie keinen Erfolg haben gegenüber diesem Ansturm der breiten Massen des Volkes, von dem Sie sich im Innersten Ihres Herzens selbst sagen, daß er Ihre äußerlich zur Schau getragene Zuversicht doch recht erheblich erschüttert hat. (Heiterkeit.) – Ja, meine Herren, ich darf Ihnen sagen, daß gerade der neueste Wahlrechtskompromißversuch, der von den herrschenden Parteien gegenwärtig unternommen worden ist, nur geeignet ist, die Empörung weiterhin zu steigern, und daß nichts mehr 01 in unser Feuer zu gießen geeignet ist, als eine derartige Haltung der Kommission. (Glocke des Präsidenten.)
Vizepräsident Dr. Porsch (den Redner unterbrechend): Herr Abgeordneter, es ist vorhin ausdrücklich beschlossen worden, über die Wahlrechtsfrage nicht zu sprechen. Ich bitte, sich an diesen Beschluß des Hauses zu halten.
Meine Herren, wir Sozialdemokraten, das organisierte Proletariat, werden uns nicht ins Bockshorn jagen lassen, werden die Flinte nicht in das Korn werfen. Der Ansturm wird wachsen und nicht zurückgehen; er wird um so energischer und gefährlicher werden für Sie und die ganze preußische Herrschaft, je mehr Sie versuchen, die Demonstrationen und die legitime Geltendmachung der Stimmung des Volkes zu unterbinden. (Zurufe rechts.) Meine Herren, wir rufen das Bürgertum auf, Seite an Seite mit der Sozialdemokratie zu stehen bei diesen Kämpfen, diesen Demonstrationen; wir rufen – vor allen Dingen die Schichten des Proletariats, die noch hinter dem Wagen der herrschenden Parteien herlaufen (Zurufe rechts.), immer und immer wieder auf, den Kampf zu führen Seite an Seite mit dem klassenbewußten Proletariat, der Sozialdemokratie. Ich darf wohl auch sagen, daß die große Masse der Beamtenschaft und der anderen Funktionäre des gegenwärtigen Staats in immer höherem Maße erkennen, daß sie nicht interessiert sind an der Aufrechterhaltung der preußischen Reaktion („Oho!“ rechts.), daß die große Masse der Beamtenschaft und der übrigen Staatsfunktionäre sich mehr und mehr auf die Seite der Sozialdemokratie scharen wird (Widerspruch rechts und im Zentrum.), daß, meine Herren, wenn es darauf ankommen wird, auch Ihre letzten Waffen gegen das Proletariat versagen werden: Polizei und Militär! („Bravo!“ bei den Sozialdemokraten.)
Imperialismus
(September 1912)
Ich darf wohl, ohne unbescheiden zu sein, daran erinnern, daß auf zwei internationalen Jugendkonferenzen – 1907 und 1910 – die hier behandelte Frage ausführlich und, wie ich glaube, alle die hier und vorher in den Preßdebatten vorgebrachten Gesichtspunkte umfassend, besprochen worden ist. Unzweifelhaft besteht ein Gegensatz zwischen den Auffassungen der Genossen Lensch-Pannekoek und Kautsky und anderen. Aber mir scheint das doch kein so tragischer Konflikt, daß man nötig hätte, sich die Haare auszuraufen. (Heiterkeit.) Ich meine, daß Pannekoek und Lensch bloß den Gedankengang nicht zu Ende denken, den sie der Marxismus weist. Sie bleiben auf halbem Wege stehen und sind befangen in einer etwas mechanistischen Auffassung der Gesellschaft und ihrer Entwicklung. (Lebhaftes „Sehr wahr!“) Es ist ganz eigentümlich, daß Lensch, der sonst ein so eifriger Bekenner des antagonistischen Charakters unserer Gesellschaftsordnung ist, hier so vollkommen versagt, und es ist erstaunlich, daß er verkennt, wie es zwar in der kapitalistischen Gesellschaft wohl notwendige Tendenzen gibt, aber keinerlei absolute Notwendigkeiten nach keiner Richtung hin, und wie den notwendigen Tendenzen allenthalben ebenso notwendige Gegentendenzen entgegentreten. Und wenn Lensch erklärt, wir haben den Kapitalismus zu fassen, wie er ist, so müssen wir sagen, indem wir ein Wort von Lensch aufnehmen, wir dürfen auch den Kapitalismus nicht isoliert nehmen, nicht als unter einer Glasglocke befindlich betrachten, losgelöst von den gleichzeitigen antikapitalistischen Kräften und Trieben. Es gehört zu den Tendenzen der kapitalistischen Entwicklungsperiode, daß alles zeitweilig notwendig und alles nicht dauernd notwendig ist. Wir brauchen nur zu erinnern an die kapitalistische Konkurrenz – ich spreche noch nicht von der internationalen –, wie sie in verschiedenen Perioden einen sehr verschiedenen Charakter annimmt. Das einmal Bestehende ist ein Notwendiges nur insoweit sich nicht Gegentendenzen entfalten, die Modifikationen und Umänderungen herbeiführen.
