Oblomow. Iwan Alexandrowitsch Gontscharow. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iwan Alexandrowitsch Gontscharow
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754175385
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schwieg und blickte Sachar noch immer an.

      »Soll ich dir sagen, was das ist?«

      Sachar bewegte sich wie ein Bär in seiner Höhle und seufzte so auf, daß man es im ganzen Zimmer hörte.

      »Der ›andere‹, den du meinst, ist ein elender, armer, grober, ungebildeter Mensch, er lebt schmutzig und armselig auf dem Dachboden; oder er schläft auf irgendeinem Lumpen auf dem Hof. Was kann einem solchen Menschen geschehen? Gar nichts. Er frißt Kartoffeln und Hering. Die Not schleudert ihn aus einer Ecke in die andere, und er läuft den ganzen Tag herum. Er wird also auch in eine neue Wohnung ziehen. Zum Beispiel Ljagajew, er nimmt sein Lineal unter den Arm, bindet seine zwei Hemden in ein Taschentuch ein und geht ... ›Wohin gehst du?‹ ›Ich ziehe um‹, antwortet er. So macht es der ›andere‹! Und ich bin deiner Meinung nach auch ein ›anderer‹, he?«

      Sachar blickte den Herrn an, trat von einem Fuß auf den andern und schwieg.

      »Was ist der ›andere‹?« sprach Oblomow weiter. »Der ›andere‹ ist ein Mensch, der sich selbst die Stiefel putzt, sich selbst ankleidet, wenn er auch wie ein gnädiger Herr aussieht; das ist aber nicht wahr, er weiß nicht einmal, was Dienstboten sind; er hat niemand, den er hinschicken kann, er holt sich selbst, was er braucht; er schürt selbst das Holz im Ofen, staubt manchmal selbst ab ...«

      »Es gibt viele solche Deutsche«, sagte Sachar düster.

      »Na also! Und ich? Wie, glaubst du, bin ich der ›andere‹?«

      »Sie sind ein ganz anderer!« sagte Sachar weinerlich, da er immer noch nicht begriff, was der Herr sagen wollte. »Gott weiß, was Sie haben ...«

      »Ich bin ein ganz anderer, ja? Warte, sieh einmal zu, was du sagst! Denke einmal darüber nach, wie der ›andere‹ lebt! Der ›andere‹ arbeitet ohne auszuruhen, läuft herum, müht sich ab«, sprach Oblomow weiter, »wenn er nicht arbeitet, ißt er auch nicht. Der ›andere‹ macht Bücklinge, der ›andere‹ bittet und erniedrigt sich ... Und ich? Nun, sage einmal: Was glaubst du, bin ich der ›andere‹, was?«

      »Aber Väterchen, quälen Sie mich nicht so mit traurigen Worten!« flehte Sachar. »Ach du mein Gott!«

      »Ich bin der ›andere‹! Renne ich denn herum, arbeite ich denn? Esse ich denn wenig? Sehe ich denn mager und ärmlich aus? Fehlt es mir denn an etwas? Ich glaube, ich habe jemand, der mich bedient und für mich arbeitet! Ich habe mir, Gott sei Dank, seitdem ich lebe, noch kein einziges Mal selbst einen Strumpf angezogen! Warum soll ich mir denn die Mühe machen? Aus welchem Grunde? Und wem muß ich das sagen? Hast du mich denn nicht seit meiner Kindheit bedient? Du weißt das alles, du hast gesehen, daß ich verwöhnt worden bin, daß ich niemals Hunger und Kälte gelitten habe, daß ich keine Not gekannt, mir mein Brot nicht selbst verdient und mich überhaupt nicht mit schwerer Arbeit befaßt habe. Wie konntest du es also wagen, mich mit anderen zu vergleichen? Besitze ich denn eine solche Gesundheit, wie diese ›andern‹? Kann ich denn das alles tun und ertragen?«

      Sachar hatte endgültig jede Fähigkeit verloren, Oblomows Rede zu verstehen; aber seine Lippen bliesen sich vor innerer Erregung auf; die pathetische Szene donnerte wie ein Gewitter über seinem Haupt. Er schwieg.

      »Sachar!« wiederholte Ilja Iljitsch.

      »Was wünschen Sie?« zischte Sachar kaum hörbar.

      »Gib noch Kwaß her.«

      Sachar brachte Kwaß, und als Ilja Iljitsch, nachdem er getrunken hatte, ihm das Glas zurückgab, wollte er schnell in sein Zimmer gehen.

      »Nein, nein, warte!« sagte Oblomow, »ich frage dich: Wie konntest du deinen Herrn so bitter kränken, den du als Kind auf dem Arme getragen hast, dem du dein ganzes Leben dienst und der dein Wohltäter ist?«

      Sachar hielt es nicht länger aus. Das Wort Wohltäter gab ihm den Rest! Er begann immer häufiger zu blinzeln. Je weniger er begriff, was Ilja Iljitsch ihm in seiner pathetischen Rede mitteilte, desto trauriger wurde er.

