»Warum fahrt Ihr noch nicht?« sagen zu mir die Weiber.
»Warum ich noch nicht fahre? Ihr seht doch«, sage ich, »warum: mein Pferdchen will nicht, es ist nicht in der Stimmung.«
»Zieht ihm doch ein paar mit der Peitsche über«, sagen sie. »Ihr habt doch eine Peitsche!«
»Ich danke euch«, sage ich, »für den Rat, es ist gut, dass ihr mich daran erinnert habt. Leider hat aber mein Pferd vor solchen Dingen keine Angst. Es ist die Peitsche schon so gewohnt wie ich die Armut«, sage ich zu ihnen wie im Scherz, während ich wie im Fieber zittere.
Kurz und gut, was soll ich Euch lange damit aufhalten, ich ließ meine ganze Erbitterung an dem Pferdchen aus. Ich schlug es so lange, bis es mit Gottes Hilfe die Beine rührte. ›Und sie zogen aus von Raphidim ...‹ So fuhren wir durch den Wald auf dem Wege nach Bojberik. Und wie wir so fahren, kommt mir ein neuer Gedanke in den Sinn: ›Ach, Tewje, bist du ein Esel! Die Fallsucht komme über dich! Du warst ein Bettler und bleibst ein Bettler. Was heißt das? Da schickt dir Gott eine solche Begegnung, wie man sie einmal in hundert Jahren erlebt. Warum machst du nicht im voraus aus, was du dafür zu bekommen hast? Von welchem Gesichtspunkte du die Sache auch betrachtest, vom Gesichtspunkte des Gewissens oder der Menschlichkeit, des göttlichen oder des menschlichen Gesetzes, oder ich weiß selbst nicht von welchem Gesichtspunkte, so ist es wirklich kein Verbrechen, wenn du bei einer solchen Gelegenheit etwas verdienst. Warum sollst du den Knochen nicht ablecken, wenn du ihn gefunden hast? Laß dein Pferd halten, du Rindvieh, und sage ihnen soundso, wie Jakob zu Laban gesagt hat: ›Es geht um Rahel, deine jüngere Tochter!‹ Habt ihr bei euch soundso viel, so ist es gut; und wenn nicht, so nehmt es mir nicht übel und steigt aus dem Wagen!‹ Gleich darauf sage ich mir aber: ›Du bist doch wirklich ein Rindvieh, Tewje! Weißt du denn nicht, dass man das Fell des Bären im Walde noch nicht verkaufen darf?‹
»Warum fahrt Ihr nicht ein wenig schneller?« sagen die Weiber und stoßen mich in den Rücken.
»Habt ihr denn«, sage ich, »keine Zeit? Übereilung«, sage ich, »führt zu nichts Gutem!« Ich schaue meine Fahrgäste an: sie sehen wirklich wie Weibsbilder aus; die eine hat ein seidenes Tuch auf dem Kopfe, und die andere eine Perücke; so sitzen sie da, schauen einander an und tuscheln miteinander.
»Ist es noch weit?« fragen sie mich.
»Näher als von hier«, sage ich, »ist es ganz gewiß nicht. Bald«, sage ich, »geht es bergauf, dann bergab, und dann«, sage ich, »geht es wieder bergauf und wieder bergab, und erst dann«, sage ich, »kommt der große Berg. Den müssen wir hinauf und wieder hinunter, und von dort geht schon ein ebener Weg bis nach Bojberik ...«
»Ein Unglücksmensch!« sagt die eine zu der anderen. »Die Cholera!« sagt die andere.
»Ein Sieb voller Elend!« sagt wieder die erste.
»Mir scheint, er ist einfach verrückt!« sagt wieder die andere. ›Natürlich bin ich verrückt‹, denke ich mir, ›wenn ich mich so an der Nase herumführen lasse! ...‹
»Wo soll ich euch abwerfen, meine werten Damen?« sage ich zu ihnen.
»Was heißt«, sagen sie, »abwerfen? Was wollt Ihr damit sagen?«
»Es ist nur so ein Ausdruck«, sage ich, »aus der Fuhrmannssprache! In gewöhnlicher Menschensprache heißt das: wo soll ich euch hinbringen, wenn wir«, sage ich, »mit Gottes Hilfe, heil und gesund und wenn der Herr uns am Leben erhält, nach Bojberik kommen? Es heißt ja: lieber zweimal fragen als einmal irregehen!«
»Ach so, das wollt Ihr wissen! Ihr werdet«, sagen sie, »so gut sein und uns zu der grünen Villa bringen, die am Flusse jenseits des Waldes steht. Kennt Ihr sie?«
»Warum soll ich sie nicht kennen?« sage ich. »Ich bin doch in Bojberik wie zu Hause. Ich möchte so viele Tausende verdienen«, sage ich, »wieviel Bauklötze ich schon hingebracht habe. Bei der grünen Villa«, sage ich, »habe ich erst im vorigen Sommer zwei Kubikklafter Brennholz abgeladen. Damals wohnte dort ein reicher Mann aus Jehupez23, ein Millionär, ein Mann, der vielleicht hunderttausend oder gar zweihunderttausend Rubel hat!«
»Er wohnt auch heuer da«, sagen die beiden Weiber. Sie schauen einander wieder an, tuscheln und lachen.
