»Doch nicht Lord Harry?« rief Iris aus.
Ihr Kammermädchen bemerkte die heftige Erregung in ihrer Stimme und in ihrem ganzen Wesen, sagte aber nichts. Die Haushälterin Arthurs dagegen machte gar nicht den Versuch, ihre Gedanken darüber zu verbergen.
»Hoffentlich kennen Sie diesen Vagabunden nicht,« sagte sie sehr ernst. »Vielleicht denken Sie an seinen älteren Bruder, den ältesten Sohn des alten Earl, der ein durchaus ehrenhafter Mann ist, wie man mir gesagt hat.«
Miß Henley ließ diese Fragen vollständig unbeachtet. Einzig und allein getrieben von dem Interesse für ihren Geliebten, welches sich jetzt mehr denn je ihrer Beherrschung entzogen hatte, fragte sie:
»Ist Lord Harry seines Freundes wegen in Gefahr?«
»Er hat nichts von dem Gesindel zu fürchten, das unsere Gegend unsicher macht,« entgegnete Mrs. Lewson. »Berichte erzählen, er gehöre selbst dazu. Die Polizei, die ist's, vor der seine junge Lordschaft auf der Hut sein muß, wenn nämlich alles wahr ist, was über ihn gesprochen wird. Jedenfalls kam er damals, als er meinem Herrn seinen Besuch abstattete, heimlich wie ein Dieb in der Nacht, und ich hörte Mr. Arthur, als sie beide zusammen hier im Empfangszimmer waren, ihn laut und heftig tadeln wegen etwas, was er gethan hatte. Und jetzt nichts mehr über Lord Harry, Miß! Ich habe mit Ihnen etwas Wichtiges zu besprechen. Wollen Sie, wenn ich Ihnen das Versprechen gebe, es Ihnen so behaglich wie möglich zu machen, wollen Sie dann bis morgen hier bleiben, damit Sie mit Mr. Arthur reden können? Wenn es einen Menschen auf der Welt gibt, der im stande ist, ihn zu einiger Vorsicht zu bewegen, so sind Sie es nach meiner Meinung ganz allein.«
Iris erklärte sich sofort bereit, auf Arthur Mountjoys Rückkunft zu warten. Als Mrs. Lewson, um ihren häuslichen Obliegenheiten nachzugehen, sie mit ihrer Kammerzofe allein gelassen hatte, bemerkte sie in dem Gesichte des Mädchens etwas von Mißstimmung.
»Es scheint mir, Rhoda, als ob Du jetzt schon anfingest, zu wünschen,« sagte Iris, »ich hätte Dich nicht an diesen fremden Ort unter diese rohen und wilden Gesellen gebracht?«
Rhoda war ein stilles, freundliches Mädchen, augenscheinlich von sehr zarter Gesundheit. Sie lächelte matt und antwortete:
»Ich dachte gerade an einen andern Edelmann, Miß, als den, von dem Mrs. Lewson soeben sprach; er scheint ein sehr freies, leichtsinniges Leben geführt zu haben. Es stand in einer Zeitung gedruckt, die ich gelesen habe, bevor wir London verließen.«
»War sein Name erwähnt?« fragte Iris.
»Nein, Miß; ich glaube, sie fürchteten, sich dadurch Unannehmlichkeiten zu bereiten. Er hatte so viele sonderbare Wege eingeschlagen, um sich seinen Lebensunterhalt zu erwerben, daß es sich fast wie ein Roman las.«
»Erinnerst Du Dich noch der Erlebnisse des Helden?« fragte Iris.
»Ich will es versuchen, Miß, wenn Sie es zu hören wünschen.«
Die Erzählung in der Zeitung schien einen lebhaften Eindruck auf Rhodas Geist gemacht zu haben. Wenn man die selbstverständlichen Stockungen und Irrtümer und die Schwierigkeiten, sich richtig auszudrücken, in Abrechnung brachte, so wiederholte sie mit überraschend klarer Erinnerung den Inhalt dessen, was sie gelesen hatte.
Neuntes Kapitel.
Die Hauptpersonen in der Geschichte waren ein alter irischer Edelmann, der einfach der Earl genannt wurde, und der jüngere seiner beiden Söhne, von seinem Bruder durch den mysteriösen Beinamen »der wilde Lord« unterschieden.
