Meine Mutter und meine Schwester lauschten stumm meinem Bericht und für lange Zeit war meine Stimme das einzige, was im Raum zu hören war. Als ich geendet hatte, trat eine undurchdringliche Stille ein und mein Magen zog sich vor Aufregung über die Reaktionen meiner Familie zusammen. Nach einer halben Ewigkeit regte sich meine Mutter schließlich. Sie richtete ihren Blick auf einen Punkt irgendwo hinter mir und sagte mit ausdrucksloser Stimme: „Jemand muss Leo von den Nachbarn holen.“
Ohne auf eine Reaktion von Dora zu warten, verließ ich den Raum. Draußen angekommen lehnte ich meinen Kopf an die dreckige Wand des Ganges. Ich war auf alles gefasst gewesen, Wut, Geschrei, nur nicht auf dieses stumme Entsetzen, diesen leeren Blick in den Augen meiner Mutter, der mir ein schwarzes Loch in den Bauch riss. Mein Kopf schwirrte, schwarze Pünktchen tanzten vor meinen Augen und ich sackte restlos zusammen. Nur einmal zuvor hatte ich diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen, damals, als sie mir von meinem Vater und meinem Bruder erzählt hatte. Doch diese abgeschwächte Form war Nichts gegenüber dem Heutigen gewesen. Nach ein paar Minuten riss ich mich zusammen, setzte ein Lächeln, das wohl etwas schief aussah, auf und klopfte an der hellblauen Tür der Nachbarn. Dort empfing mich Frau Son, eine kleine rundliche Frau mittleren Alters. Sie erwiderte mein Lachen und bat mich zu sich herein. Frau Son war Mutter zweier Kinder, einem vierjährigen Mädchen und einem zweijährigen Jungen. Ihr Mann arbeitete in einer Fabrik für Straßenbahnteile am anderen Ende von Limestone und war selten zu Hause anzutreffen, da er frühmorgens das Haus verließ und erst spät am Abend heimkehrte. Meine Mutter brachte Leo an Tagen, an denen sie Hausbesuche machte, zu ihr, für eine kleine Summe Betreuungsgeld, und holte ihn gegen Nachtmittag wieder ab. Unsere Nachbarin lebte von solch kleinen Gefallen, die sie der ganzen Nachbarschaft gab, da sie selbst nicht Arbeiten ging, aber bei dem kleinen Einkommen ihres Mannes mitverdienen musste. So lag Leo vergnügt in einem Bettchen, umringt von mehreren kleinen Kindern, die abwechselnd die Rassel schüttelten, was ihnen ein freudiges Glucksen entlockte und Leo zum Lachen brachte. Frau Son bot mir einen Tee an, den ich dankend annahm und wir saßen einige Zeit einfach nur da und betrachteten die glücklichen Kinder. Ich war froh, dass unsere Nachbarin nie allzu redselig war und wusste, wann andere Leute ihre Ruhe brauchten. Denn dieser kleine Abschnitt des Tages war meine einzige kurze Atempause, da es mir beim Kindergelächter leichter fiel, die düsteren Gedanken in eine Ecke zu schieben und mein Inneres mit der goldenen Farbe des Glücks zu bemalen, die nach dem Besuch wieder abblättern würde. So wurde ich, als ich mit dem schlafenden Leo auf dem Arm im Gang stand, wieder von Empfindungen und Ängsten durchflutet und eine Frage, die Frage aller Fragen, schob sich in den Vordergrund: Wann würden die Preisrichter kommen, um mich zu holen?
Kapitel 9
In den nächsten zwei Tagen fühlte ich mich wie eine tickende Bombe, die bald explodieren und alles in ihrer Umgebung mitreißen würde. In den Gängen der Schule folgte mir häufig Getuschel und unser Geschichtslehrer würdigte mich keines Blickes mehr, was ich aber nicht als Übel empfand. Zu Hause war es wesentlich schlimmer. Meine Mutter hatte die letzten zwei Tage das Haus nicht verlassen, sie sprach mit niemandem und nähte nur stumm vor sich hin, während meine Schwester jedes Mal Tränen in den Augen hatte, wenn sie mich ansah oder mit mir sprach. Der Einzige, der gut gelaunt war, war der kleine Leo, der von all dem nichts verstand. Da sich die Preisrichter die letzten zwei Tage nicht gerührt hatten, ging ich davon aus, dass sie am nächsten Tag, einem Samstag, kommen würden. Beim Abendessen ergriff ich schließlich meine Chance, die Situation noch irgendwie zu retten. „Mama, es tut mir so unendlich leid, dass ich dir nicht früher davon erzählt habe, aber ich hatte Angst, du würdest mich dafür hassen, was ich war, was ich bin.“
Ganz langsam hob meine Mutter den Kopf. „Aber Zelda, wie konntest du glauben, ich würde dich nicht mehr lieben, nur weil du eine gute Preisrichterin wärst?“
„Nur weil ich eine gute Preisrichterin wäre?“, fragte ich verwundert.
