Ruhm und Cola. Julia Born. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Born
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754175378
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genommen und uns bis Sonnenaufgang durch die Bars der Stadt getrunken. Aber das, was Alex in den letzten Wochen an Tempo vorlegte, war kaum noch einzuholen. Bisher hatte ich mich noch nicht getraut, ihn darauf anzusprechen und still gehofft, dass diese Phase genauso schnell wieder vorübergehen würde, wie sie gekommen war.

      Als es langsam dämmerte und die Sonne erste vorsichtige Strahlen durch mein Fenster schickte, gab ich meinen Schlaf endgültig auf. Natürlich bekam Alex nichts davon mit, dass ich mein Putzzeug zusammensuchte, um die Reste der Weinflasche zu beseitigen, bevor sich am nächsten Morgen jemand beim Hauswart über uns beschweren konnte. Er lag weiter völlig unbehelligt und vermeintlich unschuldig da, die für einen Mann unfairerweise dichtbewimperten Augen fest geschlossen.

      Während ich die Glasscherben vorsichtig in einen Müllsack packte, dachte ich an unsere erste Begegnung in jenem Treppenhaus vor vier Jahren. Es kam mir unwirklich vor, wieviel wir seitdem gemeinsam erlebt hatten und welchen Platz der Idiot von gegenüber mittlerweile in meinem Herzen einnahm.

      Vier Jahre zuvor

       Fuck. Frisch geduscht von einem sommerlichen Regenschauer und mit meinem ebenfalls durchweichten Einkauf in der Hand, schloss ich die Tür zum Hausflur auf. Eigentlich kein Wunder, dass dieser Tag von so einem Mist gekrönt wurde. Mit der freien Hand angelte ich meine Post aus dem Briefkasten, wohlwissend, dass sie mir vermutlich den nächsten Dämpfer versetzen würde. Nicht nur Rechnungen, sondern auch die Urlaubskarten meiner Freundinnen lösten in mir derzeit latente Verspannungen aus. Die lagen jetzt nämlich irgendwo schön am Strand, während ich, gefangen in der Probezeit meines neuen Jobs, in diesem versifften Berliner Sommer vor mich hin gammelte. Super. Es war sogar noch deprimierender, wenn man niemand anderem die Schuld geben konnte als sich selbst.

       Während ich die knarzenden Treppen zu meiner, zugegebenermaßen sehr schönen und als absoluten Glückstreffer zu bezeichnenden, Altbauwohnung hochstieg, kramte ich in der Handtasche nach meinem Schlüssel. Passend zu meiner Laune war dieser ebenfalls bis auf den Boden gesackt. Mit den Augen in der Tasche nahm ich die letzte Stufe und traf plötzlich auf ein nicht eingeplantes Hindernis, welches mich binnen einer Millisekunde völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Ich ließ die Tüte mit den Lebensmitteln fallen und klammerte mich in einer letzten lebenserhaltenden Maßnahme ans Treppengeländer, um einen Sturz abzuwenden. Mein Puls schlug heftig und ich spürte das Adrenalin durch meinen Körper jagen. Am Fuß der Treppe lag ein matschiger Haufen aus Joghurt, kullernden Cocktailtomaten und zerbrochenem Glas. Na ja. Besser der Einkauf als ich. Was zur Hölle? Schwer atmend und immer noch schockiert, rappelte ich mich auf, strich mir fahrig den Pony aus den Augen und versuchte die Lage zu überblicken. Der Absatz vor meiner Wohnung war vollgestellt mit Krempel. Taschen, Tüten und gleich drei Gitarrenkoffer versperrten den kompletten Weg. Waren die Beatles kurzfristig bei mir eingezogen?

