Urlaub - jetzt komm ich!. Anne Wunderlich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anne Wunderlich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754176061
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ganz viele Fragezeichen kreiseln bildlich nur noch vor den Augen umher. Das ist wirklich kläglich. Vor allem dann, wenn es den Hauptverdiener der Familie trifft, alleinerziehende Mütter oder die sogenannten Workaholics, die ohne ihre Arbeit einfach nicht sein können und ohne diese nicht so recht wissen, was sie mit der neu gewonnen Freizeit anstellen sollen. So wie ich.

      „Lena, ist bei dir alles in Ordnung?“, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ernst stand neben mir und schaute mich mit großen Augen an. Immer noch sprachlos nickte ich, hob das DIN A4-Blatt auf und lief langsam zu meinem Schreibtisch beziehungsweise zu meinem Noch-Schreibtisch. Ich sank auf meinen Bürostuhl und starrte meinen Stunden- und Urlaubszettel an. Viele Zahlen. Ich hatte tatsächlich erheblich viele Überstunden, die mir jetzt zu Gute kamen. Gezwungener Maßen. Für mich hieß es nun Zwangsurlaub. Sollte ich mich darüber freuen, um auf dieser Variante eine vorzeitige Kündigung zu umgehen? Mag sein, dennoch stimmte mich die Tatsache traurig, denn der Vertrag lief so oder so aus. So viel zusätzliche Zeit hatte ich in das Projekt gesteckt und nun sollte alles umsonst gewesen sein? Ich hätte lachen und zugleich weinen und schreien können. Meine Gefühle befanden sich im Zwiespalt. Wie sollte ich mich nun verhalten? Ich konnte es nicht sagen. Zu der in meinem Kopf vorherrschenden Leere und den vielen Fragen, die mir gleichzeitig im Kopf umherschwirrten, machte sich Traurigkeit breit. Langsam fing ich an zu Realisieren und über die Worte von Herrn Hoyer nachzudenken. Ich ließ meinen Blick durch unser Großraumbüro schweifen. Mein Team war nicht mehr mein Team, sondern mein Ex-Team. Innerhalb kürzester Zeit war nichts mehr, wie es war.

      Mein damaliger Ausbilder wandte zu gerne das Zitat an: „Nichts ist beständiger als die Veränderung!“ Das wussten damals schon die Griechen, aber warum mussten sie alle ausgerechnet damit Recht haben?!

      Beim Beobachten stellte ich fest, dass sie alle bereits ein Gespräch bei unserem Vorgesetzten hinter sich haben mussten, denn sie verhielten sich dementsprechend. Frau Gersten weinte, Anna schimpfte, Sieglinde stand am Fenster und starrte nach draußen, Herr Beck packte bereits wütend seine privaten Sachen in einen kleinen Karton ein und Herr Schmidt fluchte. Unterschiedlicher konnten die Reaktionen nicht sein. Unser Großraumbüro glich einer Geisterstadt. Die Sätze von Herrn Hoyer fegten wie ein eiskalter Wind durch den Raum, der die Zettel, die auf den Schreibtischen oder in den Akten lose lagen, umherwirbelte und die Arbeit der letzten Jahre nicht nur durcheinanderbrachte, sondern regelrecht orkanartig zerstörte. Ansonsten herrschten eine bedrückte Stimmung und eine benommene Stille. Das Kollegium konnte nur tatenlos und wie in Tranche zusehen. So, als ob sie neben sich standen. Unser Team ähnelte einem kleinen Häufchen Elend. Bekümmernis überkam mich und Tränen schossen mir in die Augen, als ich in die Runde blickte. Jeder Einzelne von ihnen war mir ans Herz gewachsen. Ich kannte sie seit Beginn meiner Ausbildung und nun wurden wir auseinandergerissen. Getrennt. Für immer. Es sollte uns und unsere Arbeit nicht mehr geben. Von jetzt auf gleich. Je bewusster mir die Gegebenheit wurde, umso perplexer stimmte es mich. Herzzerreißend. Ich wusste weder ein noch aus. Ich wusste nicht, wie es morgen weitergehen würde. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Vom Workaholic zum Arbeitslosen, das konnte ich mir nicht vorstellen. Nicht ich! Was sollte ich denn den lieben langen Tag zu Hause machen? Putzen? Wäsche waschen? Shoppen gehen? Und dann? Ich brauchte eine Aufgabe, die mich fordert, bei der ich mich beweisen kann und die mich voll und ganz einnimmt und ausfüllt. Dazu zählte nicht die Hausarbeit. Diese erledigte ich bislang neben meinem Beruf und wie es der Satz ausdrückt, nebenbei. Nun sollte ich hauptberuflich Hausfrau sein? Dafür war ich nicht der Typ. Abgesehen von der Tatsache, dass ein Gehalt wegfiel beziehungsweise sich mein Anteil um ein deutliches in den nächsten Monaten reduziert. Michael und ich könnten vermutlich unseren Lebensstil in gewohnter Weise nicht auf Dauer weiterführen. Ihn aufgeben? Dazu war ich noch nicht bereit! Ich arbeitete doch nicht jahrelang fast rund um die Uhr, um mich nun privat einschränken zu müssen. Das Ziel war das genaue Gegenteil. Ein größeres Auto, ein Eigenheim, eine Weltreise, neue Kleidung, eine Märchenhochzeit, dies waren Dinge, die in absehbarer Zeit auf uns zukommen sollten und nicht das Auslaufen meines Arbeitsvertrages.

