Das Samstagsprogramm im Fernsehen war nicht berauschend und es passte somit in paradox-konträrer Weise zum rauschenden Gerät. Sie sah sich eine Sendung nach der anderen an. Vera wollte darauf warten, dass sie der Schlaf überwältigt, um nicht zum Nachdenken zu kommen. Sie fragte sich, wann sie endlich die Trennung überwunden hätte. Doch sie verstand, dass ihr an besonders einsamen Abenden wie diesen die schmerzhaften Gedanken hochkommen mussten. Endlich schaltete sie den Fernseher aus. Daheim hätte sie noch zu einem guten Buch gegriffen, doch bei Lesereisen verzichtete sie darauf. Sie stöberte in einem auf dem Tisch liegenden Wanderführer. Wanderschuhe hatte sie freilich nicht dabei, sie war eher ein Mensch der Wörter und nicht der körperlichen Anstrengung. Doch es gab auch Ausflugsziele in der näheren Umgebung, die ihrem Schuhwerk angemessen waren. Sie nahm sich vor, an einen See zu fahren, von dem sie las, dass man ihn in einer guten Stunde umrunden könne. Außerdem lag angeblich ein gutes Café auf dem Weg!
Die Nacht war unangenehm. Das Fenster konnte sie nicht öffnen, weil sie der immer noch im Innenhof liegend Küchengeruch störte. Andauernd ging irgendeine Dusche oder eine Klospülung, doch sie war schon froh, wenigstens keine Sexgeräusche zu hören. Im Traum begegnete ihr der Zeitungsschreiber, der sie immer so durchdringend angeschaut hatte. Er starrte auf ihre nackten Beine, so als ob die wichtiger als ihr Roman wären. Als sie zwischendurch aufwachte, wusste sie nicht Realität vom Traum zu unterscheiden. Hatte er wirklich immer auf ihre Beine gestarrt? Die Schwester hatte sie gewarnt, den kurzen Rock anzuziehen, weil sie damit bei den älteren Leserinnen wohl nicht punkten könne. Den Rock solle sie sich für die Männer aufheben, wenn sie einen Stadtbummel wagen würde. Fritzi hatte nicht auf dem Schirm, dass er auch für einen Journalisten oder Kritiker prickelnd sein könnte. Manchmal wurden Vera die Ratschläge der Schwester aber zu viel. Immer dasselbe Gerede. Es ist für eine Nahestehende schwer, der Verlassenen beim Trauern zuzusehen. Sie war aber noch nicht bereit, sich auf einen anderen Mann einzulassen. Wie soll man ein paar Monate nach einer Trennung schon bereit sein für die nächste Katastrophe? Bei der Wahl des kurzen Rocks hatte Vera nicht mehr an die Warnung der Schwester gedacht. Der Rock gefiel ihr einfach – und dass er kurz war, störte sie nicht. Das Verkaufsergebnis hatte er jedenfalls nicht negativ beeinflusst. Und dass der seltsame Schreiberling keinen Eintrag in das Buch wollte, hing wohl nicht mit der Rocklänge zusammen. Sicher war er sich zu fein, zu stolz für eine banale Signatur.
In der Nacht war nicht viel Schlaf zusammengekommen. Die Dusche tat gut und auf ein besonderes Äußeres wollte Vera an einem freien Tag keinen Wert legen. Ungeschminkt und ohne Brille würde sie sicher auch unerkannt bleiben, selbst wenn sie neben einem ihrer Plakate stünde, die sie an manchen Stellen der Stadt gesehen hatte. Sie legte privat keinen Wert darauf, als bekannte Schriftstellerin angesprochen zu werden, egal, was ihr Verlag dazu meinte. Im Frühstücksraum waren alle Tische schon mit mindestens einer Person besetzt. Alleine frühstücken war also nicht drin. Sie erkannte ihre Leidensgenossen der Katzentische wieder und setzte sich zu einem dazu. Er war der Vertreter einer Arzneimittelfirma, wie er ihr sehr schnell mitteilte, ungefragt und ohne nach ihrem Beruf zu fragen. Sie hätte gelogen, denn dass sie manchmal in der Redaktion eines Fernsehsenders arbeitete und auch dabei gelegentlich im Fernsehen auftrat, wollte sie ebenso wenig preisgeben wie ihre Erfolge als Schriftstellerin. Doch ihr Gegenüber interessierte sich anscheinend ohnehin nicht für ihren Beruf. Ihm lag eher daran, seine Ortskenntnisse auszuspielen und sich ihr als Fremden- oder Wanderführer anzubieten. Die Schwester würde frohlocken! Vera zögerte, vertröstete ihn, sprach davon, dass sie nicht so gut zu Fuß sei, doch er schob ihr eine Visitenkarte mit seinen Telefonnummern hin. Er sei immer erreichbar und würde sich freuen. So alleine mache alles doch keinen Spaß. Da nickte sie und sagte: „Mal sehen.“ Das Kärtchen warf sie ungelesen in ihre Tasche.