      »Verzeihen Sie, Ilja Iljitsch«, begann er reuevoll zu krächzen, »das habe ich aus Dummheit, wirklich nur aus Dummheit ...«

      Und da Sachar nicht begriff, was er getan hatte, wußte er nicht, welches Zeitwort er hinzufügen sollte.

      »Und ich«, fuhr Oblomow im Ton eines gekränkten und nicht nach seinem Verdienst gewürdigten Men schen fort, »sorge mich noch Tag und Nacht und mühe mich ab, manchmal flammt mir der Kopf und das Herz stockt; ich schlafe in der Nacht nicht, wälze mich herum und denke immer darüber nach, wie ich es am besten einrichten soll ... und über wen grüble ich? Für wen? Nur für euch, für die Bauern; folglich auch für dich. Du glaubst vielleicht, wenn du siehst, daß ich manchmal ganz unter die Decke krieche, daß ich wie ein Klotz daliege und schlafe; nein, ich schlafe nicht, ich denke immer an das eine, wie es einzurichten ist, daß die Bauern an nichts Not leiden, daß sie ihre Nachbarn nicht beneiden, daß sie beim Strafgericht mich vor Gott nicht anklagen, sondern daß sie für mich beten und mir nur Gutes nachsagen. Die Undankbaren!« schloß Oblomow mit bitterem Vorwurf.

      Die letzten traurigen Worte rührten Sachar endgültig. Er begann allmählich zu schluchzen.

      »Väterchen, Ilja Iljitsch!« flehte er. »Hören Sie auf! Was sagen Sie da, Gott sei mit Ihnen! Ach du heilige Gottesmutter! Was für ein Unglück hat uns denn so unerwartet betroffen ...«

      »Und du«, fuhr Oblomow, ohne auf ihn zu hören, fort, »du solltest dich schämen, so etwas auszusprechen! Was für eine Schlange ich an meiner Brust gewärmt habe!«

      »Eine Schlange!« rief Sachar aus, schlug die Hände zusammen und zuckte so geräuschvoll mit der Schulter, als wären zwanzig Käfer ins Zimmer hereingeflogen und summten drin. »Wann habe ich denn von einer Schlange gesprochen?« fragte er schluchzend, »ich sehe nicht einmal im Traum so etwas Häßliches!«

      Sie hatten beide aufgehört, einander und zum Schluß auch sich selbst zu verstehen.

      »Wie hat deine Zunge nur so etwas aussprechen können?« sprach Ilja Iljitsch weiter, »und ich habe noch für ihn auf meinem Plan ein besonderes Haus, einen Gemüsegarten und Pachtkorn bestimmt und ein Gehalt festgesetzt! Du solltest mein Verwalter, mein Majordomus und meine Vertrauensperson sein! Die Bauern sollten sich bis zur Erde vor dir verneigen; alle sollten dich immer nur Sachar Trofimitsch nennen! Und er ist immer noch unzufrieden und hat mich unter die ›andern‹ eingereiht! Das ist der Lohn! Wie du deinen Herrn ehrst!«

      Sachar schluchzte noch immer, und auch Ilja Iljitsch selbst war aufgeregt. Indem er Sachar ins Gewissen redete, erfüllte er sich tief mit dem Bewußtsein der Wohltaten, die er den Bauern erwiesen hatte, und sprach die letzten Vorwürfe mit zitternder Stimme und mit Tränen in den Augen zu Ende.

      »Nun, und jetzt geh mit Gott!« sagte er mit versöhnender Stimme zu Sachar. »Wart, gib mir noch Kwaß! Meine Kehle ist mir ganz ausgetrocknet, du könntest selbst darauf kommen, du hörst doch, daß dein Herr heiser ist? So weit hast du mich gebracht! Ich hoffe, du hast dein Vergehen begriffen«, sagte Ilja Iljitsch, als Sachar den Kwaß gebracht hatte, »und wirst in Zukunft deinen Herrn nicht mit andern vergleichen. Um deine Schuld gutzumachen, richte es irgendwie mit dem Hausherrn ein, damit ich nicht umzuziehen brauche. So sorgst du für die Ruhe deines Herrn. Du hast mich ganz verstimmt und mich eines jeden neuen, nützlichen Gedankens beraubt. Und wem hast du das geraubt? Dir selbst; ich habe mich ganz euch gewidmet, ich habe mich euretwegen pensionieren lassen und sitze hier eingeschlossen. Nun, Gott verzeih es dir! Jetzt schlägt es drei! Es bleiben nur zwei Stunden bis zum Essen; was kann man in zwei Stunden fertigbringen – gar nichts. Und ich habe eine Menge zu tun. Ich werde also den Brief bis zur nächsten Post verschieben und den Plan morgen entwerfen. Nun, und jetzt lege ich mich ein wenig nieder. Ich bin ganz ermattet; laß die Stores herab und schließe fest die Türen, damit man mich nicht stört; ich werde vielleicht eine Stunde lang schlafen; und wecke mich um halb fünf ...«

      Sachar begann seinen Herrn im Arbeitszimmer von der ganzen Welt abzuschließen; zuerst deckte er ihn selbst zu und steckte die Decke unter ihn, dann ließ er die Stores herab, schloß alle Türen fest ab und ging in sein Zimmer.