Ganz genauso liegt es mit der Frage, die uns hier beschäftigt. Es trifft nicht zu, daß im Kapitalismus keine Gegentendenzen gegen die kriegerischen Tendenzen und gegen das Wettrüsten vorhanden seien. Die Resolutionen der internationalen Jugendkonferenzen haben dies in gründlicher Weise behandelt. Und Bebel ist es gewesen, der im vergangenen Jahre auf dem Parteitag in Jena gerade die internationalen Zusammenhänge, die selbst vom Standpunkt des Kapitalismus aus gegen den Kriegswahnsinn sprechen, in schlagenden und eindrucksvollen Sätzen vor Augen geführt hat.
Lensch hat einen wesentlichen Gegensatz zwischen Abrüstung und Miliz konstruiert. Ich bestreite, daß dieser Gegensatz besteht. Wir hatten auf der Kopenhagener Jugendkonferenz 1910 – gestatten Sie, daß ich etwas viel davon rede, vielleicht lächeln Sie in sich hinein, aber mir scheint das wichtig – entsprechend dem deutschen Parteiprogramm die Miliz, die allgemeine Volksbewaffnung, als eines der Ziele der antimilitaristischen Bewegung festlegen wollen. Wir fanden aber energischen Widerspruch bei den Skandinaviern, denen die Miliz als eine Verschlechterung ihres bisherigen Zustandes erscheint. Die Sache liegt doch so: Wir streben nicht die Miliz um ihrer selbst willen an; wir wollen doch nicht das Volk bewaffnen, soweit es nicht zur Abwehr gegen die herrschenden und unterdrückenden inneren Mächte und gegen auswärtige Feinde nötig ist. Die Miliz ist nicht in allen Fällen das Bessere gegenüber dem bestehenden Zustande, sie kann unter Umständen auch eine Verschlimmerung sein, sie ist nur das kleinere Übel im Vergleich zu dem größeren, vor allem zum stehenden Heere, demgegenüber sie in bezug auf internationale wie auf innerpolitische Konflikte minder gefährlich ist. Es besteht also auch aus diesem Grunde kein prinzipieller Widerspruch zwischen Miliz und Abrüstung.
Der Imperialismus, kann man wohl kurz und bündig sagen, ist ein kapitalistisches Geschäft, und weil er das ist, empfiehlt es sich, das Wesen des Kampfes gegen den Imperialismus auf eine kaufmännische Formel zu bringen. („Sehr gut!“) Die historische Mission des Proletariats gegenüber dem Imperialismus ist, geschäftlich betrachtet, das soziale, politische und auch wirtschaftliche Risiko der kriegerischen Form des internationalen Konkurrenzkampfes durch seine Klassenkampfpolitik für die herrschenden Klassen der beteiligten Länder dermaßen zu erhöhen, daß ihnen selbst die friedliche Verständigung in der internationalen Konkurrenz, zum Beispiel im Sinne der Vertrustung, als das geschäftlich Zweckmäßigere erscheint. In dieser Weise das Problem aufgefaßt,