„Viele Menschen haben eine gute Begabung für etwas. Deine Schwester singt zum Beispiel gut, aber heißt das, sie muss unbedingt Sängerin werden? Nein! Das ist nur die Auffassung der Preisrichter, die Preisrichter meinen, dass diejenigen, die des Zahlenlesens mächtig sind zu einem von ihresgleichen werden, aber deshalb muss dies noch lang nicht deine Bestimmung sein.“
Wie hatte ich nur so engstirnig sein können? Ich hatte nur den einen Weg gesehen, den Weg, der den Preisrichtern recht war, aber nie hatte ich darüber nachgedacht, dass ich auch ein ganz normales Leben hätte führen können.
„Ich bin nicht sauer auf dich, nur enttäuscht. Hättest du mir so weit vertraut, mir dein Geheimnis anzuvertrauen, hätten wir eine Lösung gefunden. Natürlich bist du nicht schuld, an deiner Offenbarung und ich mache dir deine Kurzsichtigkeit nicht zum Vorwurf, nur musst du mit diesem Fehler leben.“ Bei diesem letzten Satz seufzte sie müde auf. „Wie ich die Preisrichter doch hasse! Sie nehmen mir immer das weg, was mir lieb und teuer ist.“ Doch ihre Worte hörten sich nicht wie ein prasselndes Feuer an, sondern eher wie eine dünne Flamme, die den Kampf gegen den Wind schon längst aufgegeben hatte.
Zutiefst berührt umrundete ich den Tisch und zog sie in eine lange Umarmung. Durch die Wärme meiner Mutter verlor ich etwas an Angst und ein neues Gefühl, Entschlossenheit, setzte meine Adern unter Strom. Ich würde für meine Schicht kämpfen und mich nicht auf die Ansichten der Preisrichter einlassen. Schaudernd dachte ich an den Preisrichter in meinem Geschichtsunterricht, der die Vorstellungen der Preisrichter so überzeugt dargestellt hatte, als hätte er sie selbst erfunden. So würde ich nicht sein! Doch eine leise Stimme in meinem Inneren behauptete das Gegenteil.
Nach dem Abendbrot packten meine Mutter und ich die wenigen Klamotten, die ich besaß, in ein weißes Tuch und legten es am Küchentisch griffbereit für den nächsten Tag hin. Heute erzählte ich eine Gutenachtgeschichte, meine Lieblingsgeschichte. Sie handelte von einem fernen Land, in dem alle Menschen gleich waren und keiner von Geburt an bevorzugt wurde, von einem kleinen Mädchen, das in einem schönen Haus lebte und viele Dinge besaß, von denen wir nur träumen konnten. Das Buch zu dieser Geschichte existierte nicht mehr, da es von den Preisrichtern eingezogen worden war, um die Menschen von den Gedanken an eine derartig schönere Welt abzuhalten. Doch der Buchinhalt war damals schon so populär gewesen, dass die meisten Limestoner den groben Wortlaut auswendig gekonnt hatten und die Geschichte weiterverbreitet worden war. So wurde sie auch heute noch bei Kerzenschein erzählt und ließ Kinderaugen größer werden, bei den vielen Dingen, die es gab und die sie nicht kannten. Mit den Gedanken in meiner Traumwelt aus der Geschichte schlief ich ein. Die ganze Nacht hindurch verweilte ich dort, auf Wolken schwebend und ohne die dunklen Schatten der Sorgen.
Doch wie nach jeder Nacht kam auch nach dieser der Morgen. Kaum hatte ich meine Augen geöffnet, schon störten die vielen rastlosen Gedanken die vom Schlaf zurückgebliebene innere Ruhe, die durch dessen nicht mehr vorhandene betörende Wirkung meinen Problemen schutzlos ausgeliefert war. Ich wusch mich in dem kleinen Bad, das in der Dämmerung des Morgens noch schäbiger wirkte, dann zog ich mich an und trat mein