Von dem Earl wurde erzählt, daß er kein guter Vater gewesen sei; er habe auf die unverantwortlichste Weise die Erziehung seiner beiden Söhne vernachlässigt. Der jüngere, der in der Schule viel zu leiden hatte und in den Ferien sich selbst überlassen blieb, begann seine abenteuerliche Laufbahn damit, daß er davonlief. Unter angenommenem Namen fand er Anstellung als Schiffsjunge. Gleich von Anfang an hielt er sich brav, lernte seine Sache und war bei Kapitän und Mannschaft beliebt. Aber der erste Steuermann war ein roher Mensch, und das lebhafte Temperament des jungen Durchgängers empfand doppelt die schimpfliche Strafe von Schlägen. Er kam daher auf den Gedanken, sein Glück auf dem Lande zu versuchen, und schloß sich einer herumziehenden Schauspielergesellschaft an. Da er ein hübscher Junge war, eine gute Figur und eine klare, schöne Stimme hatte, so ging es ihm wenigstens eine Zeit lang ganz gut. Dann kamen schlimme Zeiten, die Gagen wurden verkürzt; der Abenteurer wurde der Gesellschaft der Schauspieler und Schauspielerinnen überdrüssig. Der nächste Abschnitt seines wechselvollen Lebens zeigt ihn in Nordbritannien als Mitarbeiter an einer schottischen Zeitung. Eine unglückliche Liebesgeschichte war der Grund, daß er auch dieser neuen Anstellung bald verlustig ging. Kurz darauf tauchte er wieder auf als Gehilfe des Stewart auf einem der großen Passagierdampfer, die zwischen Liverpool und New-York fahren. In dieser letzteren Stadt angekommen, wurde er schnell durch die nicht gerade sehr anständige und ehrenvolle Beschäftigung als »Medium«, welches sich der übernatürlichen Kraft rühmte, mit der Welt der Geister in Verbindung zu stehen, bekannt. Als der Betrug schließlich endgiltig aufgedeckt wurde, zehrte der junge Edelmann von dem Gelde, das er in dem unwürdigen Dienste des gemeinen, prosaischen Aberglaubens der modernen Tage verdient. Ein langer Zeitraum verfloß, wo man nichts von ihm hörte, bis er als verirrter und fast verhungerter Mann von einem Reisenden in einer der westlichen Prärien aufgefunden wurde. Der unglückliche irische Lord hatte sich einem Indianerstamme angeschlossen, sich aber einige Verstöße gegen dessen Gesetze zu Schulden kommen lassen und war deshalb in die Einöde hinausgejagt worden, um dem Hungertode preisgegeben zu sein. Nach seiner Auffindung schrieb er an seinen älteren Bruder, der die Titel und Besitzungen des inzwischen verstorbenen alten Carls geerbt hatte. Er sagte in seinem Briefe, daß er sich über das Leben, welches er bis jetzt geführt habe, schäme und daß er das ernstliche Verlangen trage, sich zu bessern. Deshalb wolle er irgend eine ehrliche Beschäftigung ergreifen, die sich ihm darbiete. Der Reisende, der ihm das Leben gerettet hatte, und dessen Aussage vollständig zu trauen war, erklärte, daß der Brief eine aufrichtig bereuende Gemütsverfassung offenbart habe. Es lagen gute Eigenschaften in dem Vagabunden verborgen, welche nur ein klein wenig mitleidsvoller Ermutigung bedurften, um sich zu bethätigen. Die Antwort, die er aus England empfing, kam von den Anwälten, deren sich der neue Lord zur Vermittlung seiner Angelegenheiten bediente. Sie hatten mit ihren Agenten in New-York das Abkommen getroffen, dem jüngeren Bruder ein Legat von tausend Pfund auszuzahlen, welche die ganze Summe ausmachten, die ihm nach seines Vaters letztem Willen zu übergeben seien. Wenn er wieder schreiben würde, würden seine Briefe unbeantwortet bleiben, denn sein Bruder wolle nichts mit ihm zu thun haben. In so unmenschlicher Weise behandelt, wurde der wilde Lord von der Zeit an erst recht dieses seines Namens würdig. Er begann jetzt ein neues Leben als Buchmacher bei allen Wettrennen. Das Glück begünstigte ihn gleich von Anfang an, und er vermehrte sein Erbteil um ein Beträchtliches. Mit der gewöhnlichen Verblendung derjenigen Leute, welche Geld gewinnen, indem sie sich dem Verluste desselben aussetzen, verließ er sich auf sein gutes Glück; ein pekuniärer Verlust folgte dem andern und beraubte ihn buchstäblich des letzten Pfennigs. Darauf tauchte er wieder in England auf und ließ ein offenes Boot für Geld sehen, in dem er mit einem Genossen eine jener tollkühnen Fahrten über den atlantischen Ozean ausgeführt hatte, welche jetzt glücklicherweise aufgehört haben, das Interesse des Publikums zu erregen. Einem Bekannten, der ihm über dieses unsinnige Wagstück Vorwürfe machte, anwortete er, er habe darauf gerechnet, daß er auf der See umkommen würde, und daß er auf diese Weise einen Selbstmord begehen könnte, der würdig sei des elenden Lebens, das er geführt habe. Die letzten Berichte, die nach dieser That über ihn gemacht wurden, waren zu unbestimmt und widersprechend, als daß man daraus irgend etwas Sicheres hätte entnehmen können. Einmal wurde gemeldet, daß er nach den Vereinigten Staaten zurückgekehrt sei. Kurz darauf brachten die Zeitungen die sonderbarsten Geschichten über ihn, denen zufolge er zu ein und derselben Zeit in der schlechtesten Gesellschaft in Paris gelebt haben und in einem ganz verrufenen Viertel der Stadt Dublin, genannt »die Freiheit«, sich verborgen halten sollte. Jedenfalls war hinreichender Grund zu der betrübenden Annahme vorhanden, daß irisch-amerikanische Desperados