Sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her zieht den kurzen Rock nach unten schnauft tief ein macht Kunstpausen schnauft aus Ihr Schnaufen dringt in mein Ohr und verfängt sich dort Das Mädchen mit der Trompete und den zu großen Schuhen weint fühlt sich unverstanden kommt nicht zurecht damit Ich setze mich breitbeinig hin bin ja ein Mann Räuspern Lehne mich zurück Husten Warum verdammt müssen Leute räuspern und husten wenn es still wird Gefühlsverweigerung sich orten festmachen in der Realität verharren sich nicht verlieren in der Fantasiewelt Das Mädchen weint immer noch fühlt sich allein alleingelassen nicht geliebt Da helfen Schuhe und Trompete nicht auch nicht die nackten Beine auf denen der Rock wieder nach oben rutscht Sie weint Tränen kullern herunter tropfen auf das Buch Eine Autorin die weint Die Zuhörer mit dem Sternchen betroffen Ich schlucke schaue mich ganz vorsichtig um Links und rechts sitzt niemand alle hinter mir Schau nach vorne nicht auf die Beine auch nicht ins weinende Gesicht Ich schlucke wieder Sie schluckt liest weiter Ist alles Berechnung Emotionalisierung wie das ganze Leben heutzutage überall wo man Aufmerksamkeit will und frau, blödes „frau“.
Überall Spektakel, in jeder Fernsehunterhaltung Lichtershows und fetzige Musikeinspieler bis zum Erbrechen, jedes Interview mit „tiefen Spaltungen“, mit dem Gegeneinanderausspielen, Festnageln auf irgendwann einmal Gesagtes, mit dem plumpen Herausgreifen aus Zusammenhängen, mit „Fake News“ – wie ich das alles hasse! Die Leute in der Redaktion können es nicht verstehen, dass ich Dinge, die in der Vergangenheit passiert sind, grammatikalisch in einer Vergangenheitsform ausgedrückt haben möchte. Nein, es muss unbedingt in der Gegenwartsform gesprochen werde, das sei näher dran, sagen die Leute von der Zeitung. Außerdem machten das alle so – was leider stimmt. „Bei dem Unfall sterben vier Menschen“, so will es der Leser berichtet haben, nicht, dass vier Menschen „starben“, dass es schon vergangen ist. „Es kann nicht sein!“ statt „Es darf nicht sein!“, so muss man es sagen, klare Kante. Deshalb gibt es auch den Konjunktiv nicht mehr – oder nur in halbsätziger Form, im ersten Halbsatz. Möglichkeitsformen sind out, Dummheit ist in. Das große Fressen geht in der deutschen Sprache weiter: Der Indikativ frisst den Konjunktiv, das Präsens das Imperfekt – Pardon, ich will korrekt sein: das historische Präsens das Präteritum – und natürlich: der Dativ den Genitiv. Aber es macht ja nichts, Hauptsache, man versteht´s. Es wird Mode, schlampig zu sein. Und die normative Kraft des Faktischen schafft neue Regeln. Soll ich mich noch über Anglizismen, Jugendsprache und das Hofieren des Dialekts aufregen ...?
Sie steht auf entschuldigend sich streckend über dem Rock hängt die Bluse heraus Neue Mode gepflegte Schlampigkeit nur vorne steckt sie drin Einfach lächerlich Legersein als vorgespielter Protest gegen Anständigsein Mode als Protest von wegen Genau das Gegenteil Mode ist heutzutage Anpassung individualitätslos Kann man Verzeihung frau also kann frau wirklich über dem Rock die Bluse raushängen lassen Weiße Bluse vorgespielte Anständigkeit Gegensatz zu den langen nackten Beinen Schneeweißchen und Rosenrot Rosenrot war einen Tick frecher als die Schwester ach was von frech kann man gar nicht reden Ich schwitze warum Die hinter mir schwitzen und stinken Sie setzt sich schnäuzend hat sich gefangen Ich schaue mich um in betretene Gesichter mitgenommen Schreib das auf Das Trompetenkind fühlt sich gequält wirft das Ding unters Bett Aha Das Kind auf der Trompete Prinzessin auf der Erbse Das Bett schiebt sich über die Trompete die Sonne verzieht sich hinter die Wolke Quatsch mit Soße Figur-Grund-Problem Die viel zu großen Schuhe verschwinden unter dem Bett Sie streift die Schuhe ab klack klack schiebt sie mit einem Fuß weg wackelt mit einem nervösen Bein räuspert sich macht Kunstpausen liest mit festerer Stimme weiter Klare Stimme ein Sopran hochdeutsch makellos mit deutlichen Ts am Schluss obwohl sie aus der Oberpfalz stammt Besser als aus Franken Unterm Bett aber kein Verstecken Nein ein Nichtmehrsehenwollen Aus den Augen aus dem Sinn Große Blaue hinter der roten Brille an die sie öfters fasst sie zurechtrückt Ein wenig Lidschatten dezent Brauen sicher gezupft Stirn gerunzelt intellektuell gerunzelt Anstrengung zeigend Konzentration Nachdenklichkeit Haare drüber dann wegstreichend Lockig sicher blond gefärbt die grauen stören schon oder noch Aha jetzt kommt der Sprung beim Vorlesen Kapitel auslassend Sie trinkt Wasser Knackt im Kehlkopf gluckert im Magen Das Mädchen ist jetzt in der Pubertät trinkt schon mal heimlich einen Feigling Ist doch kein braves Schneeweißchen.