»Halt!« sage ich; »wenn die Schmerzen der Schwangerschaft wirklich so groß sind, so darf ich doch annehmen, dass ihr in irgendwelcher Beziehung zu ihm steht. Es wäre vielleicht gar nicht so dumm«, sage ich, »wenn ihr euch bemühen wolltet, bei ihm ein Wörtchen für mich einzulegen, dass er mir Arbeit oder eine Stelle verschafft, oder ich weiß selbst nicht was. Ich kenne«, sage ich, »einen jungen Mann, Jßroel heißt er und wohnte nicht weit von unserem Städtchen. Ein großer Taugenichts war er, aber er machte, kein Mensch weiß, wie, seinen Weg. Heute ist er ein einflußreicher Mensch, verdient vielleicht zwanzig Rubel die Woche und vielleicht gar vierzig, – was weiß ich? Andere Leute haben Glück! Was wäre, zum Beispiel, aus dem Schwiegersohne unseres Schächters geworden, wenn er nicht nach Jehupez24 gekommen wäre? Allerdings ging es ihm dort in den ersten paar Jahren sehr schlecht, und er starb beinahe vor Hunger. Aber jetzt – auf mich sei es gesagt, wenn er nur keinen Schaden davon hat! Er ist schon soweit, dass er Geld nach Hause schickt und sein Weib mit den Kindern zu sich nach Jehupez kommen lassen will. Er hat aber kein Wohnrecht[^jeuhpez] in Jehupez. Werdet ihr doch fragen: also wie wohnt er dort? Nun, er quält sich eben ab … Ich sage ja immer«, sage ich, »wenn man lebt, kann man manches erleben. Da ist ja auch schon«, sage ich, »der Fluß und da ist die grüne Villa!« So sage ich und fahre nobel und mit großem Gepolter vor die Villa, so dass die Deichsel beinahe in die Veranda hineinstößt.
Wie man uns sah, gab es gleich Freude und Jubel, einen Lärm und ein Geschrei: »Gott, da ist ja die Großmutter! … Die Mutter! … Tante! … Da seid ihr ja endlich! Gratuliere! … Gott, wo seid ihr gewesen? Den ganzen Tag waren wir ohne Kopf … Überallhin haben wir Reiter ausgeschickt … Wir glaubten schon, Wölfe hätten euch zerrissen … Oder, Gott bewahre, Räuber hätten euch überfallen … Was ist denn passiert?«
»Es ist etwas sehr Schönes passiert: wir haben uns im Walde verirrt, haben uns vielleicht zehn Werst vom Hause entfernt … Plötzlich sehen wir einen Juden ...« – »Was für einen Juden?« – »Einen Unglücksmenschen mit einem Pferd und einem Wagen. … Mit Mühe und Not ließ er sich bewegen, uns mitzunehmen! … Es war entsetzlich!« – »Ganz allein, ohne Begleitung?« – »Das war eine Geschichte, man muß Gott danken ...« Kurz und gut, man brachte auf die Veranda Lampen, deckte den Tisch und schleppte Samowars herbei, Teekannen, Zucker, Eingemachtes, feines Gebäck, frisches Buttergebäck und allerlei Speisen, die teuersten Gerichte, fette Suppen, Braten, Gänsernes, die besten Weine und die feinsten Liköre. Ich stehe abseits und sehe zu, wie die Reichen von Jehupez, unberufen, essen und trinken. ›Man soll seine letzte Habe versetzen‹, denke ich mir, ›und ein reicher Mann werden! Mir scheint, dass das, was hier vom Tische fällt, meinen Kindern für eine ganze Woche bis zum Sabbat genügen würde. Lieber Gott! Es heißt ja, dass du ein guter und großer Gott bist, – warum bekommt dann der eine alles, und der andere nichts? Warum gibst du dem einen Buttersemmeln und dem anderen nichts als Plagen?‹ Und dann sage ich mir wieder: ›Bist doch ein großer Narr, Tewje! Willst du ihn vielleicht belehren, wie er die Welt regieren soll? Wenn er es einmal so haben will, so muß es wohl so sein. Denn wenn es anders sein müßte, so wäre es eben anders. Und warum ist es nicht anders? Nun, weil wir Knechte waren bei Pharao in Ägypten; dazu sind wir ja auch Juden; der Jude muß Glauben und Gottvertrauen haben; erstens muß er glauben, dass es einen Gott auf der Welt gibt; und zweitens muß er auf Den hoffen, der da ewig lebt, dass Er ihm, so Gott will, hilft ...‹
»Halt!