       Leider nicht, wie ich feststellte, als ich meinen Blick weiterschweifen ließ, denn zwischen all diesen Habseligkeiten entdeckte ich einen großgewachsenen Typen, dessen irrwitzig lange Beine halb auf einem Bundeswehrseesack, halb auf einem weiteren Gitarrencase lagen. Er schlief tief und fest. Nicht mal mein filmreifer Stunt inklusive des spektakulären Abgangs meines Wocheneinkaufs schienen ihn in seiner Dornröschenphase gestört zu haben. »Hoffentlich ist er nicht tot«, schoss es mir durch den Kopf und schon im nächsten Moment wurde mir klar, wie unsinnig dieser Gedanke war. Wieso sollte er tot sein? Zögernd schlich ich ein Stückchen näher heran, obwohl ich mir das Schleichen dank seines Tiefschlafs wohl hätte schenken können. Er trug kaputte Jeans, noch kaputtere Vans und ein graues T-Shirt, unter dem sich sein Brustkorb glücklicherweise gleichmäßig hob und senkte. An einem Arm war er auffällig tätowiert. Die kinnlangen und hinter die Ohren gesteckten Haare forderten sehr eindringlich eine Auffrischung der bereits verwaschenen und gelb-stichigen Blondierung, während in seinem Gesicht etwas wuchs, was definitiv nicht mehr als Dreitagebart durchging. Alles an ihm schrie: Musiker. Das hatte mir hier gerade noch gefehlt. Ein neuer Nachbar, der bis spätmorgens Coverversionen von Ed Sheeran auf der Gitarre hintrümmerte und von einer Karriere als nächste Stimme von Deutschland träumte. Augenrollend überlegte ich, ob ich ihn anstupsen und wecken oder einfach stillschweigend in meine Wohnung verschwinden sollte. Da ich das Einkaufsdebakel aber sowieso früher oder später wegputzen musste und immer noch etwas Restadrenalin durch meinen Körper heizte, entschied ich mich ziemlich schnell dafür, ihn unsanft wachzurütteln. »Hey! Super Einstand hier mit dem Krempel im Treppenhaus, ich hätte mir das Genick brechen können!«, keifte ich und es klang einen Tick zickiger als gewollt, aber immerhin musste man mir zugutehalten, dass ich gerade erst knapp dem Tod entkommen war. Trotz der Lautstärke, die durch den Hall der hohen Wände des Altbaus noch verstärkt wurde, dauerte es einen Moment, bis er die Augen öffnete und mich müde anblinzelte. »Hä?« Er rieb sich über das Gesicht. »Ja, genau: Hä. Vielleicht könntest du dein Zeug mal ein bisschen zur Seite schaffen oder aber IN deine neue Wohnung. Hier leben noch andere Menschen!« Die Worte platzten einfach so aus mir heraus, ohne dass ich die Emotionen darin kontrollieren konnte und ich beherrschte mich gerade noch, nicht doch einem seiner Koffer einen wütenden Tritt zu verpassen. Der Gesichtsausdruck meines Gegenübers wechselte von verschlafen zu erschrocken, zu ungläubig. Als ich schon fest damit rechnete, dass jetzt so etwas saloppes wie: »Chill doch mal«, kommen würde, stand er umständlich auf und kratzte sich etwas verlegen am Hinterkopf. »Tut mir leid … Gerade zurück … Jetlag … Schlüsseldienst.« Murmelte er unzusammenhängend in ein ausgiebiges Gähnen hinein. Dann streckte er sich kurz und reichte mir, ziemlich bestimmt seine Hand, die ich so lange mit voller Absicht ignorierte, bis er sie wieder zurückzog. Konnte es noch unangenehmer werden? Konnte es. »Ich bin Alex.« Stellte er sich vor und mit unverhohlener Genugtuung in der Stimme ergänzte er: »Und nur zur Info: Ich wohne seit sechs Jahren in der Wohnung hier.« Er deutete auf die verschlossene Tür hinter sich. Nun war ich es, die mehr als dumm aus der Wäsche schaute. Seit meinem Einzug vor, immerhin, drei Jahren war ich davon ausgegangen, dass die Wohnung gegenüber leer stand. Ich hatte sogar einer ehemaligen Kollegin empfohlen, mal die Vermieter anzuschreiben und nachzufragen, ob sie einziehen könnte. Während sich mein Gedanken-Karussell drehte, schien Alex sich endgültig gefangen zu haben. Leicht abschätzig musterte er erst mich, dann meine verunfallten Einkäufe. »Du hättest ja auch ein bisschen besser aufpassen können. So klein sind meine Koffer nun auch nicht.« Augenblicklich kochte die Wut in mir wieder hoch. Arschgesicht. Wahrscheinlich war er mir deshalb noch nie als Bewohner von gegenüber aufgefallen. Vollidioten ignorierte ich normalerweise. »Nur zur Info«, ich imitierte seinen Tonfall und zeigte mit den Fingern Gänsefüßchen, »fahr doch zur Hölle«, zischte ich und stieg über seinen Seesack hinweg zu meiner Tür.

       Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, verrauchte mein Zorn und wich unendlicher Erschöpfung, die der vollgepackte Tag mit sich gebracht hatte. Unachtsam warf ich meine Tasche in eine Ecke des Flurs, streifte die Turnschuhe von den Füßen und stieg in meine Pantoffeln. Obwohl ich mich nach nichts mehr sehnte, als nach einer heißen Dusche und frischen Klamotten, am besten direkt meinem Schlafanzug, half alles nichts: Ich musste irgendwann zurück ins Treppenhaus und die Überreste der Lebensmittel beseitigen. Am besten beseitigte ich bei dieser Gelegenheit meine neue Bekanntschaft von gegenüber direkt mit. Während ich unter der Spüle nach einem Müllbeutel kramte, ließ mich die Tatsache seines plötzlichen Erscheinens nicht los. Natürlich wusste ich, das Berlin als anonyme Großstadt galt, aber dass mir tatsächlich drei Jahre lang mein direkter Nachbar entgangen war, wunderte mich schon. Zumal, und das musste ich leider zugeben, er gar nicht so schlecht aussah. Oder zumindest, man musste ja die Kirche im Dorf lassen, einen gewissen Wiedererkennungswert besaß. Irgendwie hatte er was. Also abgesehen von einem riesigen Ego und einer unverschämten Attitüde. Und auch, dass ich noch nie eine Gitarre gehört hatte, obwohl er ja offensichtlich gleich mehrere besaß, kam mir komisch vor. War das alles einfach so an mir vorbeigegangen oder war ich vielleicht doch so sehr auf mich selbst konzentriert, dass meine Beobachtungsgabe immer mehr im Alltagsrauschen versumpfte?

       Bewaffnet mit einem Wischmopp und gewappnet für einen weiteren Schlagabtausch mit meinem neuen alten Nachbarn, zählte ich innerlich bis zehn und stieß die