Ich hole mir die mitgebrachte Flasche Wasser unter dem Stuhl hervor. Sie zischt beim Öffnen, was die Vorleserin mit einem erstaunten Blick quittiert. Ich mache eine entschuldigende Geste und sie lächelt. Zur Belohnung ihrer Nachsicht greife ich nun zu meinem Fotoapparat, der auf dem freien Platz neben mir lag. Es wird ihr gefallen, wenn ich sie fotografiere. Nun ist ihr vollends klar, dass sie in die Zeitung kommt, dass ich sie in die Zeitung bringe, dass ich es in der Hand habe, ihre Lesung als Erfolg oder Misserfolg zu interpretieren. Ich fühle mich gut, stehe auf und gehe ohne Zögern einigermaßen rücksichtslos an die Seite des Raums und fotografiere drauflos: die Zuhörer, alle mit „innen“, und die Autorin, die bewusst nicht lächelt, sondern konzentriert ins Buch schaut. Sie merkt nicht, dass ich sie ganz nah herhole, ein Foto für mich privat mache. Gut, dass sie nicht lächelt. Ich hasse aufgesetztes Lächeln. Früher wurden die Menschen beim Fotografieren aufgefordert, keinesfalls zu lächeln. Es gab auch nichts zu lächeln vor, in und nach den Kriegen. Jetzt lächeln sie sogar auf den Traueranzeigen, auf jugendlichen Bildern, versteht sich. Der Tote und die Tote oder die Tot*in? Ist Tot*innen korrekt? Und lächelnde junge Leute müssen sie sein, damit wir sie und die Angehörigen bedauern für den viel zu frühen Tod. Ich setze mich wieder.
Sie holt die Trompete hervor das einst gehasste Instrument Spielt weil es keiner von ihr verlangt Offenbar hat sie es im Kapitel dazwischen gelernt Aus einem Kind ist eine Jugendliche geworden Wie lange will sie noch lesen uns die ganze Geschichte verraten Die Schuhe scheinen dem Mädchen jetzt zu passen Die Beine werden eifrig im Überschlagen gewechselt Dazwischen blitzt das Höschen Es tut sich was in der Jugend Die Autorin zeigt Begeisterung Ich begeistert Ich schaue mehr ins Gesicht und lächele mal mit Es wird humorig Die Zuhörerinnen lachen Aufstoßen Kohlensäure Sie wedelt mehr im Gesicht herum Schlanke Hände Holt Taschentuch hervor für die feuchten Hände Der Bibliothekssaal hat sich aufgewärmt Schwitze ich schon stinke ich Zum Glück sitzt keiner neben mir keiner und keine Ein Fenster wird geöffnet und ihr Parfüm umstreicht meine Nase Die hinauswehende Luft hat mir einen Duft geschenkt Die Kleine ist groß geworden braucht nicht mehr Mutters Parfüm hat sich im Geschäft eines gestohlen So jugendliche Mutproben Dann wird sie krank schwer krank.
Sie müsse eine kurze Pause einlegen, meint sie, und das sei sicher im Interesse aller, Konzentration und so. Sie steht auf und öffnet ein weiteres Fenster. Sie fordert auch die Leute auf, kurz mal Luft zu schnappen, aber in fünf Minuten werde sie weiterlesen. Es ist ein Samstagnachmittag. Draußen fahren stinkende und lärmende Autos vorbei und die klackernden und plappernden Stadtbewohner kommen zu Fuß mit Plastiktüten vom Einkauf zurück. Ich denke an die Amerikaner, die in großen braunen Papiertüten ihren Einkauf herumtragen. Da scheint eine „Mode“ einmal umweltbewusst zu sein.
Der Lesesaal liegt im ersten Stock und die anderen werden wohl nicht den Stadtgeruch wahrnehmen, nur ich mit meiner feinen Nase. Manche versuchen, mit der Schriftstellerin ins Gespräch zu kommen, doch sie versteht es, sich zu distanzieren. Sie brauche eine kurze Pause, sagt sie. Der Blick geht zwischen Häuserfronten hindurch zu den fernen Hügeln oder bleibt hängen an größeren Gebäuden, die mit abgeplatzten Putzen auf ihre Renovierung warten. Sicher leben hier keine Mädchen mit Trompeten. Doch vielleicht haben auch die Menschen dort irgendwelche Besonderheiten, über die man