Natürlich ging sie alleine weg. Nach dem Frühstück zog es sie an den Fluss zu einem Spaziergang. Die ersten Meter entfernte sie sich schnell vom Hotel, dann ließ sie sich Zeit und genoss die schon recht angenehme Wärme der Sonne und das frühsommerliche Gezwitscher der Vögel. Erstaunlicherweise war kaum einer unterwegs, auch keine „Eine“ … Selten, dass sie einmal über ihr inneres Gender-Engagement schmunzeln musste ... Als sie die Glocken der Stadtkirchen hörte, vermutete sie, dass sie in einem besonders frommen Landstrich gelandet war, wo sich viele Bürger an einem Sonntagmorgen in den Gottesdienst begeben – beziehungsweise sich nicht auf die Straße trauen, um nicht als unfromm angesehen zu werden. Der junge Angler, den sie am Flussufer aufschreckte und der durchaus zu einem Schwätzchen bereit war, lachte und meinte, die Leute seien müde von ihrer Samstagsarbeit und schliefen sonntags immer sehr lange. Sie wusste nicht, ob sie das ernst nehmen sollte oder ob er sich einen Scherz mit der Fremden erlaubte. Sie lächelte freundlich und wünschte ihm „Petri Heil“. Nachdem sie schon ein paar Meter entfernt war, entdeckte sie ein idyllisches Fotomotiv und ging noch einmal zum Angler zurück. Sie fragte, ob er etwas dagegen hätte, wenn er auf ihrem Foto abgebildet würde. Er grinste nur. Sie erkannte darin eine Zustimmung und lichtete den Fluss mit dem jungen Mann im Vordergrund ab. Ihrer Schwester würde sie weis machen, dass sie ein angeregtes Gespräch mit ihm geführt hätte – was die ihr sowieso nicht glauben würde. Sie schickte ihr das Foto daher mit einer glaubwürdigeren Bemerkung. Da sich der Himmel etwas zuzog und sie nicht die Wetterkapriolen in dieser Gegend kannte, drehte sie um und ging Richtung Hotel zurück. Da dachte sie, einen Mann zu bemerken, der ihr nachgegangen war und sich ebenfalls schnell umwendete und Richtung Stadtmitte zurückeilte.
Das Mittagessen - an einem Tisch allein für sich - schmeckte ihr ausgezeichnet. Die Katzentische waren voll belegt und an den größeren Tischen saßen meist Familien oder gleich ganze Freundesgruppen, die offenbar die Lokalität schätzten. Geld haben die hier, wenn die jeden Sonntag zum Essen gehen können, dachte sie sich. Von einem Tisch wurde herübergeschaut und sie vermutete, dass man sie erkannt hatte. An einem zu kurzen Rock konnte es jedenfalls nicht liegen. Die Leute nickten und sie nickte zurück. Da die Szene nicht unbeobachtet blieb, begannen zwei andere Tische zu tuscheln. Nun wurde es ihr unangenehm. Sie hätte gern ihre Ruhe gehabt, wäre gern anonym geblieben. Sie konnte sich nur schwer in Autorenkollegen hineinversetzen, die erkannt werden wollen und Autogrammwünsche keinesfalls als störend erlebten. Sie machte ein angestrengtes Gesicht und konzentrierte sich voll auf ihr Essen. Glücklicherweise wurde ihre Distanzierung verstanden. Nach dem Pharmavertreter hatte sie schon beim Hereingehen geschaut, aber ihn nicht entdeckt. Sie horchte in sich hinein und dachte wieder an ihre Schwester. „Beim Essen lernt man Leute kennen!“, meinte die. Warum wollte sie das nicht? Sie konnte nicht leugnen, dass ihr das Vorlesen ihrer Bücher gefiel – einmal abgesehen von den Szenen, in denen sie sich gefühlsmäßig zu sehr mitreißen ließ. Ihr gefiel also dieser Kontakt zu den Menschen. Aber was heißt Kontakt? Es war ja nur eine einseitige Präsentation, eine mit einer gewissen Rückmeldung zwar, doch eigentlich hatte sie alles im Griff, sie konnte bestimmen, wie weit sie etwas von sich preisgeben und wie weit sie etwas von den anderen wahrnehmen wollte. Höchstens beim Signieren musste sie mit der einen oder anderen Bemerkung oder kurzen Frage rechnen. Oder war es genau andersherum? Sie scheute weniger die Gesprächsbeiträge und Nachfragen der anderen, wenn sie mit denen zum Beispiel an einem Tisch saß, sondern ihre eigenen. Sie interessiere sich zu wenig für andere, warf man ihr gelegentlich vor, und dass das für eine Schriftstellerin doch sehr ungewöhnlich sei, denn gerade sie müsste doch Interesse an allem und jedem haben. Ach, ich kenne mich nicht einmal mit mir selbst aus, dachte sie mit einer gewissen Resignation, und es kam ihr so vor, als könnten alle im Raum ihre Gedanken hören.
Nach dem Mittagessen legte sie sich hin und schlief sofort ein. An ihrer Tür klopfte es, zuerst sanft und leise, dann ungeduldig und kalt, mit den Fingerknöcheln einer kräftigen Hand. Sie öffnete die Tür einen Spalt, doch der Mann draußen drängte sich sofort herein. Er stieß ihr die Tür gegen ihre Schulter und sie taumelte zurück. Der Mann schlug die Tür von innen wieder zu und schob die Erschrockene weiter ins Zimmer hinein, dann gab er ihr einen Stoß, so dass sie rückwärts auf das unbenutzte Bett fiel. Entsetzt hob sie ihren Kopf und schaute den