      Herr Beck trat an meine Seite und reichte auch mir einen Karton. „Hier, für dich Lena. Du musst wissen, ich habe gerne mit dir zusammengearbeitet und du sollst wissen, dass dich an der Misere keinerlei Schuld trifft.“

      Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, warf ihm ein kurzes und mitfühlendes Lächeln zu und nahm die Pappkiste entgegen. Mit leiser Stimme sprach ich zu ihm: „Ich danke dir.“ Herr Beck nickte kurz, lief wieder an seinen Arbeitsplatz und packte weiter. Dieser Handlung folgte ich. Es half ja nichts.

      Den kleinen, braunen Karton stellte ich auf den Schreibtisch ab, öffnete die Schieber meines Rollcontainers und die Türen des Aktenschrankes und fing an, meine persönlichen Sachen in die Kiste zu packen. Sämtliches Arbeitsrelevantes legte ich auf die Tischplatte. Als ich nach vierzig Minuten fertig war, nahm ich ein letztes Mal auf meinen Bürostuhl Platz und starrte auf den Karton. In dieser kleinen quadratischen Schachtel befanden sich nun alle meine Habseligkeiten der letzten fast neun Jahre. Verrückt und erschreckend erstaunlich zugleich. Der Stapel Hefter und Unterlagen zu meiner Projektarbeit hingegen, den ich neben dem Karton aufgetürmt hatte, erfüllte mich mit Wehmut und Stolz zugleich. Ich starrte darauf. Das war das, was ich in den letzten Jahren geschafft und erreicht hatte. Meine gesamte Energie sowie Freude und Spaß steckte darin und als ich mir dessen bewusst wurde, ereilte mich erneut Traurigkeit und Wut zugleich. Für was dies alles?

       Innerlich schimpfte ich und stellte mir selbst erneut die Frage, warum Herr Hoyer uns nicht schon eher etwas gesagt hatte? Wenigstens einen Hauch einer Andeutung wäre nett gewesen! Er wusste wohl nicht, was er uns allen damit antat? Er zerstörte Zukunftspläne, Träume und auch Existenzen. Unser Team, bestehend aus sechs Kollegen, von heute auf morgen alle ohne Arbeit. Das Kollegium war aufgelöst. Es gab weder ein „uns“ noch ein „Team“. Jetzt war jeder für sich selbst verantwortlich. Jeder musste mit der Tatsache leben und für sich selbst einen Weg finden, damit umgehen zu können und auch einen Weg finden, wie es im Leben weitergehen sollte. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Zu frisch war die neue Situation. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich wegwollte. Einfach nur weg. Egal wohin. Raus. Mit niemanden reden, niemanden sehen, nichts machen. Einfach nur fort. Von zu Hause, von Allem. Abstand gewinnen. Das alles Revue passieren lassen, verarbeiten und in Ruhe darüber nachdenken, was heute geschah und wie mein weiteres Leben beruflich weitergehen sollte.

      Als Michael von seiner Frühschicht nach Hause kam, staunte er nicht schlecht und wunderte sich gleichzeitig, warum ich schon da sei und ganz untypisch für mich, nachmittags halb vier auf dem Sofa saß. Um diese Uhrzeit und ohne Laptop auf dem Schoß, ein ganz ungewöhnliches Bild. Ich sah fern. Eine weitere Seltenheit. Er bemerkte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Als er dann noch die voll geschnaubten und mit Tränen getränkten Taschentücher neben mir liegen sah, bestätigte dies seine Annahme. Michael setzte sich fürsorglich an meine Seite und nahm mich in den Arm. „Was ist denn passiert?“, fragte er nach.

      Schniefend erzählte ich ihm alles. Verständnisvoll hörte er mir zu und versuchte mich zu trösten. „Wir schaffen das gemeinsam, Lena. Irgendwie wird es schon weitergehen.“ Doch das wollte ich in dem Moment nicht hören. Er hätte alles Mögliche zu mir sagen können, es wäre bei mir nicht angekommen. Um ehrlich zu sein, wollte ich auch überhaupt keine guten Tipps, tröstende Worte, motivierende Zukunftspläne oder sonst gut gemeinte Ratschläge, denn all dies gab mir meinen Job nicht zurück. Ein großer Lebensinhalt wurde mir einfach so weggenommen, ohne dass ich irgendeinen Einfluss nehmen konnte. Ich steckte in einer ausweglosen Situation, in einer Sackgasse. Am heutigen Tag brach für mich die Welt zusammen. Vor allem, weil es so unvorhersehbar geschah. Aus dem Nichts heraus. Ohne Vorankündigung. Auch wenn das für viele nicht nachvollziehbar ist, für mich fühlte es sich so an, als wäre ein geliebter Mensch gestorben. Ganz unerwartet. Aus dem Leben gerissen. Die Arbeit war meine Bestimmung und imaginärer Freund zugleich, der plötzlich von mir gegangen ist. Und nun? Nun wird eine Leere entstehen!

      „Aber wir haben doch uns. Das ist doch das Wichtigste“, meinte Michael. Damit hatte er natürlich voll und ganz Recht, aber das sah ich zu diesem Zeitpunkt nicht und wollte es auch nicht sehen. Von mir selbst überrascht, überrumpelte ich ihn und schlug vor: „Ich muss hier weg. Michael, lass uns in den Urlaub fliegen. Vielleicht kann ich so von dem Geschehnis Abstand erlangen und versuchen, einfach etwas abzuschalten